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Ausgabe:

1927

Spalte:

136-140

Autor/Hrsg.:

Gogarten, Friedrich

Titel/Untertitel:

Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus 1927

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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13B

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 6.

136

ja die objektive, immanent wesenhafte Kritik der Geschichte
selbst sein. Ob dies wirklich zutrifft, das gerade
ist die Frage. Wir haben doch den Eindruck, daß
L., indem er die so mannigfaltige und spannungsreiche
idealistische Bewegung in allen ihren Erscheinungen
auf den einen Generalnenner: Antike, Aufklärung,
Mystik zu bringen sucht, mit einem von außen angelegten
Schema arbeitet. Durch den Geistesozean des
Idealismus wird ein dreimaschiges Begriffsnetz gezogen.
Was daran hängen bleibt, wird herausgehoben und zur
Schau gestellt. Das Übrige bleibt in der Tiefe. Dieses
Schema ist überall fühlbar, und auch die wogende
Blumenfülle der leichten und anschaulichen Darstellung
kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie einen schematischen
Begriffssarg bedeckt, in dem der deutsche
Idealismus eingebettet ruht.

Man fragt sich, wie es überhaupt möglich ist, daß
der gesamte deutsche Idealismus gleich einer geometrischen
Figur mittels dreier Punkte umschrieben werden
kann? Selbstverständlich nur so, daß die drei sinnbegrenzenden
Begriffe ihrerseits recht weit gefaßt sind
und eine bemerkenswerte Elastizität besitzen. Was wird
nicht alles als „Mystik" verstanden! Mystisch ist die Erkenntnistheorie
Kants, die die Wirklichkeit in Erscheinung
auflöst, seine Auffassung vom „Ding an sich",
seine Freiheitslehre. Mystisch ist der Neupiatonismus
Fichtes und die monistische Geistesphiiosophie Hegels.
Mystisch ist die ästhetische Kontemplation Schleiermachers
und der intuitive Tiefbi ick Goethes. Mystisch
ist die immanente Wahrnehmung des Übersinnlichen bei
Jakobi, die Natursymbolik Baaders, die Magie Lavaters
und die gesamte theosophische Spekulation. Mystisch
ist der irrationale Voluntarismus des späteren Sendling
und die Willenslehre Schopenhauers usw. Auch die
Begriffsrahmen der „Aufklärung" und der „Antike"
sind entsprechend dehnbar. Nur dadurch ist es möglich
, die idealistische Gesamtbewegung über einen
Leisten zu schlagen und in Bausch und Bogen abzutun.
Gerade wenn es richtig sein sollte, daß der Idealismus
einen stärkeren mystischen Einschlag enthält, und dem
Geist der Antike und Aufklärung näher steht, als man gemeinhin
annahm, dürfte diese Erkenntnis nicht durch
wahllose Verallgemeinerung abgeschwächt werden. Das
geistige Eigengut des Idealismus, das zweifellos vorhanden
ist und seinen innersten Kern bildet, wäre auf
alle Fälle deutlich zu machen. Indem L. die mystischen
usw. Wesenszüge überbetont, schadet er u. E. seiner
eigenen Theorie.

L. „konstruiert" nicht, er zieht keine Linien und entwickelt
keine Sinnfolgen. Er denkt überhaupt nicht
systematisch, auch nicht geistesgeschichtlich. Seine Gestalten
werden ziemlich lose gruppiert. Nur der dritte
Band ist etwas strenger geordnet. Bei der Herausarbeitung
systematischer Zusammenhänge müßte sich ergeben
, daß der Idealismus trotz aller innerer Spannungen
doch eine geschlossene Gesamtbewegung ist, die
von einem inneren Gestaltgesetz vorwärts getrieben wird
und eine in sich notwendige Entwicklung durchläuft.
Daraus würde die organische Einheit und wesenhafte
Selbständigkeit der idealistischen Epoche gerade auch
gegenüber der Aufklärung hervorgehen. Das aber liegt
nicht im Interesse L's. Für ihn ist der Idealismus kein
von vulkanischer Kraft emporgetriebenes Felsgebirge,
das sich machtvoll aus der Niederung erhebt, sondern
ein mäßig gewölbter Sandhügel mit sanften Übergängen
. Er ist selbst „Aufklärung", etwas überhöht
durch Mystik.

Nachdem wir so auf den Grundstandpunkt und einige methodische
Eigenarten L's. hingewiesen haben, noch ein kurzes Wort über
die stilistische Darstellungsweise. Diese ist bewußt elegant und
leicht. Sie wendet sich nicht nur an Gelehrte, sondern an den Kreis
der Gebildeten überhaupt. Sie hat alle Spuren des vergossenen
Schweißes getilgt. Sie schöpft den Rahm ab und plaudert in angenehmer
Weise über die Dinge. Dies ist literarisch betrachtet natürlich
ein Vorzug. Entspricht jedoch diese liebenswürdige Manier ganz
der Schwere des Stoffs, der den ganzen Menschen in Anspruch nimmt,

zu energischer Mitarbeit auffordert und in einen unerhört intensiven
Denkprozeß hineinzwingt? Die Mühe des Mitarbeitens erspart L.
seinen Lesern im allgemeinen. Er bietet ihnen die Früchte seines.
Fleißes in gefälliger Form dar. Das Buch liest sich fast wie ein
Roman. Aber ist das bei einem wissenschaftlichen Werke wirklich
ein Vorzug ?

