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Ausgabe:

1928 Nr. 9

Spalte:

206-208

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Richard

Titel/Untertitel:

Die Krisis des Islam 1928

Rezensent:

Strothmann, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1928 Nr. 9.

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1924, und nochmals Le ,Kitab... n'est pas authenti-
que, Beirut 1925. Nun darf man M. nicht mangelnde
Kritik vorwerfen, blieb er doch nüchtern, wenn die !
sonderbaren Nachbarn der Nestorianer, die sog. „Teufelsanbeter
", die Jeziden, zur Verhandlung standen. Den
Gefahren eigener Entdeckerfreude ist er freilich nicht
ganz entgangen. Wenn er jenen Ignatiusbrief durch die I
Überschrift ,genuine" für echt erklären möchte, so hat j
schon Harris die ernstesten Einwände erhoben (S.lOff.).
Auf die sehr gewichtigen sprachlichen wie dinglichen
Gegengründe von Peeters und Bouyges geht M. in der j
Einleitung zu Timotheus nicht ein, dagegen kämpft er
für die Anerkennung einer anderen Apologie, die ein
Christ Abd al-Mesich al-Kindi um 819 vor dem Cha-
lifen al-Ma'mun gehalten habe; sie erhielt schon 1141
durch Peter von Toledo eine lateinische Übersetzung,
die veröffentlicht worden ist durch T. Bibliander in
Machumetis Saracenorum Principis eiusque Successo-
rum Vitae et Doctrina, Zürich 1543, II, I 20. Hier können
wir uns der Verteidigung Mingana's (S. 148 f.) gegen
die Enzyklopädie des Islam II 1097 nicht ganz
verschließen. Es ist gewiß förderlich, von einem festen
Boden aus einen Nachbargrund zu untersuchen, wie
C.H.Becker, Islamstudien, Leipzig 1924, I 432ff. in
einem vorbildlichen Beispiel islamische Dogmenbildung
an Johannes Damascenus überprüfte. Umgekehrt erscheint
uns die Islamkunde noch nicht soweit, daß sie
feststellen könnte, bei Kindi vorausgesetzte muhammeda- |
nische Anschauungen gehörten erst einer späteren Zeit
an, wenn sie bislang auch erst für diese zu belegen sind. |
So wagen wir denn auch nicht, die Echtheit des Timo-
theusgesprächs zu bestreiten etwa wegen der Aussagen j
des Mahdi über die göttlichen Attribute. Theologische
Kenntnisse hatte er. Bei der Manichäerinquisition prüfte j
er gelegentlich selbst.

Jedenfalls danken wir M. für die erste europäische j
Übersetzung des Timotheus und beglückwünschen ihn
zu seinen wichtigen Funden. Harris erwartet gelegentlich
der Einführung zu Bar Salibi (S. 4, 5 f.), daß „binnen
kurzem wohl viele Doktordissertationen aus den
Kommentaren des Bar Salibi an deutschen Universitäten
eingereicht werden". Mag die Zuschiebung der Kärrnerarbeit
ironisch gemeint sein, entnommen sei doch eine
Mahnung, die aber das Nestorianertum selbst auszurichten
hat: Seit Jahrhunderten durch die europäischen
kirchlichen Bemühungen in sich zerspalten wurden die
Nestorianer in unsern Tagen als benutztes Mittel der
Weltpolitik größtenteils tot geschlagen; zur tragischen |
Verflechtung der Katastrophengründe vgl. demnächst
in OLZ. m. Aufsatz „Islam und orientalische Christenheit
in der Gegenwart". Hier nur zwei Einzelbilder als
ernste Gegenstücke: Timotheus war Gelehrter und
Kirchenfürst. Wir gedenken wehmütig des fleißigen
(uniert-)nestorianischen Gelehrten, des Erzbisehofs Addai 1
Scher von Seerd, der 1915 auf der Flucht von den
Türken hingerichtet wurde unter dem Verdacht, an den
christlichen politischen Intrigen mit Rußland beteiligt
im sein. Und der zeitgenössische Amtsnachfolger des
Timotheus mußte sich von seinem Katholikatssitz Kot-
schannes im Kurdischen Bergland am Großen Zab mit
30 000 Glaubensgenossen mittellos in das erst recht unruhig
umstrittene Mossulgebiet hinabflüchten. Wir bezweifeln
nicht, daß die europäische christliche Hilfe
für den christlichen Orient aufrichtig gedacht ist. Aber
was jetzt noch an kümmerlichsten Cnristenresten vorhanden
ist, bleibt schicksalsmäßig mit der glaubensfremden
Umwelt verbunden. So bedarf es einer Pflege,
der auch nicht ein Schein anhaftet von Nebenabsichten, j
welche die anderen als gegen sich gerichtet betrachten.
Schon die innerchristlichen Verhältnisse des Ostens sind
derart verwickelt, daß sie kaum überschaut werden können
; es bedarf der Einfühlung in ihre traditionsgewor-
denen Wesensarten. Daß er dafür neue Handreichung j
gibt, sei Mingana aufrichtigst gedankt. Wohl kann j

