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Ausgabe:

1927 Nr. 6

Spalte:

133-136

Autor/Hrsg.:

Lütgert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende. 3. Teil 1927

Rezensent:

Adolph, Heinrich

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L33

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 6.

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zu einer Vermischung der reinen Verstandesbegriffe mit
empirischen Begriffen wie vor allem zu einer Vermengung
des Funktionellen und Gegenständlichen.
Hängt die Tragfähigkeit der Kantischen Deduktion daher
ganz an der inneren Maßgewalt des transzendentalen
Systems und seiner synthetischen Ermächtigung gegenüber
dem Bereich der Erfahrung, so scheint Husserl zunächst
vor einem solchen idealistischen Konstruktionsdogma
gesichert, weil er nur auf die Wesensbeschreibung
der bloßen Gegenständlichkeit ausgeht. Aber in
der Durchführung zeigt sich, daß diese scheinbar reine
Gegenstandslehre methodisch in eine bedenkliche Nähe
zu dem Grundirrtum Kants gerät, weil der Sinn der
„Bedeutung" sich in einen objektiven und subjektiven
Faktor spaltet. Bedeutungsintention scheidet sich von
Bedeutungserfüllung, und das ganze Schwergewicht der
Untersuchung verlegt sich für Husserl von dem Gegebenen
auf den Gebungsakt. So ist das Resultat, daß
sich bei Kant wie bei Husserl ein ungerechtfertigter
„Übergang von den Wesensbedingungen der Gegebenheiten
zu den Wesensbedingungen des Erkennens" ergibt
, in dem der Verf. den unmöglichen Zirkel beider
Denkungsarten bloßzustellen sucht. — Die scheinbar
sehr exakte Durchführung dieser Untersuchung leidet
an dem Mangel einer eigenen Basis hinsichtlich ihres
Erkenntnisbegriffs, und sie hat es daher leicht, mit einem
naiv in Anspruch genommenen Objektivitätsdatum die
Erkenntnisbemühung der beiden großen Denker vor
diesem Forum als Illusion zu erweisen.

Bremen. H. Knittermeyer.

Lfltgert, Prof. D. Wilhelm: Die Religion des deutschen
Idealismus und ihr Ende. 3. Teil: Höhe und Niedergang des
Idealismus. Gütersloh: C. Bertelsmann 1925. (XVI, 466 S.) gr. 8°.
= Beiträge z. Förderung christl. Theologie, II, 10.

Rm. 15—; geb. 18—.

Inhaltsverzeichnis. Einleitung: Aufklärung, Idealismus und Er-
weekungsbewegung auf den Universitäten. 1. Die alten Universitäten
und die neue Zeit. 2. Die studentische Jugendbewegung. 3. Die Katastrophe
des akademischen Idealismus. Erstes Buch: Höhe und
Wendung des Idealismus. 1. Kap. Hegel. Der absolute
Idealismus und seine Grundlagen. Die Geschichtsphilosaphie. Die
Staatslehre. Die Religionsphilosophrie. 2. Kap. Die Hegeische Schule
und die Bibelkritik. 1. Das Leben Jesu: Strauß und Bruno Bauer. 2.
Das alte Testament: Vatke. 3. Das Urchristentum: Ch. F. Baur.
3. Kap. Die Trennung der Erweckungsbewegung vom Idealismus.
h Die Bewegung in Norddeutschland. 2. Die süddeutsche Erweckungsbewegung
in ihrem Verhältnis zum Idealismus. 3. Religiöse Motive in
der neuen Wissenschaft in ihrem Verhältnis zum Idealismus. Leopold
von Ranke. Karl Ritter. F. K. von Savigny. Zweites Buch: Die
Auflösung des Idealismus. I. Kap. Der Atheismus. 1. Ludwig
Feuerbach. 2. Max Stirner. 3. Das Junge Deutschland. 2. Kap.
Der Materialismus. Ii Der Streit um die Unsterblichkeit der Seele.
2. Der Materialismusstrcit. 3. Kap. Der Pessimismus. 4. Kap. Die
Stellung der Gebildeten zum Christentum und zur Kirche. Drittes
Buch: Der Idealismus, die Erweckungsbewegung
und ihre Auflösung im öffentlichen Leben. 1. Kap.
Idealismus und Liberalismus. 2. Kap. Die Erweckungsbewegung und
die Konservativen im öffentlichen Leben. 3. Kap. Die Väter des revolutionären
Sozialismus. Schlußwort. Quellenbelege.

Der dritte Band nimmt insofern eine bedeutsame
Stellung im Rahmen des Gesamtwerks ein, als hier das
angekündigte „Ende" der idealistischen Religion zur
Darstellung gebracht wird. Die „objektive Kritik", die
die Geschichte nach L. am Idealismus üben soll, gelangt
zu ihrer endgiltigen Auswirkung. Die immanenten
Grundprinzipien, die der Tendenz des Buches zufolge
den Keim der Auflösung bereits in sich trugen, laufen
in volle Zersetzung aus. Das Ergebnis des Ganzen wird
gezogen. So hat der vorliegende Band, selbst wenn er
noch eine Fortsetzung erfahren sollte, doch die Bedeutung
eines grundsätzlichen Abschlusses.

