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Ausgabe:

1927 Nr. 14

Spalte:

332-334

Autor/Hrsg.:

Weiss, Victor

Titel/Untertitel:

Die Heilslehre der Christian Science (christliche Wissenschaft). Darstellung und Kritik 1927

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 14.

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vielfarbigen Literaturwissenschaft wohlvertraut ist und sie alle, auch weitere Folge seiner romanhaft-historischen Darstellungen (S. 44ff.);
die von ihm mit scharfem Tadel bedachte Wortkunstlehre, an ihrem im teilweisen Anschluß an Küchlers Buch (vgl. Th. L.Ztg. 1923,
Orte mit schönem Erfolge verwendet, nimmt doch von Anfang an S. 183), gibt KL eine eindringliche Analyse der eigentümlichen
seine besondere Stellung ein, die sich in der Gesamtanlage des Werkes , Schichtung dieser problematischen Persönlichkeit: Ineinander von „nack-
(und schon in den Sondertiteln der beiden vorliegenden Teile) deutlich ter Wissenschaftlichkeit" und „inniger Dichtung"; Auffassung Jesu
ausprägt. In einer Zeit, welche die Individualität des Künstlers wie im Lichte des Fanatismus, der entweder als entstellender Geistesseine
Umwelt gern zurückdrängen will, um das „Werk" nur aus ' kämpf oder als heroische Überspannung aufgefaßt werden kann:
sich heraus zu erklären, steht Klemperer in jeder Hinsicht für einen ! ,,R. spielt mit beiden Auffassungen; fast ein wenig feminin, nach
kräftigen Individualismus ein. ! Art einer Frau, die Gewaltsamkeit fürchtet und gern mag"; hier ist
Seine ganze Darstellung zeugt davon, in subjektiver und objek- i „raffinierter Genuß und hinter der empfundensten Träne noch viel-
tiver Hinsicht. Immer wieder durchbricht die Persönlichkeit des Er- ; deutiges Spiel!; kein ehrlicher antiklerikaler Kampfgeist: Er hat
Zählers die „epische Distanz" und fährt mit einer fast dramatischen : ein liebevolles Verstehen und ein mitleidiges Achselzucken an die
Teilnahme dazwischen, gegen wissenschaftliche und Laienvorurteile Stelle der Befehdung gesetzt"); über Flauberts Artistik (als
polemisierend, eigene Bewertungen kräftig vertretend und mit allge- Religionsersatz, „Anklammerung an das Unendliche", S. 67ff.);
meineren Erwägungen unterbauend oder auf einen weiteren Horizont über die Brüder Goncourt (besonders S. 106 über Madame Gerhinweisend
, von woher die Dinge eine bestimmte Beleuchtung empfan- vaisais). („Es ist kaum ein antiklerikaleres Werk in Frankreich gegen
. Darin beruht der eigentümlich fesselnde, ja prickelnde Reiz der schrieben worden und sicherlich nicht ein ungerechteres, da alle
Darstellung, der freilich eine ruhig abwägende, eigentlich Wissenschaft- psychologische Exaktheit einzig der verderblichen Wirkung des Katho-
liche Stimmung bei dem Leser nicht durchweg aufkommen läßt oder ; 'izismus auf eine durchaus kranke und zur unverzerrten Aufnahme
sie doch nicht festzuhalten weiß. Dies Werk ist jedenfalls nicht der Heilslehre unfähige Frau gilt, und da das Wesentliche dieser
von seinem Verfasser abgelöst! Aber es ist keine spielerische oder ; Heilslehre überall beiseite geschoben wird"); über Zolas eigen-
sich selbst bespiegelnde Individualität in der Art impressionistischer tümliche Naturreligion, besonders in „La Terre" (S. 116ff.; über
Literaturbetrachtung, die da zu uns spricht, sondern eine Persönlichkeit, Z°'as Verhältnis zu Taine; wie dieser schwebt Z. „zwischen Wisscn-
bei der die literaturwissenschaftlichen Fragen immer wieder an den scnaft llnd Dichtung, zwischen Positivismus und Romantik; nur daß
Wesensgrund des Menschen rühren und von daher belebt und durch- 'hm alles grobkörniger und man möchte beinahe sagen: dümmer,
flutet werden. Ahnliches gilt nun von dem Bilde der Literatur, das daß es aber auch gewaltiger, glühender, dichterischer ist" (S.117f.);
Kl. vor uns entrollt. Auch hier stehen im Vordergrunde die „Männer, I „immer beginnt er bei Auguste Comte und endet bei Victor Hugo,
welche die Geschichte machen". Bedeutsamerweise leitet eine geist- i Aber ei" Romantiker ist er deshalb doch nicht; denn immer ist seine
reiche Betrachtung über „Bonaparte und Napoleon" und eine sehr Gottheit die Science und sein Paradies ein irdisches (S. 126); über
eigene Erfassung V. Hugos den ersten, eine liebevoll hingebende Dar- die antiklerikale Romandreiheit Lourdes, Rome und Paris S. 130ff.;
Stellung von Taine und eine scharf zufassende Kritik von Renan den ' über Lecomte de Lisles mystisches Verhältnis zur Kunst: „Sie
zweiten Band des Werkes ein. Und auch der große Korse ist in diesem wird ihm als eine geheimnisvoll über das Nichts triumphierende
Zusammenhang nicht zunächst der Völkerbesieger und Machtmensch Gottheit gewiß" (S. 221); über Sully Prudhomme „Er hat
(wenn auch der reinste Vertreter des „staatlichen" Prinzips), sondern Gott-Sehnsucht, aber keinen Glauben" 232f.).

