Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1927 Nr. 7

Spalte:

165-166

Autor/Hrsg.:

Bülck, Walter

Titel/Untertitel:

Die evangelische Gemeinde. Ihr Wesen und ihre Organisation 1927

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

165

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 7.

166

doch in der gegenwärtigen geistigen Lage nicht an, ein
Buch, als wollte man ein Leben Jesu schreiben, mit
Johannes dem Täufer ohne irgend welche Grundlegung
beginnen zu lassen und hernach an geeigneter Stelle
Grundfragen der Gesellschaftslehre, Ethik und Religion
überhaupt in selbständiger philosophisch-dogmatischer
Besinnung zu erörtern. Damit hängt ein zweites Be- i
denken zusammen. Der Verfasser gent auf die Evangelienkritik
im Einzelnen vielfach ein und begründet seine
eigene Stellung jedesmal. Aber ich frage mich, ob er
tief genug in die Not der kritischen Forschung eintaucht
und grundsätzlich genug auf das Thema „Glaube
, Geschichte, Historie", an dem unsere Zeit krankt,
zu sprechen kommt. Wollte das Buch überhaupt mehr
sein, als eine Reihe von Betrachtungen über evangelische
Abschnitte, dann durfte hier eine grundsätzliche
Erörterung nicht fehlen. Sonst schlägt das Buch vielleicht
an den Ernstesten, denen es dienen will, trotz
alles seines Ernstes und Geistes vorbei.

Was das Einzelne anlangt, so sei nur ein Wort zu der Eschato-
logie gesagt. Der Verfasser hat selber Berührungen mit meinem
Entwürfe, den er erst nach Vollendung seines Buches zu Gesicht bekam
, empfunden. In der Tat gehen wir einen Weg z.B. in der
Betonung der Transzendenz des kommenden Reiches und in dem
Wertlegen auf den Zusammenhang zwischen unserer geschichtlichen
Welt und der kommenden * (465 ff.), darüber hinaus in vielen einzelnen
Gedanken und methodischen Erwägungen. Dagegen kann ich
an drei Punkten dem Verfasser nicht folgen. Einmal: er erneuert den
hoffnungslosen Versuch, die gesamten eschatologischen Reden in
Matth. 24 ausschließlich auf das Ende Jerusalems zu deuten; sie
sind also erfüllt, Jesus hat nicht „geirrt", ein anderes Wiederkommen
Jesu als das „in den Wolken der Geschichte" (439) ist nicht gemeint
. Sodann: Wilde löst das kommende Weltgericht individualistisch
auf in das ständig neben der Geschichte herlaufende Gericht,
in das die Menschen „mit dem Auslaufen ihrer Erdenzeit unablässig"
„hineinströmen" (479). Mit der Transzendenz des Gerichtes bin ich
einverstanden, aber die Preisgabe der Einheit und „Einmaligkeit"
scheint mir die Einheit der Menschheit in ihrer Sünde zu verkennen
und dem Geheimnis des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit
ebensowenig gerecht zu werden wie ich in der ersten Auflage meiner
„letzten Dinge". Endlich: der Verfasser spricht sich unter dem
Titel „der Allwirkende" (492 ff.) im Sinne der Apokatastasis aus,
wenn auch in zurückhaltender Form und, wie die Überschrift zeigt,
mit der ernstesten, ja einzig möglichen Begründung. Daß damit das
Problem der Menschheit unzulässig vereinfacht wird, kann ich hier
nicht noch einmal darlegen (s. meine „letzten Dinge", 3. Aufl.) Der
Verfasser betont in anderem Zusammenhange so stark und schön das
seelsorgerliche Ziel der eschatologischen Reden Jesu, daß
er von da aus Verständnis dafür gewinnen wird, warum man die
Apokatastasis nicht lehren und im N.T. nicht gelehrt finden kann —
eben weil wir niemals aus def Seel-Sorge, mindestens um uns
selber, fliehen können, bis wir sterben.

Allzuknapp scheinen mir die Abschnitte über das Abendmahl
und das Kreuz geraten. Hier hat gerade unsere Zeit viele und ernste
Fragen. Warum schweigt das Buch über das vierte Kreuzeswort? Die
Unglcichmäßigkeit des Ganzen tritt darin noch einmal hervor.

Trotz dieser Bedenken wünschen wir dem Werke
weite Verbreitung. Es wird seinen Dienst tun, und es
wäre nicht zu verantworten, wollten wir das künftige
Bessere den Feind des gegenwärtigen Guten sein lassen.
Erlangen. P. Alt haus.

Bülck, Priv.-Doz. Lic. Walter: Die evangelische Gemeinde.

Ihr Wesen u. ihre Organisation. Tübingen: J. C. B. Mohr 1926.
(IV, 79 S.) gr. 8°. Rm. 2.70.

In der gegenwärtigen Wirrnis, die eine klare Antwort
auf die Frage nach der Aufgabe einer evangelischen
Kirchengemeinde erschwert, will B. auf die Reformation
zurückgehen, um da grundsätzliche Entscheidung zu gewinnen
. Er stellt eingehend die bekannten Gedanken
Luthers dar, die auf eine strenge Scheidung der
ideellen Christengemeinde als einer unsichtbaren Gemeinschaft
und der empirischen Kirchengemeindc als
der Veranstalterin des Gottesdienstes, der Erziehung
und der Mission hinauslaufen. Von da aus
kritisiert B. alle andern Bestrebungen: die Sekte,
aas reformierte Ideal, das pietistische Ideal und
den Sulzeschen Gedanken von der lebendigen Gemeinde.

