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Ausgabe:

1928 Nr. 10

Spalte:

231-236

Autor/Hrsg.:

Vollrath, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Theologie der Gegenwart in Großbritannien 1928

Rezensent:

Kittel, Helmuth

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 10.

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gläubigen Gewißheit heraus wird hier alles Leben der
Geschichte zu einem mächtigen Strome des Geschehens,
in dem Gottes Schöpferordnung zugleich faßbar und
verhüllt bleibt, von dem 'der Einzelne zu der Ferne des
„Beobachters" distanziert wird. In charakteristischer
Weise verbindet sich der Rankesche Geschichtsgedanke
mit dem protestantischen Glaubensgedanken; was dort
methodische Forderung des geschichtlichen Gegenstandes
ist, wird hier auch Sinn der in der Geschichte erlebbaren
gläubigen Erfüllung.

So wird aber auch das zweite Wort, das der Titel
hinzusetzt, paradeigmatisch für den Geist des ganzen
Werkes. „Die erste Christenheit" — dieser Name
gibt nicht nur den historischen Stoff an, den dieses
Buch sich als den seinen unter möglichen anderen erwählt
hat; er nennt letztlich den einzig möglichen Gegenstand
der Geschichte überhaupt. Denn in der Gemeinde
wirken die Kräfte hin zu dem Gotteswunder der
Geschichte, und von diesem wieder zurück zur Gemeinde
, so daß beide Begriffe in unverbrüchlicher Ordnung
auf einander bezogen sind: Alle Geschichte findet
in dem Glauben ihren einzigen Sinn und aller Glaube
in der Geschichte seine einzige Wirklichkeit. Um dieses
Wechselverhältnisses willen ist die Geschichte der ersten
Christenheit die „uns alle bestimmende, in allen fortwirkende
Macht"; sie heißt die „erste" nur darum, weil sie
Ordnung und Gesetz derer repräsentiert, die in der Reihe
ihr folgen; wie diese nur durch die erste bestehen und
sich in ihr bestimmen, so werden sie dadurch mächtig
und fähig, das ursprüngliche Bild dieser ersten Christenheit
anzuschauen und zu erfassen. So tritt neben
die selbstlose Hingabe an die neutestamentlichen Schriften
die Macht des von ihnen geweckten und genährten
Glaubens, so neben die „Sauberkeit der Wahrnehmung"
die reine Zuversicht auf die gläubige Wahrheit. Beide
runden in unlöslichem Verein Geschichte zu dem machtvollen
Gebilde göttlichen Wunders ab; es erfassen und
darstellen bedeutet, aus ihm leben und von ihm getragen
werden.

Von dieser Einheit des geschichtlichen und gläubigen
Sinnes, welche beide sozusagen in praestabilierter
Harmonie verbunden sind, ist das Werk Schlatters getragen
; sie gibt ihm feste Geschlossenheit und oft eine
seltsame Macht der Anziehung, Bestimmtheit der geschichtlichen
Anschauung und Unberührbarkeit gläubigen
Erkennens. Sie verlangt, daß man in seinen Bezirk
gläubig eintrete und willens sei, wie der bezeichnende
Ausdruck lautet, „das Neue Testament zu lesen". Darum
werden hier auch wie selbstverständlich Wahrheiten
des Glaubens zu methodischen Gesichtspunkten historischer
Betrachtung — die neutestamentliche Geschichte
ist darum verständlich und durchsichtig, weil ihre Quellen
„unter der Wahrheitsregel" stehen — und methodische
Forderungen zugleich gläubig transponiert; und
beides ist nur der Widerschein dessen, daß Geschichte
kraft der göttlichen Schöpferordnung unergründliches
Geheimnis und zugleich offenkundiger Tatbestand ist.
Weil diese Einheit also gläubig gegeben ist, bedarf sie
weder der Frage nach ihrem Recht noch der Antwort
darauf; sie ist sich selbst letzter Grund, sie zieht damit
zugleich auch die Grenze gegen alle Wissenschaft.
Daraus begreift es sich endlich, daß eine Darstellung
der „Geschichte der ersten Christenheit" das Werk
Schlatters in Wissenschaft und Glauben zu krönen
vermag.

Breslau. Ernst Lolimeyer.

Vollrath, Wilhelm: Theologie der Gegenwart in Großbritannien
. Gütersloh: C. Bertelsmann 192S. (XVI, 334 S.) gr. 8°.

RM 12-; geb. 14 -.

Der Verf. dieses Buches hat sich eine große Aufgabe
gestellt. 1891 fügte Otto Pfleiderer der deutschen
Ausgabe eines englischen Werkes „Die Entwicklung
der protestantischen Theologie in Deutschland seit
Kant" ein Kapitel über „Die Entwicklung der Theologie i

in Großbritannien seit 1825" hinzu. Das ist die letzte
deutsche Arbeit, die zu diesem Thema vorliegt. Sie ist
jetzt also gänzlich veraltet und war vor allem stofflich
im Wesentlichen auf einschlägige Philosophie und syste-
mat. Theologie beschränkt. V. will dementsprechend
den gegenwärtigen Stand der englischen Theologie
: in allen Disziplinen darstellen, eine ebenso notwendige
, wie schwierige Aufgabe, an der er leider gescheitert
ist.

