Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1927 Nr. 19

Spalte:

452-453

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Gerhard

Titel/Untertitel:

Das religiöse Erkennen. Untersuchung über Bedeutung und Grenzen der religiösen Begriffsbildung 1927

Rezensent:

Winkler, Robert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

451

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 19.

452

und der „historischen" Linie, wo Kant Anschluß an die
historischen Formen sucht, die hauptsächlich auf eine
rationalistische Weise aufgefaßt werden. Das abschliessende
Kapitel behandelt Kants Auffassung vom Verhältnis
zwischen Kirche und Staat, und hier meint der
Verf. eine Spannung aufweisen zu können zwischen einer
naturrechtlichen Linie, wo die Macht des Staats über
die Kirche selbstverständlich ist, und der Auffassung
von der Kirche als einer moralischen Gemeinschaft,
von der aus der Gegensatz zum Staat reduziert wird,
aber nur um den Preis, daß das Moralische den Zusammenhang
mit dem Empirischen verliert und zu etwas
rein Transzendentem sublimiert wird.

Von einer eingehenderen kritischen Behandlung der
kantischen Gedankengänge steht der Verf. ab. Die eigentliche
Motivierung der Untersuchung wird mit Kants
Worten in Über den Gemeinspruch angegeben:
„Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt
auch für die Praxis." Der Verf. behauptet, dieser Satz
könne umgekehrt werden, so daß wenn etwas sich im
praktischen Leben als falsch erweist, dieses vielleicht
auf falsche prinzipielle Voraussetzungen zurückgeführt
werden kann. Der Verf. beruft sich auf Troeltschs Urteil
in „Das Historische in Kants Religionsphilosophie",
daß Kant in der Religion „vor allem die praktische Anwendung
seiner Theorie auf das Landeskirchentum"
beabsichtige, und macht im Anschluß daran geltend,
daß eine Untersuchung von Kants Stellung zu den kirchlichen
Problemen seiner Zeit indirekt auch für die Beurteilung
von Kants Religionsphilosophie als solcher
Bedeutung hat. Aber der Verf. ist sehr zurückhaltend,
wenn es gilt die Folgen der Analyse in dieser Richtung
auszuziehen.

Abo. T. Bohl in.

Chang, w. S.: The Development, Significance and some
Limitations of Hegel's Ethical Teaclüng. Published imder the
auspices of the China Society of Arts and Science. Shanghai
(China): The Commercial Press 1925. (XI, 137 S.) 8».

Der Verf., Prof. der Philosophie an der National-
Universität zu Peking, hat sich mit diesem Buche in
Oxford den Doktor geholt. Er dürfte der erste Chinese
sein, der über Hegel geschrieben hat. Grundlage seiner
Arbeit sind die Schriften Hegels von dem Aufsatz über
die Behandlungsarten des Naturrechts an bis zur Philosophie
des Rechts; sonst benutzt sind Kuno Fischer
und die englische Hegelliteratur. Hegel selbst ist im
deutschen Original benutzt, im Anschluß an die englischen
Übersetzungen zitiert.

S. 1—71 (Kap. 1—5) enthalten Inhaltsangaben der einzelnen
Schriften Hegels, soweit sie die Ethik behandeln; sie sind korrekt,
ohne Deutschen eigentlich Neues zu bieten. S. 72—137 enthalten die
geistige Verarbeitung. Kap. 6 (S. 76—90) gibt eine allgemeine Charakteristik
, welche vor allem die Oleichsetzung des Wirklichen und
des Sittlichen (Vernünftigen), den Intellektualismus, sowie die dialektische
Bewegung hervorhebt und aus den Zusammenhängen des
Systems sowie aus der Zeitlage begründet. Kap. 7—9 (S. 91 —137)
gehen zur Kritik über. Kap. 7 lobt die Durchdringung der Ethik
mit allen konkreten Problemen des sozialen Lebens, sowie die Her-
ausarbeitung des Nationalstaats als konkreter sittlicher Norm; tadelt
jedoch, daß Hegel der sokratischen Freiheit des Individuums im
Widerspruch mit seinen eignen grundsätzlichen Einsichten nicht ganz
gerecht geworden sei, und daß er, auch im schlechten, partikularen
Sinne Nationalist, das gleiche Recht aller Völker zugunsten des Deutschen
verletzt habe (dieser letzte Vorwurf ist aus einem Mißverständnis
der Hegelischen Theorie von den Weltvölkern erwachsen).
Kap. 8 erkennt eine metaphysische Fundierung der Ethik an, lehnt
aber die bei Hegel insbesondre gegebene ab, indem es in Weiterführung
von Gedanken Croze's den Unterschied der metaphysischen
und der ethischen Dialektik herausarbeitet. Auf dem Gebiet des
Ethischen, wo es sich um innerlich homogene, konkrete und nur
relativ entgegengesetzte Begriffe handelt, hat ihn Hegels Methode
überzeugt; auf dem metaphysischen, wo innerliche und äußerliche,
also ganz disparate Begriffe in einer den Widerspruch in sich schließenden
Abstraktheit aufeinanderstoßen, nicht. Kap. 9, das Einzeleinwände
enthält, macht eigentümlich chinesische Gesichtspunkte geltend; die
Familie ist von Hegel — ebenso wie sonst vom Europäer — mißverstanden
. Sie umfaßt nicht zwei Generationen, sondern soviele, als
bei Lebzeiten des Familienhaupts entstehen, d. h. mindestens drei,

manchmal aber auch fünf. Sie steht mit dem Staate auf gleicher
Stufe des Bewußtseins (nicht, wie Hegel will, auf niederer), und
ist eine allein durch den Tod des Familienhaupts lösbare rechtliche
und wirtschaftliche Einheit.

