Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1927 Nr. 4

Spalte:

80-83

Autor/Hrsg.:

Dibelius, Martin

Titel/Untertitel:

Geschichte der urchristlichen Literatur. I: Evangelien u. Apokalypsen. II: Apostolisches u. Nachapostolisches 1927

Rezensent:

Bultmann, Rudolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

79

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 4.

80

Sprache und Inhalt in die traditionellen Formen der
römischen Grabpoesie wird nicht vorgenommen. Ich
hoffe auf diese Eschatologie der christlichen Grabgedichte
noch einmal eingehen zu können. Die Verlegung
des Paradieses in den Himmel ist begreiflich,
aber die durch Paulus vorgenommene Lokalisierung im
dritten Himmel ist — auch nach den Ausführungen von
Vuippens — unbegreiflich und singulär. Es scheint, daß
es kein von PL unabhängiges Zeugnis für das Vorhandensein
des Paradieses im dritten Himmel gibt. Diesen
wichtigen Tatbestand möchte ich nachdrücklich betonen
; wie er zu erklären ist, bleibt unsicher. Man
könnte sagen, daß das t'wc tg'ivov ovgavov eine rhetorische
Wendung und keine kosmologische Aussage darstelle
. Das wäre wahrscheinlich, wenn t(og xgixov
ovgavov und eig rbv jcagäöeioov nebeneinander ständen.
Da diese beiden Aussagen aber von einander entfernt
stehen, bleibt auch die rhetorische Deutung unwahrscheinlich
. Ein anderer Versuch zur Erklärung müßte
m. E. davon ausgehen, daß man im Judentum und in
der Gnosis das Paradies in den vierten Himmel verlegt
hat. Dann spitzt sich das Problem zu auf die Frage nach
dem Verhältnis von drittem und viertem Himmel zu einander
. Nun versetzen die gnostischen Anschauungen, die
schon Irenaeus als bekannt voraussetzt, den Demiurgen
in den vierten Himmel. Zu Grunde liegt eine Anschauung,
daß die Zahl vier — um mit Origenes zu sprechen —
vhxog und xmuotixog ist. Aber noch mehr als das, die
Weltschöpfung ist speziell an die Zahl vier gebunden.
(Darüber einige Andeutungen in meinem Buche Eig
&£Ög. Göttingen 1926.) Das dahinter stehende Gedankengerüst
scheint mir auch noch aufdeckbar zu sein.
Es gab eine Planetenordnung, in der der Sonne der
vierte Platz zugesprochen wurde (cf. z. B. Philo, de vita
Mos. II 103) und in der mit dieser Anordnung der
Sonne in der Mitte der Planeten sich zugleich die Vorstellung
von einer demiurgischen Tätigkeit der Sonne
verband (s. darüber einiges bei Reinhardt, Kosmos und
Sympathie S. 365 ff., der nur zu Unrecht den Posei-
donios zum Urheber dieser Lehre macht). Von da aus
begreift man nicht nur, daß die Sonne an vierter Stelle
in einer Reihe auftritt und daß ihr dort die Welt-
schöpfung zugesprochen wird, sondern man versteht
auch, daß die Gleichsetzung des Demiurgen mit dem
judengott zugleich notwendig auch seine Identifizierung
mit dem Sonnengott bedeutete, wie mir das für dicMan-
däer sicher und für Markion wahrscheinlich zu sein
scheint. Man könnte sich nun denken, daß PI. mit solchen
gnostischen Anschauungen vertraut war und aus
einer — uns noch unbekannten Tradition heraus — die
Anschauung vertreten hätte, das Paradies müsse über
dem Himmel liegen, in dem die Schöpfung vorgenommen
ist, das wäre dann aber der dritte Himmel, wenn man
(was möglich ist) von oben nach unten zählt. Wie man
jedoch schließlich den Tatbestand bei PL auch erklären
mag, die Sache an sich ist sehr auffallend. Vuippens hat
leider garnicht darauf hingewiesen, welche bedeutende
Stellung der dritte Himmel in der Lehre von Markion
hat. Nach Markion ist der dritte Himmel vom guten
Gott geschaffen; aus ihm steigt dann Christus in diese
paupertina elementa hinab. Ich bezweifle, daß das von
Markion einfach dem Apostel PI. entnommen ist. Dahinter
scheinen mir gewisse kosmologische Vorstellungen
zu stehen, die Harnack's Markionbild vielleicht etwas
verkürzt darstellt. Man könnte sich denken, daß die
Lehre der späteren Markioniten von den drei oder vier
ägyai mit der Lehre von den drei (oder vier) „Himmeln
" zusammenhängt. Ja vielleicht ist etwas Ähnliches
schon bei Markion selber anzunehmen, denn daß
Markion jedenfalls das Dasein von drei ungeschaffenen
Wesen gelehrt hat, wird auch von Harnack (S. 198) betont
. Die ganze Frage bedürfte also noch weiterer
Untersuchungen. Vuippens hat die Anschauung vom
dritten Himmel mit der Lehre von den sieben Himmeln
verknüpft und dann das Paradies des Paulus in die

