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Ausgabe:

1928 Nr. 17

Spalte:

396-397

Autor/Hrsg.:

Schott, Erdmann

Titel/Untertitel:

Fleisch und Geist nach Luthers Lehre, unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs “totus homo” 1928

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 17.

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matius-Inschrift (abgebildet auf S. 1), zeigt, wie in der
späteren Karolingerzeit vereinzelte Namen auftauchen
(u. a. Saula, Martha, Pinossa), wie die Elfzahl sich
herausbildet, um von den 11 000 abgelöst zu werden,
wie sich besonders durch den Einfluß des sermo in
natali Britannien als Heimat der Märtyrerinnen durchsetzt
, wie seit dem 10. Jhd. Ursula an die erste Stelle
rückt, wie die Legende etwa 975 in der passio I schriftlich
fixiert wird und wie deren romanhafte Züge in der
Folgezeit verstärkt werden, bes. in den plumpen Deutzer
Fälschungen (Revelationes titulorum ..., BHL 8441),
den Offenbarungen der Elisabeth von Schönau (1156/
57) und den geradezu grotesken Revelationen von 1183/
1187. „So möchte man sagen, daß die Geschichte
Ursulas in einem Satyrspiel endet" (S. 132).

Da L. selbst zugibt, „viele längst bekannte Zeugnisse
und Gesichtspunkte abermals in die Erinnerung
zu rufen" (S. 2), so soll hier nur von dem, was ihm
eigentümlich ist, gehandelt werden. Da ist zunächst die
erste Beilage zu begrüßen, worin L. die passio I mit
philologischer Akribie herausgibt und durch das Anrühren
zahlreicher Parallelen aus den lat. Klassikern
und den Kirchenschriftstellern den Blick für den durch
hundert Reminiszenzen eigentümlich gekünstelten Stil
des Autors aus dem 10. Jhd. schärft. Fördernd ist
ebenfalls die genaue Wiedergabe der Überlieferungsgeschichte
bei jeder einzelnen besprochenen Quelle, wie
sie in dieser Vollständigkeit m. W. noch nicht existiert
(S. 28, 47, 91ff., 121L, 126, 140ff.), und die Berücksichtigung
englischer Martyrologien, Psalterien und
Meßbücher, sowie das starke Heranziehen englischer
Literatur, was oft ganz neue Schlüsse erlaubt (cf. die
Ausführungen über Pinossa auf S. 55 ff. an Hand des
Psalteriums aus Exeter, saec. XI).

Die Frage nach der Echtheit der Clematius — Inschrift
ist durch L.s Ausführungen (S. 4—15) nun wohl
endgiltig zu ihren Gunsten entschieden. Nicht so glücklich
scheint mir aber L. in der Deutung der Inschrift zu
sein. Die gehäuften Genetive des Anfangs erklärt er
nicht, sondern begnügt sich mit dem Aufzählen der
Konjektur-Versuche (S. 18 f.), und doch scheint mir die
Änderung von virtutis in virtutibus der einzige Ausweg
aus der grammatischen Schwierigkeit zu sein, wie schon
Kessel (S. 162, A. 1) erkannt hat. Es wäre ferner sehr
leicht möglich, daß ähnlich wie bei Gervasius und
Protasius die Vision erst den Anstoß zum Kultus der
betr. Heiligen gegeben hätte, und daß die alte, zerstörte
Kirche nicht den jungfräulichen Märtyrerinnen geweiht
war. Diese Ansicht Haucks (RE3 XX, 355) ist nicht
widerlegt, wenn L. schreibt: „Es wird also das Dasein
einer älteren Basilika und damit ein früherer Kult der
Jungfrauen vorausgesetzt" (S. 22), und auch die Worte:
„tibi sanetae virgines . . . sanguinem suum juderunt"
müssen nicht in L.s Sinne verstanden werden. Ein
Problem für sich bildet das Entstehen der Tausendzahl.
L. glaubt, es durch die Annahme einer Unterbrechung
des Kultus und einer Mißdeutung der Überlieferung zu
lösen (S. 39), wobei er besonderen Nachdruck auf das
Mißverständnis XI=XI tnilia legt (S. 40 ff.). Aber aus
dem Fehlen von älteren Nachrichten auf das Aufhören
eines lokal begrenzten Kultes zu schließen, ist nicht angängig
, und das Anwachsen der Zahl von 11 auf
11 000 muß tiefere Gründe haben. Nach dem sermo
in natali c. 7 u. 9 standen sich zwei verschiedene Ansichten
betr. die Herkunft der Jungfrauen gegenüber,
gewisse Kreise ließen die Märtyrerinnen aus dem Osten
kommen und setzten sie in Beziehung zur thebäischen
Legion (c. 7), während andere in Deutschland und England
sie von Britannien nach Köln segeln ließen (c. 9).
Für beide Meinungen ist die Tausendzahl nicht sehr
fernliegend (für England müßte man allerdings in Abweichung
von L. in Galfrid von Monmouths Historia
das Nachwirken einer älteren britischen Sage anerkennen
). Die falsche Deutung von XI war dann sehr leicht
möglich, weil der Leser innerlich bereits auf die Tau-