Göttingen. E. Hirsch.

j Lehmann, Dr. Gerhard: Das religiöse Erkennen. Untersuchung
über Bedeutung und Grenzen der religiösen Begriffsbildung
. Karlsruhe: G. 'Braun 1926. (VII, 89 S.) 8°. = Wissen
und Wirken, Bd. 37. Rm. 1.80.

Das vorlogische Denken macht im Interesse des
bewußt handelnden Lebewesens die Grundannahme eines
I c h und einer Welt. Gegen diese Grundannahme
richtet sich der Zweifel des von den Lebensinteressen
| losgelösten eigengesetzlichen oder logischen Denkens.
| Bei der Abwehr dieses Zweifels werden Ich und Welt
j durch das vorlogische Denken zu schöpferischen meta-
J physischen Wesenheiten erhöht (S. 29). So wird das
I vorlogische Denken zur Metaphysik weitergetrieben, einer
j Metaphysik, die das eigengesetzliche logische Denken
I nicht gelten lassen darf. Das Leben verlangt aber nach
einer Aufhebung des für es unerträglichen Spannungszustandes
zwischen vorlogischem, „interessiertem" und
logischem, „exaktem" Denken (S. 29). Er wäre auf-
i gehoben, wenn sich in dem schöpferischen Selbst und
dem Weltgrunde ein und dasselbe schöpferische Grundwesen
ausspräche (S. 27). Dieses Urwesen kann weder
vom interessierten noch vom kritischen Denken erdacht
werden (S. 28). Das bewußte Lebewesen, die Person
kann es nur hinnehmen. Diese Art des Hinnehmens
ist die Offenbarung (S. 28). Es ist die Religion,
die auf eine Versöhnung der vorlogischen Annahmen
und der logischen Begriffe gerichtet ist (S. 79). Die
| Religion ist der einzige Weg, den das Einzelwesen
beschreiten kann, wenn es die „Grundannahmen" retten
will, ohne die Denkgesetze preiszugeben (S. 73 u. ä.
62, 63, 71). Ohne äri der Geschlossenheit des Gedankenganges
etwas aussetzen zu können, läßt doch den Theologen
dabei, wie bei jedem derartigen Versuch, zu bestimmen
, was Religion ist, ohne die Religion selbst zu
befragen, ein unbehaglicher Zweifel nicht los, ob denn
das so bestimmte nun auch wirklich Religion ist. Im
Unterschied zum Theologen, der von vorherein seinen
| Standpunkt innerhalb der Religion einnimmt, muß der
| Religionsphilosoph natürlich seinen Standpunkt außerhalb
ihrer, ihr gegenüber wählen. Aber trotzdem wird
er nicht umhin können, zunächst einmal die Religion
{ selber reden zu lassen, bevor er urteilt.

Im Rahmen des eben gekennzeichneten Hauptge-
I dankenganges, der die ganze Schrift durchzieht, wird
die Frage nach dem Erkenntnischarakter des religiösen
Erlebens aufgeworfen. Was die Mystik als unmittelbares
Erlebnis ansieht, nämlich die Einheit des Individuums
mit Gott, das wird durch die Offenbarung zum Glaubensgegenstand
, insofern als diese Einheit in der Person
eines Mittlers anschaulich erkannt werden kann (S. 45).
Die erlebte Einheit wird vergegenständlicht und dadurch
erkannte Einheit. Aber nun darf freilich diese
Vergegenständlichung nicht voll durchgeführt werden
(S. 47). Gott wird als Du erlebt, ohne als Du
bestimmt (das heißt doch wohl erkannt) werden
zu können (S. 63). Gott als reines Objekt wird abgelehnt
(S. 74). Deshalb tragen die Glaubensgegenstände
einen ausgesprochen symbolischen Charakter (S.
74). Durch das Existenzialurteil: „Gott ist", um das
I die Religion nicht herumkommt, werden aber die Grenzen
des symbolhaften Erkennens wieder übersprungen
(S. 60). Wenn Gottes Eigenschaften alle nur Bilder
j sind, dann ist der Begriff der Offenbarung ebenso auf-
1 gehoben, als wenn Gott ganz und gar vom religiösen
Subjekt ergriffen werden kann (S. 43). Daher mu(5 sich
aus dem bildhaften Symbol auf eigentliche religiöse
Erkenntnis rückschließen lassen (S. 84). Der Lösung
des Problems der religiösen Erkenntnis kommt der
Verf. mit der Einsicht am nächsten, daß für die Religion
in der Offenbarung Erfahren und Erkennen zu-