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Ausgabe:

1927 Nr. 13

Spalte:

303-307

Autor/Hrsg.:

Heiler, Friedrich

Titel/Untertitel:

Evangelische Katholizität. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Bd. 1 1927

Rezensent:

Mulert, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 13.

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Verbindung mit den französischen Lutherfreunden bringen und langsam
in seine geschichtliche Rolle hineinwachsen lassen. Dieser Widerspruch
hat französische und deutsche Gelehrte schon oft beschäftigt. Erstere,
vor allem der Calvinbiograph Doumergue, haben sich vorzugsweise
an Beza und Colladon gehalten. Diesen „Konservativismus", wie er
den weitgehenden Anschluß an die alte reformierte Überlieferung getauft
, hat am entschiedensten Aug. Lang in seiner Schrift „Die Bekehrung
Joh. Calvins" (1879) bekämpft; er stellt dort Calvins plötzlichen
Gesinnungswechsel mit dem Durchbruch der lutherischen Rechtfertigungslehre
in eine Linie. Lang war jedoch mit einer solchen
Parallele vereinzelt geblieben. Karl Müller, der unter den deutschen
Forschern am schärfsten das ganze Material quellenkritisch geprüft
hat, kam zum entgegengesetzten Ergebnis, daß umgekehrt wie bei
Luther Calvins innere Erkenntnis und sein entscheidender Lebenswendepunkt
zeitlich nicht zusammengefallen sind, sondern jene diesem lange
vorausgegangen ist. So genau Müller alle Quellen und Tatsachen
untersuchte, blieben doch viele Rätsel übrig. Schon daß wir von Luther
vorreformaforische Bibelauslegungen besitzen, Calvin sich aber ursprünglich
auf ganz anderem Gebiete betätigte, erschwert den Vergleich
früherer und späterer Anschauungen. Außerdem sind wir über
Calvins Jugend weit schlechter unterrichtet. Die Folge ist, daß fast
jeder neue Fund oder selbst ein besseres zuverlässiges Herrichten
des alten Materials zu einer neuen Behandlung des reizvollen, aber
kaum je restlos lösbaren Problems reizt. Für Pannier hat vielleicht
die Neuausgabe des Senecakommentars von Prechac (1921) mit ihrer
Einleitung den Anstoß gegeben. Leider hat Pannier bei deren Benutzung
Prechacs chauvinistische Ergüsse berücksichtigt, welche in kein
wissenschaftliches Werk gehören, z. B. eine Parallele zwischen Neros Christenverfolgungen
und „den Kaisern, Sultanen und bolschewistischen
Gewalthabern, welche während der letzten Jahre in Belgien, Frankreich
, Armenien, Rußland so viele unschuldige Opfer ermordet haben
oder haben ermorden lassen". Aber es scheint, daß gerade diese
deplazierten zeitgeschichtlichen Anspielungen Pannier auf den methodischen
Gedanken geführt haben: enthält nicht Calvins Arbeit ähnliche
Nutzanwendungen Senecas auf das 15. Jahrh., und welche Schlüsse
lassen sich aus diesen Nutzanwendungen auf Calvins damalige Ansichten
ziehen?

Hiermit verknüpft Pannier noch eine weitere Idee. Er will den
Zeitpunkt des Erscheinens oder auch nur der Vollendung eines Werkes
nicht zur Datierung eines geistigen Entwicklungsstadiums des Verfassers
verwenden lassen, sondern betont, daß die ersten Beweggründe
und teilweise auch die Ausarbeitung erheblich früher liegen müssen. Ein
gewiß richtiger chronologisch-kritischer Gesichtspunkt, welcher indes
zu seiner fruchtbaren Verwertung ein zuverlässiges sonstiges autobiographisches
Material voraussetzt, mit welchem aber ohne ein solches
schwer zu operieren ist. Pannier kommt denn auch bei seinen Erörterungen
, wann die Gedankengänge des Senecakommentars entstanden
sind, über Wahrscheinlichkeiten nicht hinaus.

