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Ausgabe:

1927 Nr. 14

Spalte:

315-316

Autor/Hrsg.:

Lurje, M.

Titel/Untertitel:

Studien zur Geschichte der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im israelitisch-jüdischen Reiche von der Einwanderung in Kanaan bis zum babylonischen Exil 1927

Rezensent:

Baumgartner, Walter

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315

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 14.

316

An der neuerdings lebhaft bestrittenen Gleichsetzung des
Deuteronomiums oder eines Kerns von ihm mit dem der
Reform Josias von 621 v. Chr. zugrunde gelegten Gesetzbuch
hält der Verf. fest, aber er weicht — außer
anderen Besonderheiten — von der communis opinio
insofern ab, als er das Deut, nicht aus prophetischen
Kreisen herleitet, auch nicht als Ergebnis eines zwischen
Propheten und Priestern geschlossenen Kompromisses
oder als Programmschrift der Jerusalemischen Priesterschaft
ansieht, sondern es als Niederschlag der in der
Landpriesterschaft lebendigen religiösen Ideale
betrachtet. Diese Auffassung hängt zusammen mit einer,
an mehreren Stellen der Schrift erkennbaren, Gesamtbetrachtung
der Geschichte des isr.-jüd. Priestertums und
seiner Bedeutung für den Werdegang der isr.-jüd. Religion
.

Eine endgiltige Beurteilung der vorliegenden Schrift
wird man zurückstellen müssen, bis das in Aussicht gestellte
größere Buch vorliegt. Denn einiges, was jetzt
nur angedeutet wird und darum, wenigstens in seiner
Tragweite, nicht völlig verstanden werden kann, wird
erst dann ganz zu werten sein. Auf Prüfung und Erörterung
seiner, nicht ganz neuen, aber neu begründeten
These hat der Verf. schon jetzt Anspruch. Denn
seine Schrift zeugt von seiner Vertrautheit mit den
großen Problemen der isr.-jüd. Geistesgeschichte und
von seinen Fähigkeiten, Einzelheiten neu und richtig zu
sehen. Was das letztere angeht, so ist hier etwa zu
nennen die, wie mir scheint, beachtenswerte Zurückweisung
der landläufigen Meinung, 1. Sam. 13,7—14
sei ein spätes, midraschartiges Stück (S. 88), und

seine gute Korrektur von Deut. 18, 8 - (rVDKn"

[so!] Inhaltsangabe des folgenden Stücks [S. 92]). Der
anfechtbarste Teil des Buches scheint mir der Abschnitt
„Die Geschichte der levitischen Reformbewegung bis
622" (S. 72—95) zu sein, vor allem darum, weil hier
eine Reihe von älteren Hypothesen über die Levitenfrage
, die sehr anfechtbar sind und aus den Quellen neu
hätten begründet werden müssen, als gesichert vorausgesetzt
werden. Auch noch in einigen anderen Fällen
wäre dem Verf. zu raten, gegen Hypothesen anderer mißtrauisch
zu sein und lieber selbst die Quellen zu befragen
.

Halle (Saale). Otto Eißfeldt.

Lurje, Doz. Dr. phil. M.: Studien zur Geschichte der wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse im israelitischjüdischen
Reiche von der Einwanderung in Kanaan bis zum
babylonischen Exil. Gießen: A. Töpelmann 1927. (IV, 64 S.) gr.
8°. = Beihefte z. Zeitschr. f. d. altiestamentl. VVisscnsch. 45.

Rm. 3.40.

Diese Studien behandeln in 4 Kapiteln die Agrarverhältnisse
, die wirtschaftliche Entwicklung, die Staatsverfassung
und die sozialen Verhältnisse. Sie bringen
viel Interessantes und z. T. Neues: über die Entstehung
des Herrenbesitzes (S. 7ff.), die Wirtschaftsformen (S.
19ff.), königlichen Handel (S. 28 ff.), Ein- und Ausfuhr
(S. 32 ff.), die Einwohnerzahl der Städte (S. 35 ff.),
Steuern (S. 46), Proletariat (S. 49ff., gegenüber M.
Weber betont L., daß für das soziale Leben die Verhältnisse
auf dem Lande wichtiger waren als die in der
Stadt), Sklaverei (S. 51 ff., weniger ideal, als man sie
oft beurteilt), die Revolutionen und ihre Ursachen (S.
53 ff.), die soziale Gesetzgebung des Deuteronomiums (S.
60ff.). Man geht kaum fehl mit der Vermutung, daß die
Verhältnisse in Rußland dem Verf. den Blick geschärft
haben. Von seinem Standpunkt macht er kein Hehl,
geht ganz deutlich davon aus. Klassengegensätze und
-kämpfe sind scharf betont, der ganzen Arbeit ist ein
Satz aus dem kommunistischen Manifest als Motto vorangestellt
. Auch hinter der Reichstrennung sieht er mehr
soziale als politische Spannungen (S. 55 f.). Die sozialen
Gesetzesbestimmungen sind nicht aus freien Stücken von
oben gegeben, sondern von unten aus ertrotzt (S. 62).