Sphäre des Planeten Mars verlegt. Ich halte das —
wenigstens in dieser Form — nicht für richtig. Nicht
nur darum, weil mir der Planet Mars sehr ungeeignet für
die Aufnahme des Paradieses zu sein scheint, sondern
weil auch m. E. keine zwingende methodische Notwendigkeit
besteht, in diesem Zusammenhang die Lehre
von den sieben Himmeln heranzuziehen. Die Siebenzahl
der Himmel ist niemals alleinige Anschauung gewesen
; es ist also nicht notwendig, anzunehmen, daß
wenn jemand vom dritten Himmel spricht, er damit notwendig
auch die Existenz von sieben Himmeln voraussetzt
. Ein Gedanke, der von Vuippens wiederholt ausgesprochen
wird, scheint mir erwägenswert zu sein, daß
nämlich das Paradies der Seelen (= himmlisches Jerusalem
) und Reich Gottes streng auseinander gehalten
werden müssen. Das wird in einem gewissen Umfange
richtig sein, solange nämlich der eschatologische Charakter
des Reich Gottes Begriffes festgehalten wird. Auf
der andern Seite wird man diese Unterscheidung freilich
auch nicht allzusehr urgieren dürfen; die Vorstellungen
gehen doch oft in einander über (s. z. B. die Inschrift

| Carm. lat. epigr. III supplem. Lommatzsch nr. 2018 Z. 2;

I ferner nr. 2193 Z. 4; nr. 2016 Z. 5). Von Einzelheiten
erwähne ich nur, daß der Verfasser auf S. 138 und 141
die Philopatris als ein Werk Lucians verwendet, während
sie doch der byzantinischen Zeit angehört. Die Väterzitate
werden sämtlich nach Migne gegeben, was eigentlich
nicht mehr üblich sein sollte. Auf das Ganze gesehen
, bleibt die Arbeit beachtenswert.

Bonn a. Rh. Erik Peterson.

D i b e 1 i u s, Prof. D. Dr. Martin: Geschichte der urchristlichen

Literatur. I: Evangelien und Apokalypsen. II: Apostolisches und
Nachapostolisches. Berlin: W. de Oruyter & Co. 192b. (108 und
110 S.) kl. 8°. = Sammlung Goschen, 934 u. 935. je Rm. 1.50.

Die schwierige Aufgabe, die Geschichte der urchristlichen
Literatur inner- und außerhalb des Kanons
in zwei kleinen Göschenbändchen von je gut 100 Seiten
zu schreiben, ist vom Verf. mit Geschick und Geschmack
gelöst worden. Er versteht es, die knappe, doch gut
lesbare Darstellung so zu geben, daß der Leser einen
Eindruck von den zu Grunde liegenden Untersuchungen
erhält und von den Schwierigkeiten, in denen die Arbeit
steckt. Einzelne Streitfragen, wie das johanneische Problem
, werden auch kurz skizziert. Neue Ergebnisse werden
in den literarkritischen Fragen nicht vorgetragen;
der Verf. vertritt in dieser Hinsicht einen Standpunkt,
der etwa dem von Jülichers Einleitung entspricht, und
er vertritt ihn in vorsichtigen Formulierungen. Der
eigene Charakter der Arbeit liegt aber darin, daß hier
eben keine „Einleitung" im alten Sinne gegeben wird,
sondern eine Literaturgeschichte unter formgeschicht-
lichen Gesichtspunkten; denn die Entstehung der urchristlichen
Schriften ist verstanden als ein Teil in dem
Prozeß der „Formwerdung" des Christentums überhaupt
. Die Eigenart der urchristlichen Literatur wird
kurz und treffend am Unterschied von der griechischen
Literatur charakterisiert, die Motive ihrer Entstehung in
ihren verschiedenen Gattungen werden aufgewiesen und
dann, gegliedert nach den Gattungen, ein Überblick über
das erhaltene Material gegeben.

Der erste Abschnitt „Evangelien" beschreibt die
Geschichte der evangelischen Tradition von ihren Ursprüngen
in der Verkündigung Jesu und der Gemeinde
bis zu den letzten Ausläufern in der apokryphen Literatur
und im Johannesevangelium. Natürlich decken sich die
Ausführungen sachlich weithin mit dem, was der Verf. in
seiner Formgeschichte des Evangeliums entwickelt hatte.
Der sehr besonnene Abschnitt über die apokryphen Evangelien
schließt sich vielfach an die Untersuchungen
Schmittkes an und ist unter traditionsgeschichtlichem Gesichtspunkt
ebenso wie der über die „wilde" Überlieferung
recht instruktiv. Beim Johannesevangeliurn vertritt
der Verfasser den herrschenden Standpunkt der
Kritik, speziell die Hypothese von Johannes, dem ephesi-
! nischen „Alten", der in der Tradition mit dem Zehe-