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Ausgabe:

1928 Nr. 17

Spalte:

397-398

Autor/Hrsg.:

Blanke, Fritz

Titel/Untertitel:

J. G. Hamann als Theologe 1928

Rezensent:

Stephan, Horst

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397

Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 17.

398

redet nun freilich zum größten Teil nicht von der j
Gottesgerechtigkeit, sondern der Eigengerechtigkeit des
Menschen und kann daher für diese Frage nichts ausmachen
. Auf der andern Seite kennt Luther ein vielfältiges
sentire und experiri der religiösen Güter, ein
viel weiterer Begriff, den der Verf. S. 9 erwähnt, ohne
sich mit ihm auseinanderzusetzen. So ist das zweifellos
vorhandene Problem, daß bei Luther erfahrener und
über die Erfahrung hinausgreifender Glaube sich wider-
sprechen wollen, nicht erklärt. Der Einstellung des i
Verf.s gemäß ist auch die geistliche Religion überwiegend
, ja ausschließlich auf den Christus für uns gegründet
im scharfen Gegensatz zum gefühlten Glauben. ;
Desgleichen wird (im Anhang) Holls Fassung der Recht-
fertigung als eine Entleerung zugunsten der Gerecht-
machung abgewiesen, da der Verf. in der angefangenen
neuen Gerechtigkeit allzu eng die bloße Bestätigung der i
unerfahrenen inneren Erneuerung finden will. Gewiß [
kann Holls Auffassung als einseitige Verwendung einer [
Gedankenlinie Luthers gelten, aber die vom Verf. vertretene
Anschauung wird noch weniger der Reichhaltigkeit
Luthers gerecht. Und in der vom Verf. abgewiesenen
„doppelten Betrachtung" der Rechtfertigung von
Gott und vom Menschen her hat uns Holl den fruchtbarsten
Ansatz zur Klärung der noch keineswegs geklärten
Rechtfertigungslehre gegeben.

Der letzte Teil der Arbeit bringt das systematische
Interesse, dem sie entstammt (S. 4), zum Ausdruck, er
sucht die „zwei ganzen Menschen" in den „einen ganzen
Menschen" zu vereinigen. Die Lutherzitate sind hier
mehr eine selbständige Begleitmusik. Die Psychologie
wird vom Verf. abgewiesen; sie vermag nicht über das
eine Ich hinauszukommen. Die Theologie erst zeigt, daß i
der totus homo durch die Berührung mit Gott in den
Sünder und den Gerechten gesondert wird. Bekannte
Einseitigkeiten klingen hier an: „sobald er bei seinem
Glauben verweilt und sich in ihm gefällt, hat er schon
aufgehört Gott zu hören, d. h. zu glauben" u. ä. m. So I
bleiben bei diesen wichtigen und richtig erkannten Problemen
doch noch Fragen übrig.
Breslau. E. Ko h 1 meyer.

Blanke, Priv.-Doz. Lic. Fritz: J. G. Hamann als Theologe.

Tübingen: J. C. B. Mohr 1028. (48 S.) gr. 8». = Sammlung ge-
meinverständl. Vorträge u. Schriften aus d. Gebiet d. Theologie u.
Rel.-Qesch., 130. RM 1.50; Subskr.-Pr. 1.20.

Als Ref. vor Jahrzehnten, von Schleiermacher ausgehend
, über das Verhältnis von deutschem Idealismus
und Christentum nachzudenken begann, stieß er auf
den Bückeburger Herder und auf Hamann (vgl. ZThK.
1°02). Seltsam genug erschien den meisten damals die
Beschäftigung mit ihnen. Wie anders heute! Auch die
vorliegende neue Schrift, wie schon die von Lieb 1926,
atmet nicht nur historisches Interesse für Hamann^
sondern persönliche Liebe. Wieder empfindet man den
Magus, in dem klarblickende biblisch-reformatorische
Frömmigkeit mit höchster Bildung und weitstrahligem
Geist sich eindrucksvoll zusammenfindet, als einen Mann
der Stunde. Freilich so wertvoll das heuristisch sein
kann, es liegt darin bei einem so dunklen und spannungsreichen
Geist wie Hamann eine starke Gefahr:
man schaut nur allzu leicht In ihn hinein, was so nicht in
ihm wirklich ist. Immerhin ist B. darin vorsichtiger als
Lieb (und als Ref. selbst es an manchen Punkten 1902 I
gewesen ist). Er hebt „vier Mittelpunkte" der Hamann-
schen Gedankenwelt heraus: das Prinzip des Geistleiblichen
; das des Schöpfungszusammenhangs, in dem sein
Kampf gegen das „natürliche System der Geisteswissenschaften
" wie gegen Kant wurzelt; das der in Knechtsgestalt
gegebenen göttlichen Offenbarung, das für seine
Stellung nicht nur zur Bibel sondern auch zu Natur und j
Geist, überhaupt zu Philosophie und Wissen bestimmend
wird; endlich das der Rechtfertigung. Damit trifft B.
tatsächlich die wichtigsten positiven Ansatzpunkte. Eig- I
net sich seine Schrift also vortrefflich zur Einführung |