der Hüter der „Tradition", der auch seine eigene Erscheinung an Ge- Die kurzen Bemerkungen, die wir ausheben, wollen aus dem
gebenes anknüpfen will und damit in die Geschichte des französischen i Zusammenhange der oft glänzenden, überraschenden, immer selb-
Geisteslebens hineindringt. Geistige Mächte sind es, die auch in der ständigen Charakteristiken verstanden sein, die Kl. mit wachsender
literarischen Entwicklung sich auswirken; KL sieht in der Literatur- Meisterschaft vor uns aufbaut. Der warme persönliche Anteil, der
geschichte eben die „Geschichte nationaler Ideale". Auch in der aus Bejahung und Verneinung, aus ästhetischer Wertung und wissenweiteren
Darstellung läßt er immer wieder die einzelnen Persönlich- i schaftlichcr Auseinandersetzung zu uns spricht, gibt seinem Buche
keiten hervortreten, nicht die Gruppen und nicht die einzelnen Werke, i einen gewissen Bekenntnischarakter. Ihm zu liebe nehmen wir man-
obwohl unter dem Gesichtspunkt der führenden Geister alles irgend- ' chcs Polemische mit in Kauf und lassen uns schließlich eine An-
wie zu seinem Rechte kommt. Aber auch hier treten biologische oder 1 Ordnung und ein Ausmaß in der Behandlung einzelner Autoren gesoziale
literarische Erwägungen zurück, so sehr sie im einzelnen, '< fallcn> wogegen die engeren Fachgenossen des Verf.s ihre Einwende
jene etwa bei Th. Gautier und P. Merimee, diese bei E. Sue zur i erheben mögen — zumal es ja an „Lehrbüchern" über den Gegen-
Geltung kommen und z.T. zu sehr scharfen Umwertungen der bis- stand nicht fehlt, Werke dieser Art „aus einem Gusse" aber recht
herigen Rangabstufung verwendet werden. Das Maßgebliche für selten sind.

die Einordnung, Charakteristik und Bewertung ist immer die geistige Hamburg. R. Petsch.
Haltung der einzelnen Autoren letzten Wertsetzungen gegenüber.

Damit gewinnt KL's Darstellung ganz besonderen Wert und Reiz Heilslehre der Christian Science (christliche

ur d.e Leser dieser Zeitschrift. Schon bei der Behandlung Napo- ; Wissenschaft). Daretellun(, u. Kritik. Gotha: L. Klotz 1927.
leons und weiterhin der ganzen Romantik wird die außerordentliche ,,„,, -/ „. n ,

_ . .. , ..... 6.. ... , , j c (VIII, 196 S.) 8°. Rm. 6—.