es manchmal wie eine Arbeit an obsoleten Nichtigkeiten
anmuten, wenn man sich um schwere Texte müht, nur
um zu sehen, wie sich der Apokryphenmacher abquält
mit den Heuschrecken Johannes des Täufers, den er
so gern zu einem nicht Fleisch essenden Asketen machen
möchte. Und es ist schon ein Opfer, den Gedankengängen
des monophysitischen Jakobiten Bar Salibi folgen
zu müssen, daß die melchitische Bekreuzung mit
zwei Fingern anstatt mit einem eine genau so schlimme
Zerreißung Christi bedeute wie die ganze fluchwürdige
Zweinaturenlehre des Chalcedonense, und daß die Mel-
chiten damit, daß sie das Kreuzeszeichen von rechts
nach links schlagen anstatt von links nach rechts, offen
bekundeten, wie sie übertraten von den Schafen auf der
Rechten zu den Böcken auf der Linken, vom Schächer
am Kreuz rechts mit der Zusage des Paradieses zu
dem höllenreifen Schächer zur Linken. Und selbst wer
sich die größere Höhenlage bei Timotheus vergegenwärtigt
, erkennt doch die Tragik, daß sein egalitärer
Panbiblizismus und die formativ scholastische Verankerung
seiner Heilsvorstellungen kaum nachempfindend
gewürdigt werden können. Dabei darf nie übersehen
werden, daß was an orientalischem Kirchentum bestehen
blieb, sich nicht als Christen schlechthin gehalten hat,
sondern als Nestorianer, Jakobiten usw., und zwar in
einem gegenseitigen Wettbewerb, der sich nur selten
mit den harmloseren Seiten hieben begnügte, wie sie Timotheus
bei Hofe austeilte, sondern sich meist in der
I. Cor. 6,6 gerügten Art vollzog. Auch heutigen ökumenischen
Bestrebungen bleibt es erschwert, durch die
Hüllen hindurch den mit der gesamten Christenheit gemeinsamen
Kern faßbar zu machen. Ohne Aussicht
ist der Versuch nicht, aber auch nicht ohne Gefahren.
Ererbte Sicherheit wird problematisch. Krisis entsteht.
Wirkung muß nicht aber kann sein jene, die in einem
alten orientalischen Wort dem Muhammed als Erfahrungssatz
in den Mund gelegt wird: solche Leute dringen
dann gleich „so tief in die Religion ein, daß sie am
anderen Ende ganz herauskommen".

Hamburg. R. St rot Ii mann.

Hart mann, Richard: Die Krisis des Islam. Leipzig: J. C. Hin-
richs 192S. (37 S.) gr. 8" = Morgenland, I I. 15. RM 1.50.

Die gehaltvolle Übersicht würdigt die Vorkämpfer
einer Erneuerung des Islam: den aus Afghanistan stammenden
Bestreiter des herrschenden Traditionalismus,
Dschemaleddin, gest. 1897; seinen Schüler, den egyp-
tischen „Kultur-Wahhabiten" Muhammed Abduh; die
indischen Rational-Apologeten Sir Ameer Ali und Khuda
Buksh; aus der Türkei die religiösen Modernisten um
Mehmed Akif und die politisch kulturellen Fortschrittler
um Zija Gök Alp. Trotz der Kürze werden wesenhafte
Sonderzüge nicht verwischt: das Ineinander von
Rationalismus und Pietismus bei Abdüh, die religiöse
Innerlichkeit beim Nationalisten Zija (S. 25). Hinter den
Einzelerscheinungen deckt die systematische Zusammenschau
H.'s das eine große Ringen auf um Befreiung vom
Fiqh, d. h. jenem talmudartig kasuistischen Gesetz, welches
in den ersten islamischen Jahrhunderten ausgebildet
das persönliche wie öffentliche Leben in eine starre Gesamtzivilisation
hineinzupressen sucht. H. erinnert daran
, wie der Weg für die Reformer gebahnt ist gerade
von reaktionärsten Orthodoxen, welche in Rückkehr zu
einem Urislam eingedrungene Mißbräuche wie den Heiligenkult
bekämpften, z. B. Ihn Taimijja, der geistige
Ahnherr der Wahhabiten (S. 8 f.). Zwei Fragen werden
aufgeworfen: Ist die Bewegung stark genug zur rückhaltlosen
Annahme moderner Fortschritte, und bleibt
sie religiös noch Islam? Beide meint H. bedingungslos
bejahen zu sollen (S. 19,36, und für die heutige Türkei
S. 26), wie andererseits ein Panislamismus nur rein religiös
kulturelle, nicht jene politischen Ziele haben könne,
für die Sultan Abd ul-Hamid den erwähnten Afghanen
einzuspannen suchte (S. 10 f., 34).