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Ausgabe:

1927 Nr. 23

Spalte:

548-549

Autor/Hrsg.:

Schrempf, Christoph

Titel/Untertitel:

Sören Kierkegaard. Eine Biographie. Bd. 1 1927

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 23.

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arzt in Öls wurde, die Freundschaft mit Abraham von
Frankenberg gewonnen. Aus diesem Kreise empfängt
er eine bewußt über das Luthertum hinausstrebende, ja
mit ihm sich spannende überkonfessionelle Mystik, in
der die Ideen Böhme's, noch mehr aber Eckhart's und
Weigel's lebendig sind, daneben ausgesprochen katholische
Mvstikerinnen wie die heilige Therese und die
heilige Mechthild geschätzt werden und dann auch wieder
Oiordano Bruno's Oedanken wirken. Zugleich findet
er in diesem Kreise die Anregung zur mystischen
Poesie; Czepko hat ihm die Form des alte mystische Gedanken
ausprägenden Monodistichon gegeben. Wichtiger
noch ist, daß ihm in der Person Frankenberg's
die Mystik nicht nur als Bereicherung des Lebens, sondern
als den ganzen Menschen innerlich von Grund
auf durchformende Lebenshaltung entgegentrat. Damit
war alles in allem seiner leidenschaftlichen, in der Zeit
vor Öls wohl Mystik und Sinnengenuß in einem merkwürdigen
Doppelleben vereinigenden, zugleich auch zwischen
scharfer begrifflicher Auffassungskraft und reizbarer
Phantasie wie fühlsamer Weichheit hin- und herbewegten
Persönlichkeit eine schwierige, auf die Dauer
nicht lösbare Aufgabe gestellt. Der cherubinische Wan-
dersmann zeigt darum eine doppelte Zwiespältigkeit.
Einmal die zwischen der die Grundanschauung abgebenden
überkonfessionellen, ja überchristlichen spekulativen
Mystik, die von den kühnsten Gedanken und
Bildern Eckhards und Weigels sich nährt und Christus
nur als Gleichnis mystischer Gottförmigkeit gelten läßt,
und einer vor allem im dritten Buch einströmenden
mystischen Betrachtung der äußeren Heilstatsachen wie
einer mystischen Jesusliebe. Sodann die zwischen der
Kühnheit, mit der das höchste Erlebnis mystischer Abgeschiedenheit
ergriffen und gedeutet wird, und der
Unruhe des eigenen Herzens, die nach dem Frieden dieser
übergeistigen gestaltlosen Mystik sich mehr sehnen
als in ihm leben kann. Gerade dies, daß eine noch nicht
über ihren eignen Weg entschiedene und mehr nach
Einkehr in Gott sich sehnende als in ihr vollendete
Seele das Buch geschrieben hat, erklärt — neben der
gedanklichen und poetischen Kunst, mit der altes Gut
neu geformt wurde — die tiefe Wirkung des Buchs.

Der Cherubinische Wandersmann ist der Hauptmasse
nach noch in Öls entstanden (1651/52), hart vor
der Grenze seines Bruchs mit dem Luthertum, den
E. nachweist als durch den Überkonfessionalismus der
schlesischen mystischen Kreise vorbereitet, durch eine
zufällige üble Zensurerfahrung mit dem Ölsischen Hofprediger
Freitag ausgelöst, aber letztlich doch bedingt
durch die Unmöglichkeit, ohne äußeren und inneren Halt
an einer Kirche mit bestimmten, Phantasie und Wille in
Anspruch nehmenden Frömmigkeitsformen Ruhe zu finden
. Die „heilige Seelenlust", 1653—57, also in
den ersten Jahren nach der Konversion, entstanden, zeigt
die Abwendung von jener hohen Mystik zur in den
katholisch-kirchlichen Rahmen sich fügenden bernhardi-
nischen Jesusliebe, die in den Ausdrucksformen der damaligen
barocken Liebespoesie das ihr gemäße Gewand
findet. Noch handelt es sich um ein poetisch hochbe-
deutendes Werk (nach E.'s hier wohl etwas überschätzendem
Urteil ist es das entscheidende Vorbild aller
geistlichen Dichtung des Pietismus); noch hat Sch. sich
dem Katholizismus nicht mit Haut und Haar verschrieben
, noch haben Christen aller Bekenntnisse von seiner
Dichtung Gewinn. Aber der Abstieg hat begonnen. Das
übrige Leben zeigt dann äußerlich die Entwicklung zu
dem gehässigen Kontroversschriftsteller und Vorkämpfer
der schlesischen Gegenreformation, innerlich den Untergang
in zugleich sinnlich-veräußerlichter und starr dogmatischer
Frömmigkeit; nur darin, daß er in der Ausmalung
der Himmelslust und Höllenqual in kaum noch
normal zu nennender Weise schwelgt, kann sich die ehemalige
große Begabung noch verraten. Er verdirbt sich
seinen cherubinischen Wandersmann durch die Hin/ii-
fügung des sechsten Buches, er verbrennt alle nicht

korrekt katholischen mystischen Bücher in seiner eignen
Bibliothek, er fälscht das Bild seiner eigenen Vergangenheit
um, er setzt alle seine Kraft in Bewegung,
um eine blutige Ausrottung des schlesischen Luthertums
durch die Habsburger zu erreichen. „Niemand ist weis'
in Gott als ein katholischer Christ."