; sende eingestellt war. Hinsichtlich der Ausführungen
L.s über die passio I muß auf ein Dreifaches hingewiesen
werden. Den Widmungsbrief an Erzbischof Gero
von Köln, der eine genaue Datierung der passio ermöglichen
würde, hält L. für echt, aber trotz allen für diesen
Nachweis aufgewandten Scharfsinns (S. 63 ff.) kann ich
J bei den schweren chronologischen Fehlern des Prologs
I den Argwohn nicht unterdrücken, daß sein Verfasser
! durch Schaffen einer künstlichen Traditionskette und
durch ihr Zurückführen auf Dunstans Autorität seine
' Faseleien als gewissermaßen authentisch hinstellen
I wollte. L. bemüht sich nun zur Stützung seiner Ansicht
, Dunstans Anteilnahme an der Ursula-Legende zu
; erweisen (S. 68 ff.), aber der Hinweis auf den 21. X.
als Weihetag des großen Erzbischofs ist nicht zwingend,
da hier ein Zufall walten kann; die Tatsache, daß Abbo
I von Fleury die passio I des Edmund von Ostangeln
seinem Gewährsmann Dunstan dediziert, beweist nicht
dessen Vorliebe für die Ursula-Legende, und das Aufdecken
von Ähnlichkeiten zwischen beiden Martyrien ist
zu künstlich und tendenziös, um überzeugend zu wir-
| ken (cf. S. 71, A. 3). Endlich versucht L. die „abiec-
tissima ovis H." des Widmungsschreibens mit dem
j „monachus Herricus" des Klosters von St. Bertin zu
identifizieren, weil dieser in einer Cassiodor-Handschrift
ein Essener Epitaph abgeschrieben hat, in dem sich die
Wendung „Candida lacteoli coetus antistes" findet, wo-
I mit passio I, cap. 8 „lacteoli coetus Candida antistes"
auffällig übereinstimmt (S. 78 ff.). Es sind gewiß sehr
scharfsinnige Kombinationen, aber L. spricht an anderer
Stelle selbst nur von einer „Vermutung", die eine „gewisse
Wahrscheinlichkeit" besitze (S. 89). Eigene Wege
geht L. auch bei der Beurteilung von Galfrid von Monmouths
Ausführungen in der Historia regum Britanniae
V, 15 f. Im Gegensatz zu Klinkenberg und Ilgen glaubt
L., daß Galfrid nicht eine ältere Ursula-Sage verarbeitet,
sondern „zur Füllung Motive der Ursula-Legende benutzt
" (S. 105) habe, wofür die passio II seine Vorlage
gewesen sei. Aber die Bekanntschaft Galfrids mit
I der passio II zugegeben, was die Übereinstimmung in
i den Worten mirae pulchritudinis an sich noch nicht be-
I wiese, so wäre damit doch nicht das Vorhandensein einer
älteren britischen Tradition ausgeschlossen, zumal diese
eine Reihe von Zügen erklären würde, die uns in der
schriftlich fixierten Ursula-Legende unverständlich sind,
wie Klinkenberg sehr richtig hervorhebt.

Ich will mit meinen Ausführungen nicht den Dank
i gegen die vorgelegte Untersuchung herabmindern, die
[ mit voller Literaturkenntnis und unter Aufgebot eines
I ungewöhnlichen Scharfsinns durchgeführt ist und sich bis
] zum Schluß höchst fesselnd liest. Aber es kann der
I Moment eintreten, wo die Resultate überspitzt werden
I und auf dem Grunde schwankender Folgerungen ruhen,
j was der mehr von außen an die Dinge Herankommen-
I de eher merkt, als der Forscher, der in mühevoller
Kleinarbeit sich in bestimmte Gedankengänge hineingelebt
hat.

Halle/Saale. Waltlier Völker.

Schott, Pastor Lic. theol. Erdmann: Fleisch und Geist nach

Luthers Lehre, unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs
„totus homo". Leipzig: A. Deichert 1928. (IV, 95 S.) 8°. RM 3.50.
Das vom Verf. behandelte Problem läßt sich etwa
j so ausdrücken: wie ist nach Luthers Anschauung in dem
Ich des Bekehrten das Nebeneinander des alten und
des neuen'Menschen denkbar? Zur Lösung dieser Frage
werden 1. fleischliche, 2. geistliche Sittlichkeit und 3.
fleischliche, 4. geistliche Religion etwas steif nach einander
dargestellt und dann die Synthese in einer Person
gesucht. Das Wesen des Fleisches wird im ausschließ-
; liehen Hangen an der experientia oder dem sensus gefunden
. Daher besteht die fleischliche Religion darin,
! daß die caro auch die Gottesgerechtigkeit nur als er-
! fahrene und erlebte gelten lassen will (S. 22). Das für
i diese These benutzte Material aus Luther (S. 22 ff.)