Bezeichnend sind Sätze wie die folgenden: die Rechte,
die der hebräische Sklave sich errungen, gehen auf
Kosten ihrer landesfremden Klassengenossen (S. 53);
die humane Tendenz des Deut, gegenüber den Sklaven
hat ihre Triebkraft in der größeren Nachfrage auf dem
Arbeitsmarkt (S. 52). Dem Königtum wird zum Vorwurf
gemacht, daß es keine gemeinnützigen Bauten ausgeführt
und nichts für die Bildung des Volkes getan
habe (S. 46); und den Propheten, daß sie, in innerem
Widerspruch zu ihrer eigenen Predigt, keine andere
Staatsordnung forderten und eine Herrschaft des Proletariats
für das größte Unglück hielten (S. 59).

Der Standpunkt, der hier überall zum Ausdruck
kommt, ist genau so berechtigt und genau so subjektiv
wie irgend ein anderer moderner, und seine Einseitig-
| keit ist nicht schwer zu erweisen. Es fragt sich nur, ob
er nicht gerade in seiner Einseitigkeit das Verständnis

■ des Alten Testaments zu fördern vermag, indem er manches
sieht, was bis dahin nicht oder nicht genügend gesehen
wurde. Und das scheint mir tatsächlich der Fall

' zu sein, wenn auch genaue Nachprüfung unerläßlich ist.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse Altisraels sind trotz
Buhl, Lohr, Max Weber u. a. vielfach noch so wenig
geklärt, daß man für jede ernsthafte Untersuchung auf
diesem Gebiete dankbar sein muß. Es ist sehr erfreulich,
daß in Rußland wieder so tüchtige wissenschaftliche
Arbeit geleistet wird. Auch mit der wichtigsten Fachliteratur
zeigt sich der Verf. im allgemeinen vertraut.
Öfter freilich will er aus einzelnen Stellen weitergehende
Schlüsse ziehen, als mir angängig erscheint. Aus IL Kön.
18,26 ff. gehe hervor, wie man das Volk vom politischen
Leben auszuschalten versuchte (S. 42); aus II. Sam. 15,
2 ff., daß es mit der Rechtsprechung unter David übel
bestellt gewesen sei (S. 47). Wenn er aus den einschlägigen
Forderungen in Bundesbuch und Qeuteronomium
und den Scheltreden der Propheten den Schluß zieht,
daß Staat und Königtum auf allen sozialen Gebieten

j versagt hätten (S. 48), so sollten um der Gerechtigkeit

■ willen die immerhin auch nicht ganz fehlenden Belege
für das Gegenteil wie II. Sam. 14,2 ff., II. Kön. 8,3 ff.
nicht unerwähnt bleiben. Und aus den modernen Verhältnissen
, in Rußland wie anderwärts, wäre zu lernen,
daß keine Verfassung und Verwaltung alle Übelstände

i und Mißgriffe gänzlich ausscheiden kann. Daß man überhaupt
aber nicht einfach von irgendwelchen modernen
i Verhältnissen oder Theorien aus an die israelitischen
i Wirtschaftsproblemc herantreten kann, sondern daß sich
! diese nur im Rahmen der gesamten hebräischen Kultur
namentlich auch der hebräischen Denkweise und Psychologie
wirklich verstehen lassen, erhellt am besten aus
Pedersens schönem Buche, das jetzt in englischer Übersetzung
leichter zugänglich geworden ist: Israel, its Life
and Culture (1926).

Auch im einzelnen läßt sich mancherlei aussetzen: Daß im
Deboralied nicht Debora redet (S. 1), sollte heute bekannt sein. Hos.
5,10 spricht nur vergleichsweise vom Grenzverrücken, vgl. Jes. 5,8
(gegen S. 4). 1. Sam. 10,23 soll nicht auf die physische Größe
Sauls gehen (S. 11), I. Sam. 17,12 ff. Davids Zugehörigkeit zu einer
vornehmen Familie erweisen (S. 12), die Bezeichnung Palästinas als
Land voll Milch und Honig aus einer Zeit stammen, wo man im Be-
! griff war das Land zu verlassen und daher alles im hellsten Licht
erschien (S. 14). Daß Salomos Bezirkseinteilung die alten Stammes-
grenzen bewußt ignorierte (S. 44), hat Alt längst widerlegt. Die
Leute, die sich David in seinem Freibeuterleben anschließen [. Sam.
22,2 sind nicht „Landproletariat" (S. 49), sondern entsprechen genau
den „Ächtern" der germanischen und isländischen Verhältnisse. — Ein
arger Mißgriff ist es, im Sabbat einen ursprünglichen Arbeitsruhetag
! für Sklaven usw. zu sehen, der erst hinterher zu einem heiligen
Jahwetag geworden sei (S. 62f.), statt umgekehrt: Ex 34,21 hat
das „Du sollst ruhen" nicht humane, sondern gleich der ganzen
Umgebung sakrale Bedeutung, wie ja auch der Hausvater angeredet
und vom Sklaven überhaupt nicht die Rede ist; demgegenüber ist
23,12 gerade so jünger wie Dt. 5,12 ff. gegenüber Ex. 20,8 ff. —
Seltsam ist die Umschrift hebräischer Wörter: Zkenim, Baalej,
Giborej, einmal (S. 9) sogar Gborej.

Marburg. W. Baumgartner.