Noch eine Bemerkung zur Erweckungsbewegung, die fortlaufend
mit dem Idealismus zusammen betrachtet wird. Sie bildet
eine in sich zusammenhängende Linie, die L. eigentlich erst entdeckt
hat. Sie faßt die verschiedensten Persönlichkeiten in sich. Sie läuft
von Hamann bis Hengstenberg, von Baader bis Beck. Auch vieles,
was man sonst der Romantik zurechnete, wird in ihr untergebracht.
Es fragt sich aber, ob sie als einheitliches Ganzes wirklich haltbar ist
— ein Problem, dem wir hier nicht weiter nachgehen können. In der
Erweckungsbewegung vollzieht sich eine Art Synthese von Idealismus
und Christentum. Jedenfalls gehört sie ganz mit dem Idealismus
zusammen. Sie nimmt mit ihm die gleiche Front gegen die Aufklärung
ein, schlägt mit ihm die Schlachten der Befreiungskriege und geht mit
ihm unter. Aber die Sympathie L.'s gehört doch einseitig der Erweckungsbewegung
. Ihr widmet er jene persönliche Sorgfalt, die
man bei seinen Urteilen über den Idealismus, manchmal schmerzlich vermißt
. Dies darf einen weiter nicht wundernehmen. Gehört doch L.
selbst in gewissem Sinn als Ausläufer in diese Bewegung hinein.
Hieraus erklärt sich vieles, vor allem die Tendenz.

Wir nehmen damit Abschied von diesem Werk. Wir
haben es stellenweise kritisiert. Aber wir möchten es in
seiner Bedeutung doch nicht herabsetzen. Schon wegen
seiner großzügigen Anlage und weil es eine Fundgrube
zahlreicher intimer Einzelerkenntnisse ist, die sonst nirgends
zu holen sind. Dann aber auch deshalb, weil es in
dem gegenwärtig tobenden Streit über das Verhältnis von
Idealismus und Christentum einen sehr markanten Standpunkt
einnimmt und repräsentativ ist für eine bestimmte
Gruppe. Die Geister scheiden sich. Die einen
ordnen den Idealismus durchaus der christlichen Gesamtbewegung
ein. Sie sehen in seiner Innerlichkeit, seiner
ungegenständlichen Gottesauffassung, seiner Wertschätzung
des Geistes, seiner erhabenen Gesinnungsethik
, seiner Freiheitslehre, seinem ganzen Unbe-
dingtheitsstreben ein echt reformatorisches Erbe. Andere
ziehen gerade vom christlichen Standpunkt aus
eine scharfe Trcnnungslinie. Zu diesen letzteren gehört
L. Wir haben uns mit der Art, wie er dies tut, nicht
immer einverstanden erklären können. Trotz gegenteiliger
Versicherungen scheint er der größten neueren
Schöpfung des deutschen Geistes keine eigentliche
Liebe entgegenzubringen. Dies bedauern wir im Interesse
einer ganz tiefen und fruchtbaren Auseinandersetzung
. Deshalb wird man mit E. Hirsch
der Grundtendenz doch zustimmen können. Jedenfalls
ist es heilsam, den Abstand zwischen Idealismus und
Christentum recht deutlich zu machen. Schon um klar zu
sehen und um jeder der beiden Geistesniächte gerecht
werden zu können. Synthesen lassen sich dann immer
noch ziehen. Dann hat L. aber auch darin recht, daß
die Geschichte beim Idealismus trotz dessen Großartigkeit
nicht ewig stehen bleiben kann. Wir haben heute
andere Aufgaben und Nöte zu bewältigen als die
klassisch-idealistische Zeit. Deshalb heißt es weiter
gehen. „Unser Weg führt uns unter allen Umständen
vorwärts, auch dann, wenn er uns abwärts führt."
Gießen. Heinrich Adolph.

Gogarten, Friedrich: Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit
dem Kulturidcalismus. 1.—3. Tsd. Jena: E. Diederichs 1926. (IV,
146 S.) 8°. Rm. 4—; geb. 5.50.

Es handelt sich bei dieser Sammlung um den Wiederabdruck
von 5 Aufsätzen aus „Zwischen den Zeiten"
(Die Entscheidung; Ethik des Gewissens oder Ethik der
Gnade; Die Kirche und ihre Aufgabe; Die Frage nach
der Autorität; Kultur und Religion) und einem Beitrag
aus dem „Leuchter 1924" (Der protestantische Mensch).
Wenn Gogarten diese Aufsätze, die alle die Auseinandersetzung
zwischen Idealismus und Christentum betreffen,
unter dem Titel „Illusionen" zusammenfaßt, so scheint
mir in dieser Kennzeichung der Hinweis auf eine mangelnde
Radikalität der Auseinandersetzung selbst ge-