Es ist jedoch selbstverständlich, daß ein Forscher, welcher
in dieser Weise die ersten Keime langsam ausreifender literarischer
Tätigkeit zu entdecken strebt, in die Bahnen Bezas, Colladons und
neuerdings Doumergues zurücklenkt. Indem hierdurch die ältesten
Calvinbiographieen für Pannier an Bedeutung steigen, werden seine
eigenen Ausführungen streckenweise zu kritischen Nachprüfungen einzelner
Sätze Bezas und Colladons, namentlich auf chronologischer
Grundlage. Hierzu in einer Besprechung Stellung zu nehmen, würde
zu weit führen. Bemerkt sei nur, wie sich Pannier mit Calvins Selbstzeugnis
von 1557 abfindet: er will entweder das Wort „subita" in
subita conversio nicht als Adjektiv, sondern als Partizip gelten lassen,
also nicht mit plötzlichem Wechsel, sondern mit eingetretenem Wechsel
übersetzen, oder er möchte die subita conversio nicht im Sinne einer
einmaligen Tatsache, sondern einer nach längerem Vorstadium rasch
verlaufenen Entwicklung deuten. Solche Auslegungen werden kaum
durchdringen; aber manche andere Gedanken, z.B. das Hervorgehen von
Calvinschrifteu aus mündlichen Vorträgen, scheinen erwägenswert.
Freiburg i. Br. Gustav Wolf.

Heiler, Friedrich: Evangelische Katholizität. Gesammelte Aufsätze
u. Vorträge, Bd. 1. München: E. Reinhardt 1926. (351 S.)
S°. Rm. 5.50.

Gewidmet ist das Buch dem Andenken Döllingers, Schells,
Tyrrells, Eduard Herzogs und Friedrich von Hügels. Es enthält
folgende Aufsätze: 50 Jahre Altkatholizismus (aus der Christi.
Welt 1924, mit einer sympathischen Schilderung des Schweizer
christkatholischen Bischofs Herzog); die religiöse Einheit der Stockholmer
Konferenz (Christi. Welt 1925); die Weltkonferenz für
praktisches Christentum in Stockholm (Erweiterung und Zusammenfassung
von H.'s Berichten in den Münchener Neuesten Nachrichten);
evangelische Katholizität (aus H.'s 1920 erschienenem Buch „Das
Wesen des Katholizismus", das 1923 zu dem großen Werk „Der
Katholizismus" wurde); der Streit um evangelische Katholizität (Eiche
1926); evangelisches Hochkirchentum (Vortrag bei der Magdeburger
Tagung der hochkirchlichen Vereinigung, gedruckt in der Hochkirche
1926 und in Una saneta 1926); Wege zur Einheit der Kirche Christi

(erweiterte Marburger Vorlesung). Dieses letzte, 100 Seiten lange
; Stück ist anderwärts noch nicht gedruckt; aber auch die übrigen
Aufsätze werden manchem, der Interesse dafür hat, bisher nicht ganz
leicht zugänglich gewesen sein. Schon deshalb ist die Zusammenstellung
zu diesem Buche dankenswert.

