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Ausgabe:

1927 Nr. 7

Spalte:

163-165

Autor/Hrsg.:

Wilde, Martin

Titel/Untertitel:

Deutsches Evangelium 1927

Rezensent:

Althaus, Paul

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Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 7.

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Verhältnis von Gottesreich und Ethik, die ich mir mit
Freuden aneignen kann. „Wir beschleunigen nicht das
Kommen des Reiches Gottes, wir verkündigen es nur
durch unser Verhalten und unser Tun." „Also eine Ethik
der Botschaft und nicht eine solche der Herrschaft
ergibt sich aus der Reich-Gottes-Idee" (17). Es kann
keine Frage sein, daß Frick mit diesen Sätzen wohl den
Lutheranern genug tut, aber keinesfalls den Amerikanern.
Seine trefflichen Formeln sind für den Lutheraner nicht,
wie der Verfasser zu glauben scheint, etwas Ungewohntes
. Es sei für die jüngste Zeit nur an die Rede von
Ihmels in Stockholm (Konferenzbericht S. 134) oder an
Fr. Brunstäds Worte (ebendort S. 222) erinnert: „Kultur
ist nicht das Reich Gottes, aber sie ist Dienst in seiner
Erwartung." Und das ältere Luthertum trifft man
mit der Formel des Individualismus (16) auch nicht
wirklich. In den klassischen lutherischen Ethiken des
19. Jahrhunderts, bei Harleß und Hof mann, findet man
sehr eingehende und keineswegs nur „konservative"
Gedanken zum Staatsleben, von Stahl ganz zu schweigen.
Gegen den Individualismus war das Luthertum dieser
Männer außerdem schon durch seinen lebendigen und
starken Kirchengedanken geschützt. Gewiß, der Inhalt
der „sozialen" Ethik unserer lutherischen Väter war ein
ganz anderer als bei den Amerikanern, und er bedarf
heute, in neuer Zeit, mindestens der Ergänzung. Aber in
den entscheidenden Gedanken steht die beste Tradition
des Luthertums nicht soweit von Fricks Formeln ab, wie
sein Vortrag es erscheinen läßt.

Nicht recht verständlich ist mir vor allem, warum Frick eigentlich
der amerikanischen Theologie des Reiches Gottes und des
ethischen Enthusiasmus gerade die oben näher gekennzeichnete deutsche
Theologie (es werden vor allem Tillich, Gogarten, Brunner und
der Referent genannt) gegenüberstellt. Die dogmatische Kritik, die er
an unserer Eschatologie übt, ist wertvoll und beachtenswert. Wir
wollen es uns gewiß sagen lassen, daß man das Zeitliche, nämlich
das Herankommen des Reiches, nicht umdeuten darf in das Raumliche
, das „Jenseits" der Geschichte (12 ff.). Aber was hat das mit
der Frage des ethischen Enthusiasmus zu tun? Nach Frick sehr
viel: er wirft den Gegnern der endgeschichtlichen Eschatologie vor,
daß sie „die Zeit nicht ernst nehmen". Aber dieser mehrfach vorkommende
Ausdruck schillert in Zweideutigkeit. In dem Sinne jedenfalls
, in dem Fr. ihn bei seinem Vorwurfe verwendet, hat er uns
gegenüber keinen Grund. Frick findet den Ernst der Zeit in ihrer
Nichtumkehrbarkeit, in der „Bedrängnis" des „Kairos" — sind nicht
gerade in meiner Eschatologie, schon in der ersten Auflage („jede
Zeit ist unmittelbar zum Gerichte, jede Zeit ist letzte Zeit"), diese
Gedanken und die Verantwortung, die sie begründen, auf das Stärkste
herausgearbeitet worden? Was also immer mit Recht gegen meine
Bestreitung der endgeschichtlichen Eschatologie gesagt werden mag,
die Frage des „ethischen Enthusiasmus" wird von dem ganzen
Thema garnicht berührt. „Ernstnehmen der Zeit" und endgeschichtliche
Eschatologie sind nicht dasselbe. Den Vorwurf des „Quietismus
und Pessimismus" (15) darf icli solange von mir abweisen, als Frick
uns nicht gesagt hat, worin nun praktisch seine „Ethik der Botschaft"
mehr tun will als wir anderen in unseren ethischen Schriften vortragen
. Es mag sein, daß in den konkreten Normen der evangelischen
Sozialethik Unterschiede zwischen uns bestehen — ich leugne
aber, daß sie mit einem größeren oder geringeren „Ernstnehmen der
Zeit" zusammenhängen. Kurz: die Behandlung der dialektischen
Eschatologie, der ich als „vorsichtigster" Vertreter beigerechnet werde,
scheint mir, so beachtlich sie für sich genommen ist, in den Zusammenhängen
dieses Vortrages ein Fremdkörper und durch die falsche Verknüpfung
mit der ethischen Frage eine Ungerechtigkeit gegen die
genannten Theologen.

Zu der Kritik des Verf. an meiner Eschatologie werde ich an anderem
Orte Stellung nehmen.

Erlangen. P. A 11 h a u s.