Der 3. Teil des Werkes steht im Zeichen Hegels. In
diesem vollendet sich der deutsche Idealismus. Die
Grundprinzipien, in denen L. das „Wesen" der idealistischen
Bewegung sieht—Antike, Aufklärung, Mystik—treten
daher gerade bei dem abschließenden Denker der
Epoche besonders kräftig heraus. Es ist zuzugeben, daß

L. hier manches richtig beobachtet hat. Die Vergötterung
des Staates mag antik sein, die Philosophie des Geistes
mystische Züge aufweisen und in der immer wieder
drohenden Gefahr einer Logisierung der Vernunft eine
Annäherung an die Aufklärung stattfinden. Trotzdem
drängt sich die Frage auf, ob der von L. gezeichnete
Hegel der ganze Hegel ist, und Wesentliches nicht einfach
unter den Tisch gefallen ist. Wir stehen heute im
Zeichen einer mächtig aufstrebenden Hegel-Renaissance,
die das schematische Vorurteil, mit dem gerade dieser
Denker betrachtet wird, durchbrechen und den Wesensgehalt
seiner Philosophie wirklich bis zum Grunde
ausschöpfen will. Die neuere Forschung hat gerade
auf die religiösen Elemente der Hegel'schen Philosophie
den stärksten Nachdruck gelegt. Sie hat gezeigt, daß
in der Seele dieses leidenschaftlichen Denkers, dessen
Begriffe vor innerem Leben glühen, eine innerlichsi-per-
sönliche Auseinandersetzung zwischen Antike und Christentum
stattgefunden hat, daß die Romantik, nicht nur
ihren ästhetischen, sondern auch ihren religiös-sittlichen
Tendenzen nach in sein System eingeflossen ist und dort
ihre Beisetzung erfahren hat, aber von diesen, die übliche
Hegelautfassung umstürzenden Erkenntnissen erfährt
man bei L. nicht allzu viel. Bei ihm ist Hegel von
vornherein in eine bestimmte Perspektive hineingestellt
und auf ein Niveau versetzt, von dem aus es nicht schwer
fällt, den Übergang zu der folgenden negativen Entwicklung
zu finden.

Diese Überleitungen werden von der eingenommenen
Grundstellung aus mit Geschick vollzogen, wobei
sich L. allerdings in traditionellen Bahnen bewegen kann.
Er sucht nachzuweisen, wie das Hegeltum und damit der
Idealismus aus immanenter Zwangsläufigkeit heraus in
Atheismus, Materialismus, Pessimismus, Sozialismus einmündet
. Zum Atheismus wird der Idealismus in Feuerbach
, indem sich das schöpferische Bewußtsein selbst
vergottet und die kantische Postulatentheorie eine Wendung
ins Negative erfährt. Der Materialismus wächst hervor
aus der Naturphilosophie, dem antik-sinnlichen Ethos
und der zweideutigen Haltung gegenüber dem Unsterblichkeitsgedanken
. Der Pessimismus lag schon von vornherein
im Idealismus drin und mußte akut werden, als
der überspannte Enthusiasmus abebbte und Enttäuschung
eintrat. Auch Marx ist Hegelianer mit negativem Vorzeichen
, Hegelianer ohne Geist. Diese Ableitungen werden
mit einer gewissen konstruktiven Folgerichtigkeit
vorgenommen, die sonst verpönt ist.

Vier Fünftel des Buches sind mit Schilderungen der negativen
Folgewirkungen des Idealismus ausgefüllt. Dieser versandet in Atheismus
, Pessimismus, Positivismus. Das 19. Jahrhundert mit seiner
trostlosen Ungeistigkeit ist seine Frucht. Daraus ergibt sich, daß
schon im innersten Lebenssaft des Idealismus kranke — widerchristliche
— Stoffe kreisten, die nun herauskamen. Aber dieser Versuch, die
vielleicht ödeste Epoche der Weltgeschicht.' auf Konto des Idealismus
zu setzen, ist doch nicht frei von Tendenz. Mit demselben Recht könnte
man behaupten, daß das eigentliche Wesen der Reformation in der altprotestantischen
Scholastik zum Durchbruch gekommen sei. Daß am
Niedergang des 19. Jahrhunderts auch andere Mächte beteiligt
waren, etwa die positivistische Naturwissenschaft, davon spricht L.
nicht. Es soll alles aus der immanenten Wesensgesetzlichkeit des
Idealismus herausgeflossen sein. Ist das wirklich „objektive" Geschichtsbetrachtung
?

Damit wird der Blick noch einmal auf die Tendenz
des Gesamtwerkes gerichtet, die nun klar übersehbar
vorliegt. L. geht von der Absicht aus, den Abstand
zwischen Idealismus und Christentum zu erweisen. Hierbei
befindet er sieh inmitten einer heute stark anschwellenden
Bewegung, wie sie etwa auch von der
Barthschen Schule vertreten wird. Wir sind der Auffassung
, daß eine Auseinandersetzung mit dem Idealismus
von Seiten des Christentums nur so erfolgen kann,
daß die Kritik mitten durch ihn hindurchgeht, ihn in
seinem innersten Wesenskern zu erfassen sucht und in
Ehrfurcht vor seiner gewaltigen üeistesleistung mit ihm
ringt. Aber es geht nicht an, von außen her über ihn
abzuurteilen. Dies will auch L. nicht. Seine Kritik soll