Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | 1927 Nr. 11 |
Spalte: | 258-260 |
Autor/Hrsg.: | Man, Hendrik de |
Titel/Untertitel: | Zur Psychologie des Sozialismus 1927 |
Rezensent: | Knittermeyer, Hinrich |
Ansicht Scan: | |
Download Scan: |
257
Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 11.
258
die dieser in den Jahren 1848 u. 49 nach dein Westen ins Innere Afrikas
ausführte und die zur Entdeckung des schneehedeckten Kilimandscharo
führten. Der Leser wird es vermissen, daß zum Schluß nicht
auch noch kurz über das weitere missionarische Leben des Entdeckers
des Kilimandscharos berichtet wird.
Halle. H- w- Schomerus.
Hart mann. Nicolai: Ethik. Berlin: W. de Gruyter & Co. 1926.
(XX, 746 S.) gr. 8». Rm. 29—; geb. 32—.
Die Ethik Kants ist in den letzten Jahrzehnten
immer stärker in Frage gestellt worden. Zwar steckt in
seinem Apriorismus die unverlierbare Wahrheit, daß die
ethischen Maßstäbe absolut sind, aber seinem Formalismus
und Intellektualismus blieb der Blick in die unendliche
Fülle der Wertwelt verschlossen. Nietzsche hatte
diesen Blick, aber die Wertwelt wurde von ihm relativiert
. Erst die moderne Phänomenologie verbindet den
Apriorismus Kants mit der Wertethik Nietzsches. In
diese Problemrichtung gehört das vorliegende Buch,
das die ethischen Probleme in drei Hauptteilen behandelt
: 1. Die Struktur des ethischen Phänomens (Phänomenologie
der Sitten), 2. Das Reich der ethischen Werte
(Axiologie der Sitten), 3. Das Problem der Willensfreiheit
(Metaphysik der Sitten).
Anknüpfend an Max Schelers Kritik des Kantischen
Formalismus und Intellektualismus bewegt sich H. methodisch
in der Richtung intuitiver Wesenschau. Gegenüber
dem „Subjektivismus" Kants, der wohl richtiger
Idealismus genannt wird, betont H. die ideale Gegenständlichkeit
der ethischen Wertsphäre: „Die Entscheidung
liegt in dem Nachweise, daß es eine an sich
seiende Sphäre gibt, in der die Werte ursprünglich heimisch
sind, und als deren selbständige, von keiner Erfahrung
' abhängige Inhalte sie a priori erschaut werden
." Gegenüber dem Formalismus Kants wird von H.
auf den materialen Gehalt der sittlichen Werte hingewiesen
: „Ein Prinzip wie das Sittengesetz, oder überhaupt
ein Gebot, ja ein Wertmaßstab, kann sehr wohl
eine Materie haben, ohne daß dieses seiner Apriorität
Eintrag täte. Ein material bestimmter Wille braucht
nicht, wie Kant meint, empirisch bestimmt zu sein.
Es braucht keine Einwirkung von außen zu sein, die
ihn in Bewegung setzt. Materiale Bestimmtheit ist nicht
Naturbestimmtheit. Sie stammt nicht notwendig aus
den allgemeinen Seinsgesetzen her, bedeutet keine Kausalabhängigkeit
. Sie erniedrigt den menschlichen Willen
nicht zum Naturwesen. Denn ihre Herkunft kann eine
vollkommen autonome, ihre Gegebenheit eine rein apriorische
sein." Gegenüber dem Kantischen Intellektualismus
beruft sich H. auf den emotionalen Apriorismus
des Wertgefühls: „Alle moralische Stellungnahme ist |
vielmehr intuitiv, ist unmittelbar da und immer im Erfassen
der gegebenen Sachlage (sei es der Situation oder j
der vollzogenen Handlungsweise) bereits enthalten. Sie 1
wartet nicht erst auf den urteilenden Verstand." So erfolgt
hier eine entschiedene Rückwendung zum Plato-
nismus und seiner Ideenschau. Schelers metaphysischen
Personalismus aber, der mit der Einheit, Identität und i
Einzigkeit der Welt auf Grund eines Wesenszusammenhangs
die Gottesidee mitgegeben sieht, lehnt H. ab,
da es infolge des fehlenden fundierenden Subjekts keine
überindividuelle Person geben kann. „Das entgegengesetzte
Extrem, das universale, absolut allumfassende
Wesen — wenn es ein solches gibt — ist so weit entfernt
höchste Ordnung der Person zu sein, daß es j
vielmehr niederste Ordnung der Person sein müßte, ein
absolutes Minimum an Personalität, gleichsam der status j
evanescens (=0) der Personalität überhaupt. Das be- j
deutet aber, daß der kategorial wohlverstandene Zusammenhang
dieser ganzen Perspektive gerade das
Sjegenteil von dem beweist, was der Personalismus mit I
ihm beweisen will: Gott — wenn schon man es fertig |
bnngt, ihn in diese Perspektive einzubeziehen — ist nicht i
höchste und absolute Person, sondern gerade das absolut
Impersonale Wesen." So klingt bereits hier ein atheistischer
Ton in H.s Ethik hinein.
Das glänzendste Stück des Buches behandelt die
Struktur des Wertreiches. Es bildet nach H. einen
ganzen Sternenhimmel, an dem die verschiedensten
Werte in verschiedenster Helligkeit erstrahlen.