Bedeutung des religiösen Moments für die Entwicklung der franzo- . n i '

sischen Dichtung klar, die Kl. denn auch im 2. Bande an ihrem ! H O 1 l's Studie „Der Scientismus" (Berlin 1917,

Orte jeweils kräftig hervorhebt. Als erster bestimmt er das eigen- -1918), VOI1 R. Otto in einer sachlich bedeutungsvollen
tümliche Verhältnis beider Mächte in dem nachrevolutionären Frank- Besprechung Th. L. Z. 1918 Sp. 14f. als „schlechthin das

reich mit erwünschter Deutlichkeit; hier heißt romantisch: liberal , Beste" Über den Scientismus bezeichnet, hat sich mit

und Katholizismus: klassische Form. Vor allem arbeitet KL die engen | ejne_ sebr knappen Skizze der Lehre der Christian
Beziehungen zwischen Religion und Politik heraus, die in Frankreich Science begnügt und für ihren Ursprung wohl auf das
von jeher bestanden haben und bis auf den heutigen Tag irgendwie • Frieren der Entdeckerin den Einschult miflke-

fortbestehen. „11 n'y a que la religion qui entende politique", schreibt eigene trienen aer nniuecKU in, uen ninscnui) quajce-
Bonald. „Alle französische Religion .versteht Politik-, die dogmatisch- r'scher Ideen und eine gewisse Verwandtschaft mit Emer-
katholische wie die roman tische, und in der politischen Religion kann son hingewiesen, aber auf eine umfassende Schilderung
man sich immer wieder treffen, woher man auch seinen Ausgangs- der amerikanischen Umwelt, aus der heraus der Ur-

punkt nehme, und wie verschiedenartig man auch im Kern seines > Sprung erfaßt werden müßte, verzichtet. Die vorliegende
Wesens sei'- (Bd. i, 101). Studie nützt den damit gegebenen Raum aus zu einer

Im einzelnen seien die Leser dieser Blätter noch auf Folgendes Einzeldarstellung der Lehre lind ZU einer um-
hingewiesen. Aus dem ersten Bande: Über Napoleons Be- fassenden Besprechung der Originalität
Ziehungen zur katholischen Kirche (Bd. i, S. 7f.); ästhetisch-schwär- der Christian Science. Sie greift damit in der Tat offen
merische Verherrlichung christUcher Dichtting bei der von Hause aus gebliebene wissenschaftliche Aufgaben an. Und tut
aufgek^ | -t bcachtenswertem Fleiße. Verf. hat nicht nur

halten zum Christentum bei Chateaubriand („Reizmittel, wie „ . , ,, ... / j„ . JZ , ,, . ,

exotische Narcotica für Baudelaire und Rimbaud", „dem Christen- 1 Science and Health (das seine Hauptquelk ist), sondern

tum oder dem Katholizismus schlechthin und der Erweckung wahrer ! auch die Übrigen Schritten der Frau Eddy grundlich geReligion
steht er meilenfern"; „Staat und Himmel, Politik und Reü- lesen. Es fragt sich, welches der Gewinn seiner
gion fließen ihm in eins zusammen"; S. 78ff.); über V. Hugos anti- Bemühungen ist.

thetische Auffassung („das Christentum als die ReKgion, die zum Ich greife als Beispiel den Gottesbegriff, a) Die Christian

Körper die Seele entdeckt und damit Spaltung, Friedlosigkeit, Sehn- Science wendet den Begriff Person auf Gott nur an, indem sie
sucht und Melancholie in die Welt und in die Kunst einführt", S.120); das Endliche und Ungeistige, das diesem Begriffe im gewöhnlichen
über Baudelaires unbedingte Artistik („L'art pour la religion. Sprachgebrauch anhaftet, ausschließt. Sie kennt also (Science and
Nicht um der Kunst, sondern um der Religion willen, anstelle der Health S. 116) einen doppelten Begriff von Person, einen niederen

Religion ist die Kunst für B. da." S. 283). 1 und einen höheren; nur der höhere gilt von Gott, er aber auch im
Aus dem 2. Bande: über Comtes formalen Anschluß an ganzen Ernst. Die Sache ist trotz formeller Unausgeglichenheit
den katholischen Ritus (S. 3); über Ren ans Vie de Jesus und die einiger Äußerungen ganz eindeutig und ziemlich einfach darzustellen.