Wilde, Martin: Deutsches Evangelium. Berlin: Heimatdienstverlag
1925. (523 S.) 8°. geb. Rm. 7—.
Der Titel des vorliegenden Buches könnte falsche
Erwartungen erwecken. Es hat nichts mit gewissen
völkischen Versuchen einer „Reinigung" des Evangeliums
zu tun. Ausdrücklich bezeugt das Vorwort: „Es
gibt nur ein Evangelium. Das steht im Neuen Testament
." Luther hat es deutschredend gemacht. Der
Verfasser will von Luthers Geist nicht weichen, aber
Luthers Verständnis des Evangeliums muß vergegenwärtigt
werden. „Deutsches Evangelium soll heißen:
von dem Deutschen unseres Geschlechtes, von deutscher
Seele erfaßtes, in deutschem Geist begriffenes, mit
deutschem Herzen Hebgehabtes Evangelium." (7).

Das Buch bietet eine Einführung in das Evangelium
für Gebildete. Die Notwendigkeit eines solchen Versuches
ist dem Verfasser, der übrigens lange Jahre hindurch
als Inspektor im Dienste der Berliner Mission
stand, bei der Frontseelsorge aufgegangen. Dem Kriege
dankt das Buch seine Entstehung. „Die Stelle, an der
feindliche Geschosse einschlagen oder jeden Augenblick
einschlagen können, ist eine gute Schulstube, um sich
gänzlich kunstlos, aber ernsthaft mit den letzten und
tiefsten Lebensfragen zu beschäftigen." (7). Die Darstellung
des Evangeliums wird in lose aneinandergereihten
, nahezu geschlossenen Einzelabhandlungen gegeben,
die allesamt unter dem Gedanken des Reiches Gottes
stehen. Im Ganzen und Großen schließt sich das Buch
dem Aufriß des Matthäus an. Auf Johannes den Täufer,
die Taufe, die Versuchung folgen Auslegungen der
Seligpreisungen und des Dekaloges im Verständnis Jesu,
sodann ein Abschnitt über die Wunder. Dann wendet die
Darstellung sich dem Wesen des Reiches Gottes zu,
aber zunächst nicht im Anschlüsse an die Worte Jesu,
sondern in selbständiger ethisch-dogmatischer Besinnung
über das Natur-, Geschichts- und Gottesverhältnis des
Menschen sowie über die Ausgestaltung des menschlichen
Gemeinschaftslebens. Darauf kommt ein christo-
logischer Abschnitt und „die Reichsgründung", wobei zuerst
Israels Kampf gegen das Gottesreich in der Person
Jesu, dann — in Abgrenzung gegen die radikal-eschato-
logische Auffassung Jesu bei A. Schweitzer — „die Einbettung
des Reiches Gottes in das öffentliche, in das Geschichtsleben
des Volkes und der Völker" als Ziel und
Wirkung Jesu behandelt wird. Es folgt im Anschlüsse
an die Reden Jesu von den letzten Dingen die Eschatologie
und ein kurzer Abschnitt über die Leidensgeschichte
.

Das Buch ist in edler, lebendiger Sprache abgefaßt.
Die beiden Gefahren des Theologen, lebensfremder Fachsprache
oder billiger Erbaulichkeit, sind in gleicher
Weise vermieden. Der Stil des Ganzen ist ernsthaft
denkende Betrachtung. Die Gesamtauffassung des Evangeliums
liegt, bei aller Selbständigkeit, in der Linie der
heilsgeschichtlichen Theologie. Der Verfasser ist in der
neueren biblischen Theologie, aber auch in der Geistesgeschichte
überhaupt gut zu Hause und weicht den Fragen
nicht aus. Sein Urteil ist überall wohlbegründet und
gesund, und auch wo er Bekanntes vorträgt, hört man
ihm gerne zu, weil alles einen eigenen Ton hat. Es sei
nur beispielsweise auf die Ausführungen über die Wunder
(191 ff.), das „Angeborene" (229ff.), Glauben und
Wissen (252ff.) hingewiesen; solche Abschnitte sind
nach Form und Inhalt wahrhaft geeignet, unseren in
Dingen des Evangeliums so erschreckend unwissenden
und urteilslosen Gebildeten voranzuhelfen. So begrüße
ich das Buch als einen erfreulichen Schrift auf dem Wege
zu einer kommenden Lehre vom Evangelium für Gebildete
, deren Kirche und Volk bedürfen wie des lieben
Brotes.

Einen Schritt auf dem Wege, noch nicht das Ziel
stellt das Buch nach meinem Urteile dar. Seine Grenze
liegt zunächst darin, daß es nicht genug aus einem Gusse
gestaltet ist. Der größte Teil des Buches besteht aus
Betrachtungen, die sich an Abschnitte der Evangelien anschließen
. In der Mitte aber ist eine kleine Anthropologie
und Soziologie (wenn auch zum Glücke nicht unter
diesen Namen; der Verfasser schreibt ein sehr reines und
anschauliches Deutsch!) eingebaut, eine Art von Grundlegung
der Ethik und Dogmatik, eine Auseinandersetzung
mit dem völkischen Gedanken, alles im Einzelnen
klug und wertvoll. Ich fürchte nur, der hiermit bezeichnete
Verzicht des Verf. auf streng fortschreitenden Aufbau
von den Fundamenten her wird der Wirkung und
erzieherischen Kraft des Werkes Eintrag tun. Es geht