Das Werk hat die Vorzüge, die man an H.'s Schrif-
| ten kennt; die Schreibweise ist klar und beredt, die Dar-
I Stellung nie schwerfällig gelehrt oder zu konzentriert,
( vielmehr oft ausführlicher, als für den Fachmann nötig
i wäre; aber das erleichtert dem Laien das Lesen. Hatte
! H. schon in seinen früheren Büchern gezeigt, daß er,
früher selbst Katholik, eine sehr viel genauere Kenntnis
| von römischem Wesen mitbringt, als die meisten prote-
j stantischen Theologen sie haben, und daß er auch die
morgenländischen Kirchen und das nordische Luthertum
liebevoll studiert, so beweist diese Schrift außerdem
Vertrautheit mit den von der anglikanischen Kirche
j ausgehenden Einigungsbestrebungen und deren mannigfachen
Schicksalen. Haben wir Deutschen im Kriege
: (und in der ersten Notzeit nachher) wenig von diesen
Dingen gehört, so sollen wir uns nun um so mehr darum
kümmern. Auch wer die Internationale kirchliche Zeitschrift
(Bern) und Siegmund-Schultzes Eiche liest, die
von solchen Bestrebungen am ausführlichsten berichten,
I wird bei H. manches Neue finden, anderes doch in neue
j Beleuchtung gerückt sehen. Erwecken diese gründlichen
I Kenntnisse Vertrauen, so erfüllt die Art, wie H. Einigung
oder doch Annäherung der verschiedenen Gruppen
I der Christenheit anstrebt, mit Sympathie; es ist ihm Ge-
| wissenssache, daß die biblischen Mahnungen zu Einheit
und Friede befolgt werden.

Einigung von Katholizismus und Protestantismus,
evangelische Katholizität anstrebend wird er zum Hoch-
kirchler. Oft treten Unions- wie hochkirchliche Tendenz
bei ihm sehr maßvoll auf. Will er nicht einfach zu
| gunsten der Einigung in life and work auf die in faith
and order verzichten, so weiß er doch, „daß heute und
| auf lange Zeit hinaus eine Einigung der katholisch und
protestantisch gesinnten Christen in Dogma und Kirchenordnung
ein Ding der Unmöglichkeit ist" (284). Er liebt
drei christliche Gemeinschaften, die „durchaus ökumenisch
, aber gar nicht hochkirchlich" sind, die Hugenotten
Herrnhuter, Quäker. Wenn Angehörige bischöflicher
Kirchen denen nichtbischöflicher die Abendmahlsgemeinschaft
verweigern, so mißbilligt er das. Einigung ist
für ihn nicht Uniformierung. „Wir Hochkirchler wollen
nicht die Mannigfaltigkeit evangelischen Christentums
zerstören" (245). So lehnt er auch den etwaigen Versuch
ab. bei der bevorstehenden Konferenz für faith and
order in Lausanne eine künstliche Minimalbasis zu schaffen
, auf der ein Teil der katholischen und ein Teil der
protestantischen Kirchen eine äußerliche Einigung vollziehen
würde. Mit jenem sind offenbar die Anglikaner
| gemeint, denn von den morgenländischen Christen erwartet
, erhofft H., daß sie sich solcher Einigung
| widersetzen; solche Scheineinheit „würde ebenso die
Zerstörung der katholischen Tradition wie die Preisgabe
der protestantischen Wahrhaftigkeit bedeuten" (307).

Allerdings neigt H. wohl dazu, das zu unterschätzen,
was die Protestanten als solche gemeinsam haben; den,
Satz: „Das Band, das die mannigfachen evangelischen
Gemeinschaften umschließt, ist oft gar kein engeres als
I dasjenige, welches römische und evangelische Christen
verbindet" (157) würde ich auch mit dem einschränkenden
„oft" kaum gelten lassen. Andrerseits neigt H.
zu Überschätzung des römischen Katholizismus: Dieser
I „enthält — wenigstens in seiner idealen Gestalt — die
große Synthese von Luthertum und Calvinismus, von
Ostkirche und Protestantismus" (144). Aber daß diese
ideale Gestalt nirgends real ist, weiß H. selbst; er redet
I oft ernst von den Unvollkommenheiten alles tatsächlichen
Kirchentums. Dennoch betont er, wer sich als
Glied der unsichtbaren Kirche fühle, vermöge sich auch
in fernliegende Formen des Christentums hineinzuversetzen
. Aber heißt hier tout comprendre wirklich tout
pardonner? In Reichtum und Pracht katholischer Kirchen