Das Werk gliedert sich in 9 Kapitel: I. Wissenschaft und
Leben. II. Zur Einleitung in die Theologie. III. Die wissenschaftliche
Bearbeitung des A.T. IV. Die wissenschaftl. Erforsch, des N.T. V. Die
historische Theologie. VI. Führende Theologen Deutschlands und
ihre Aufnahme in England. VII. Die allgemeine philosophische Lage-
| der Gegenwart in Großbritannien. VIII. Die systematische Theologie
in Großbritannien. IX. Die praktische Theologie.

Ich gehe von einer Kritik des Kapitels IV aus,,
das mein Fachgebiet betrifft. In 11 Einzelparagraphen
wird hier (S. 82—135) über die neuere englische Literatur
der Disziplin berichtet.

(1. Griechische Textausgaben, 2. Syrische Obcrset/ungen, 3..
Lateinische Übersetzungen, 4. Koptische Übersetzungen, 5. Griechische
Handschriften, 6. Die Septuagintaforschun«, 7. Papyri und Papyrusforschung
, 8. Apokryphen und Pscudcpigraphen, 9. Hermetica, 10.
Einleitungen, 11. Britische Spezialarbeitern der Gegenwart.)

Schon dieses Dispositionsschema kann ich angesichts
von Inhalt und Verhältnis der einzelnen N.T.-
lichen Forschungsgebiete zueinander nicht als glücklich
bezeichnen. Was hat es z. B. für einen Sinn, von einem
Bericht über die in England gebräuchlichen Rezensionen
des griechischen Textes auszugehen (1) und, durch das
Referat über die Arbeit zu den alten Obersetzungen
(2—4) von ihnen getrennt, das Thema „griechische hss"
in einem neuen, formal gleichgeordneten Paragraphen
(5) nachzutragen? Tatsächlich wird diese unsachliche
Aufteilung des Stoffes auch dadurch von V. selbst kritisiert
, daß er in dem Paragraphen über griechische hss
sich ausführlich zu dem Plan des neuen Tischendorf,
also der wichtigsten neueren Rezension äußert; auch
die Notierung der Arbeit für die Neuausgabe von Wettsteins
corpus hellenisticum in diesen Paragr. wirkt notwendig
deplaciert. — Sodann: es dürfte kaum Jemand
ohne Weiteres unter dem Titel des § 7 die Abhandlung
der gesamten englischen Arbeit zur Erforschung der
N.T.fichen Gräzität vermuten. Gewiß wird diese Forschung
heute vorwiegend durch die Verwertung des
Papyrusmaterials gekennzeichnet. Aber das dürfte doch
höchstens zu dem umgekehrten Verfahren führen, unter
dem Titel „Sprachforschung" auch über Papyrusforschung
zu berichten. Denn Werke wie die großangelegten
Grammatiken der N. T.lichen Gräzität von JWoulton-
Howard oder A. P^Robertson, die hier erwähnt werden,
sind wirklich mehr als Speziallitcratur zur Papyrusforschung
. — Ferner: was denkt sich V. dabei, wenn er
aus der englischen Arbeit zu Rel.-gesch. des Hellenismus
W. Scotts „Hermetica" heraushebt, zu einem eigenen
Paragr. (9) herrichtet und andere einschlägige
Werke im letzten Paragr. über „Spezialarbeitern" nachträgt
? — Auch die Trennung des Paragr. „Einleitungen"
von denjenigen über die Textkritischen Probleme durch
Gleichordnung mit ihnen kann nur verwirrend statt
klärend wirken. — Was endlich der letzte, weitaus inhaltsreichste
Paragr. (11) an „Spezialarbeiter' umfaßt,
hätte einer sehr viel sorgfältigeren Aufteilung und sinnvolleren
Einfügung in das Gesamtschema bedurft. Denn
es entbehrt jedes verständlichen Sinnes, wenn V. die
hier besprochenen Werke einleitend als „Spezialarbeit
am N.T." den in den Paragr. 1 — 10 besprochenen auf
„Quellen und Hilfsmittel zum Studium des N.T." bezüglichen
Werken gegenüberstellt (S. 115). — Ich kann
also das von V. angewandte Dispositionsschema nur
als willkürlich bezeichnen. Es entspricht weder der
üblichen Systematisierung des Stoffes, wie deutsche
Fachvertreter sie vorzunehmen pflegen, noch hat es etwa
in der Art und Weise der englischen Mitarbeit in dieser
Disziplin irgendeine plausible Begründung. Bei einem