Diese Skizze zeigt die nüchterne Wahrhaftigkeit, mit

| der E. trotz aller Liebe seinem Helden gegenübersteht,
und die ungemeine Feinsinnigkeit, mit der hier die
Wandlungen einer wunderlichen Seele bis ins Letzte
nachgefühlt sind. Auch ein evangelischer Theolog hätte
nicht ernster die Grenzen an Scn.s persönlicher Frömmigkeit
auf seinem mystischen Höhepunkte, nicht unbarmherziger
die religiös wie poetisch verheerende Wirkung
der Konversion auf Sch. herausarbeiten können.
Gerade wegen der klaren an Spinoza gemahnenden
Kühle, mit der E. einen überkonfessionellen Standpunkt

i behauptet, kommt das nun bei E. doppelt stark heraus.
Was aber meine Skizze nicht zeigen kann, ist die Sorg-

I falt und Umsicht, von der das Werk im einzelnen zeugt.

1 Alle für Sch. wichtigeren Verhältnisse und Persönlichkeiter
. sind ausführlich und genau gezeichnet; das Buch
greift an ungezählten Punkten lehrreich in die Geistes-

I und Frömmigkeitsgeschichte des 17. Jahrhunderts ein;
es bringt auch alle Einzel- und Kleinfragen der Sch.-
Forschung — z. B. auch die hinsichtlich der Prozession
, wo E. die hergebrachte Meinung korrigiert —
zur Entscheidung. Nur an einem Punkte verläßt E.
der Geist der Besonnenheit und Billigkeit: hinsichtlich
der inneren Kraft und Lebendigkeit des lutherischen
Kirchenwesens im 17. Jahrhundert sieht er ganz durch
die Brille jener mit dem Luthertum sich spannenden
Mystiker und trägt so das Seine bei, die Mär von der
toten öden lutherischen Orthodoxie fortzupflanzen. Aber
das wird man angesichts dessen, daß uns damit nur
frühere Fehler unsrer eignen Kirchengeschichtsschrei-

] bung heimkommen, dem Verf. eines so trefflichen und

| ernsten Buches, in dem die Frucht jahrzehntelanger
Arbeit steckt, gern zu gute halten.

Göttingen. E. Hirsch.

Schrempf, Christoph: Sören Kierkegaard. Eine Biographie.

Bd. I. 1. u. 2. Tsd. Jena: E. Diederiehs 1027. (XVI, 354 S.) 8°.

Rm. 7.50; geb. 10—.
Es versteht sich für den, der Schrempf's Art, Kierkegaard
zu übersetzen und zu benachworten, nachgeprüft
; hat, von selbst, daß eine Biographie im gewöhnlichen
Sinne von Sehr, nicht geboten wird. Wer Kierkegaard
I erst kennen und verstehen lernen will, sei vor Sehr.'s
: Buche gewarnt. Es setzt eine vollständige Kenntnis der
Schriften und eigentlich ^tuch der Tagebücher voraus, es
ist in schwierigen Fragen der Kierkegaardforschung
nicht tip to date, es handelt überhaupt nicht von Kierkegaard
, sondern von Schr.s Verhältnis zu Kierkegaard.
Noch besser: es ist eine Sammlung von — nicht allzu
1 freundlichen — Zensuren, die Sehr. Kierkegaard wegen
| seiner Schriften und seiner Lebensführung erteilt. Ich
! gebe als Probe die Schlußnote über „Furcht und Zit-
i fern" (S. 98): „Diese ebenso stimmungsvolle wie gedankenreiche
, dadurch immer an- und oft auch auf-
i regende, aber gänzlich unbefriedigende Schrift". An
j manchen Stellen habe ich mich gefragt, ob Sehr, nicht
i Kierkegaard in der indirekten Mitteilung noch habe übertrumpfen
wollen und den Leser durch ein mit Kunst ein
i wenig schulmeisterliches Aburteilen über Kierkegaard
: zum Widerspruch auch gegen sich und damit zur wah-
! ren Selbsttätigkeit habe reizen wollen. Ich fürchte aber,
j seine Mitteilung ist direkt.

Ein Beispiel. Sehr, prüft S. 292f. die sog. lange Beichtrede über
die „Reinheit des Herzens" (welche von Ed. Geismar bei Kaiser
München deutsch herausgegeben worden ist) auf ihre erbauliche Wirkung
auf ihn selber hin und kommt zu dem Schlüsse: „Die Wirkung
dieser Rede auf mich erschöpft sich also in der Vertiefung der Einsicht
, daß ich ein reines Herz nicht habe: aber davon bin ich schlecht
erbaut." Wenn das von einem Schelm gesagt worden wäre, der
wüßte 1., daß Kierkegaard gerade die von Sehr, angegebene Wirkung