in Hamanns Gedanken, so gibt sie doch andererseits mit
jenen vier Punkten kein volles Bild, zumal vor allem der
letzte nur sehr kurz behandelt wird. Schade, daß B.
seinen Vortrag nicht für den Druck erweitert hat! Dann
wäre er vielleicht auch zu der Einsicht gelangt, daß die
Formel „Erweckung des Lutherglaubens" nicht alles
Wichtige an Hamann richtig kennzeichnet. Die zahlreichen
Anmerkungen fügen zwar vieles Wertvolle hinzu
, können aber eine breitere und beziehungsreichere
theologische Gesamtdarstellung nicht ersetzen. Und wir
brauchen neben Ungers allgemeinerem Werk eine solche,
um endlich ein klares Bild des für das Gesamtverständnis
des deutschen Idealismus überaus wichtigen Frühidealismus
, im besondern seines religiösen Einschlags,
zu gewinnen. Immerhin ist auf dem Wege dahin auch
B.s Schrift ein verdienstlicher Schritt. — Die „Wahlverwandtschaft
der christlichen Theologie mit dem Realismus
", noch dazu durch die Zusammenstellung von Thomas
, Melanchthon und Schlatter begründet, ist denn
doch zu problematisch, als daß sie in einer gelegentlichen
Anmerkung (S. 43 f.) wie etwas Unumstrittenes
behauptet werden dürfte.

Leipzig. Horst Stephan.

Lindsey, Richter Ben B., u. Wainwright Evans: Die Revolution

der modernen Jugend. Deutsche Übers. U. Bearbeite;, von Toni
Harten-Hoencke u. Friedrich Schönem an n. Stuttgart:
Deutsche Verlags-Anstalt [1928]. (259 S.) 8°. Lwd. RM 7.50.

Ein echtes Buch braucht kein wahres zu sein, aber
ein wirkungsvolles wird es immer sein. Dies gilt von dem
oben genannten. Vom Titel bis zum letzten Satz ist es
echt und echt in amerikanischer Weise. Damit soll
nicht gesagt sein, daß die amerikanische Wirklichkeit,
die geschildert wird, und die Art, wie darüber reflektiert
wird, räumlich auf Amerika beschränkt wäre. Der amerikanische
Jugendrichter Ben B. Lindsey, Leiter des
Jugend- und Familiengerichtes zu Denver (Colorado
U. St. A.), ein Mann iroschottischer Abkunft, verbreitet
sich in lose aneinandergereihten Beispielen über die
sexuelle Revolution der modernen amerikanischen Jugend
. Die neue Geschlechtlichkeit bedeutet einen Bruch
mit der bisherigen Moral, Konvention, Tradition und
fordert eine neue Pädagogik, Justiz, Leibes- und Sündenlehre
, eine Reform der Ehe und des Kindesrechtes. In
immer neuen Beispielen wird die sexuelle Wirklichkeit,
wie sie ist, aufgedeckt; eine erschütternde Statistik der
sexuellen Erfahrungen und Verirrungen der Jugend, der
Ehenöte und Ehefragen dient zum Beleg dessen, daß
ein neues Sexualethos nötig ist und daß es in der
Jugend schon da ist. Die Tatsachen, die L. ganz direkt
I hinstellt, reden eine ernste Sprache und die Art, wie er
j in heillosen Situationen einspringt, nehmen für den
Mann ein. Sein Wirklichkeitssinn und sein gläubiges
Vertrauen machen ihn zum Helfer. Damit ist aber auch
so gut, wie alles gesagt, was an dem Buch über den
Angriff hinaus positiv ist. Schon die Gründe, die er für
den Bruch mit der sexuellen Moral anführt, sind recht
generalisierte billige Allgemeinplätze: — Schule, Haus,
Kirche versagen. Der moralfanatische Schulleiter, der
strenge Pastor und die hilflosen Eltern werden auf die
Anklagebank gesetzt — zuletzt sind immer die anderen
schuldig an meiner Sünde. Wir leugnen nicht den
Machtcharakter der Sünde und die Verflochtenheit in
das Reich der Sünde; aber wir bestreiten, daß die Gesellschaftslehre
von der Schuld nur auch heranreicht an
die christliche Tiefe des Schuldproblems. Die soziologische
Auffassung der Schuld, vollends absolut gesetzt
, bewegt sich im Kreis der Aufklärung. Dem entsprechen
auch die pädagogischen Richtlinien L.s. Er
glaubt erstens an den paradiesischen Menschen; zweitens
an die beglückende Idee des Fortschrittes zu immer
Besserem; drittens an die tugendschaffende Macht des
Wissens. „Die Wahrheit sagen, die Tatsachen hinstellen,
die Natur natürlich sein lassen" — das ist seine sexuelle
Pädagogik. Daß er meint mit Jesus übereinzu-