Es gibt in diesem Reich, das mehrdimensional ge-
j lagert ist, nebengeordnete und übergeordnete Werte, und
| Hartmann ist bemüht, ein Kriterium für die Wertordnung
zu finden, das er als „axiologischen Höhensinn" bezeichnet
. „Es ist der Sinn für eine ideale Ordnung sui
generis, die sich mit keiner anderen vergleichen läßt
und dimensional mit keiner anderen zusammenfällt."
Der menschliche Wertblick freilich ist äußerst begrenzt.
Er kann weder die obere noch die untere Grenze des
Wertreichs schauen, er schaut nur immer verschiedene
I Ausschnitte, wie wenn ein Scheinwerfer das eng be-
I grenzte Gebiet einer dunklen Gegend erhellt. Der größte
! Teil des ethischen Werthimmels liegt noch im Dunkeln
und wird möglichenfalls niemals erhellt werden. Wir
können einstweilen nur den Weg der bereits beschritte-
nen Wertschau nachgehen. So kommt H. zur Analyse
der griechischen, der christlichen und der modernen
(besonders der Nietzscheschen) Wertethik. Dabei fällt
j allerdings sein Blick in größere Tiefen der Wertwelt, als
; uns bisher erschlossen waren, vergleiche z. B. die Ausführungen
über Fülle und Reinheit (S. 365—378) und
j über persönliche Liebe (S. 484—495). Wieder aber
bricht dann der atheistische Zug der H.sehen Ethik
j durch. Während für Scheler die Wertwelt im Heiligen
! gipfelt, kennt H. solchen Abschluß nicht. Trotz gelegentlicher
Andeutungen über eine Tendenz zur Wertsynthese
und trotz der zugegebenen Möglichkeit einer allerdings
l unerkannten und unerkennbaren Werteinheit behält bei
| ihm die Antinomik der Werte das letzte Wort. Das ist
j bei H. ganz folgerichtig, denn erst im Religiösen er-
| scheint die Antinomik überwunden, erst in der christlichen
Ethik vollendet sich die ethische Wertschau in
der Aufhebung der Wertantinomien.
Die Willensfreiheit wird von H., allerdings mit der Einschränkung
, daß sie nicht zur vollen letzten Evidenz zu erheben sei,
bejaht. Wieder kommt es zur Auseinandersetzung mit Kant, bei dem
die scharfe Scheidung der kausalen und der finalen Determination
anerkannt, dessen überindividuelle Begründung der Freiheit in der
praktischen Vernunft aber abgelehnt wird. Freiheit ist nur möglich,
wenn ein idealer Wille in der individuellen Person sich in dem Zwiespalt
zwischen Sein und Sollen und zwischen Sollen und Sollen entscheidet
. Die Möglichkeit solcher Freiheit wird durch Analyse der
ethischen Phänomene des Bewußtseins der Selbstbestimmung, der Verantwortung
und Zurechnung, des Schuldbewußtseins u. a. erhärtet.
Letzte Wegzeigung in die ontische Realität der Freiheit ist die Tatsache
, daß der menschliche Wille erst die ideale Wertwelt zur realen
Verwirklichung bringt, ihr reale finaldeterminierende Kraft verleiht und
damit den Kausalzusammenhang der Natur in teleologische Richtung
bringt. Daß H. dann schließlich mit dem Bekenntnis letzter Unlös-
harkeiten und der unerbittlichen Ausscheidung alles Religiösen aus der
Ethik, weil zu dieser in unlösbarer Antinomik stehend, schließt,
folgt wiederum aus der atheistischen Haltung. Zur letzten Lösung
kommt das Freiheitsproblem eben erst auf religiösem Gebiet.
H.s Ethik ist ein Buch von stärkster gedanklicher Konzentration
und metaphysischem Tief blick, es führt weit über Kants Ethik
hinaus und ist eine dankenswerte Bereicherung der ethischen Forschung.
Es hat aber auch dem Theologen viel zu sagen und viel zu geben,
wird ihn allerdings auch zu starkem Widerspruch reizen.
Düsseldorf. Kurt Kesseler.
Man, Hendrik de: Zur Psychologie des Soziallsmus. 1. u.
2. Tsd. Jena: E. Diederichs 1926. (II, 435 S.) gr. 8°.
Rm. 14—; geb. 17—.
Diese interessante Schrift des bekannten belgischen Sozialisten
wendet sich mit großer Entschiedenheit gegen den übermächtigen Einfluß
der utopischen Theorie in der sozialistischen Bewegung. Besonders
die deutsche Sozialdemokratie scheint hier durch ihre starke programmatische
und gefühlsmäßige Festlegung auf die marxistische Doktrin
vorbelastet zu sein. Die Hoffnungen des Verfassers richten sich
daher vornehmlich auf eine mehr dem englischen und französischen
Vorbild entsprechende Verbindung der Arbeiterbewegung mit der
intellektuellen Zielsetzung. Man soll nicht mit der Theorie über die
konkreten Schwierigkeiten hinweggehen. Man soll weder in der wirtschaftlichen
noch in der nationalpolitischen Entwicklung Unmögliches
verlangen, sondern hier wie dort mit den gegebenen Bin-