Überall findet er die Gefahr gegeben, daß jene grundlegende
Unterscheidung zu gunsten der Herausstellung
einer Gemeinde der Heiligen aufgegeben werde. Die
Kirche hat sich auf die Wortverkündigung und die
Seelsorge zu beschränken, zu welch letzterer wohl auch
die Liebestätigkeit hinzutreten könne. Auch von Hilberts
Kerngemeinde will B. nichts wissen; höchstens gibt er
zu, daß der Pastor Hilfe haben muß. — So sehr B.
recht hat, wenn er das Calvinische und das Sulzesche
Ideal in ihrer extremen Fassung ablehnt, so wenig genügt
es, wenn er nur in der knappen Form Hilfe aus
der Gemeinde herangezogen wissen will und die Mission
zu den Aufgaben der Kirchengemeinde zählt. Heute
geht tatsächlich der „Strom", gegen den B. schwimmen
will, nach einer andern Richtung: die Kirche will Gewissen
des Volkslebens, ja auch Freudenmeisterin für
die sein, die sich zu ihr halten wollen; sie tut auch gut
daran, wenn sie dem erzieherischen Grundsatz folgt, daß
Mitarbeit Interesse erzeugt und daß mancher für die Zuspräche
eines sog. Laien zugänglicher ist als für den des
Pfarrers. Von der Gestaltung der Arbeit in der Gemeinde
, wie sie in vielen großen Städten aber auch in
kleineren Gemeinden heute nicht ohne Segen wirkt, hört
man bei B. nichts. Die Diagonale der Entwicklung dürfte
doch noch etwas mehr nach der reformierten oder der
südwestdeutschen Seite hin gezogen werden müssen.
Marburg. F. Niebergall.

Schorlemmer, Stiftspfarrer Paul: Kerzen für Gottes Altar.

100 Gebete u. Liturgien als Ergänzung zu allen Agenden mit
liturgischen Bemerkungen und Winken u. e. Einleitung über
„Kultus, Kirche, Bibel". Gütersloh: C. Bertelsmann 1925. (138 S.)
kl. S°. Rm. 3—; geb. 4.50.

Das ßüchlein des uns aus manchen Aufsätzen (Hochkirche u. a.)
wohlbekannten Verfassers bringt unter den 100 Gebeten und Liturgien
in der Tat uns manche erwünschte anregende Ergänzung, z. B. für
besondere Festtage, Missionsfeste, Friedhofsjubiläen, namentlich auch
für Jugendgottesdienste, Jugendfeste, auf Jugendwanderungen, u. a.
Für alle diese Gelegenheiten werden wir dem Büchlein mancherlei
entnehmen können. Verf. will vor allem auch das „Gebet der Kirche
in seiner ursprünglichen im Psalter gegebenen . . . und uns Evangelischen
fremd gewordenen Gestalt des Chorgebetes, d. h. des
Wechselgebetes aufleben lassen". Er gibt uns aus reicher Erfahrung
allerlei Winke zur praktischen Ausführung. Die neue starke
Be wegung zur Bibel hin müsse auch im Kultus zur Geltung kommen.

In manchem können wir aber dem Verfasser nicht folgen, so
wenn er meint, daß Luthers Deutsche Messe in biblisch-formeller
Hinsicht ein Rückschritt sei, da sie den bibl. Introitus und das
Sanktus durch ein deutsches Lied, das Herrengebet durch Umschreibung
ersetze. Auch macht er sich die an und für sich schon
schwierige Ausführung des Gebrauchs der Psalmen im Wechselgebet
noch schwieriger durch Beibehaltung solcher Verse, die keinen natürlichen
Einschnitt haben, wie S. 76: Ich will den Herrn loben —
Resp.: allezeit; oder S. 78: Die Stimme des Herrn — Resp.: sprühet
Feuerflammen.

Verf. schreibt S. 75, daß man sich bei einer Gustav-Adolf-
Vercinsfcier am Vormittag an die Sonntagsliturgie halten müsse. Aber
ganz gewiß wird man eine solche Feier, zumal wenn sie auf einen
Wochentag fällt, freier gestalten dürfen. Auf S. 93 finden wir die
Ordnung einer Wimpel weihe. Sie enthält den Abschnitt: P.
Lasset uns beten (Breitet die Hände gegen den Wimpel [der ein
Kreuzeszeichen trägt] und segnet ihn bei -)-). Es folgen u. a. auch die
Worte: „Geweiht sei dieses Zeichen des Kreuzes im Namen des
-f Vaters und -(- des Sohnes und -f- des Hlg. Geistes, daß alle, die
im Glauben darauf blicken . . .

Gerade heutzutage, wo wir Pastoren häufiger vor solche Aufgaben
gestellt werden, haben wir mit allem Nachdruck, besonders
auch den uns bittenden Vereinen mit ihren unklaren, um nicht zu
sagen katholisierenden Anschauungen gegenüber uns für eine wirklich
evangelische „Weihe" einzusetzen und alles zu vermeiden, was auch
nur im geringsten Anlaß zu Mißverständnissen geben könnte. Ich
bitte alle, einmal die Ordnung der militärischen Fahnenweihe in
der doch gut lutherischen Agende Bayerns zu vergleichen, worin es
ausdrücklich heißt: „Von einer eigentlichen Segnung der Fahne ist
abzusehen. Es ist vielmehr (nach der Ansprache) lediglich das
nachstehende Gebet zu sprechen." Es mußte das wirklich einmal
gesagt werden.

So enthält, wie aus diesen wenigen Andeutungen zu sehen, das
Büchlein viel mehr, als der Titel besagt, und bringt, wie bereits
betont, reiche Anregung, auch dem, der nicht mit allem übereinstimmt.
Kleinfreden/Leine._ Paul Qraff.