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Ausgabe:

1927 Nr. 10

Spalte:

234-235

Autor/Hrsg.:

Kerler, Dietrich Heinrich

Titel/Untertitel:

Weltwille und Wertwille. Linien des Systems der Philosophie 1927

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 10.

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Religion, gipfelnd im sittlichen Monotheismus der Offenbarung
— „und eine religiöse Erfahrung, welche mit
derselben Klarheit" wenigstens in ihren letzten konsequenten
Auswirkungen (Plotin, Yoga, Buddhismus und
allerlei moderne Religiosität von Spinoza an) „ihre" transsubjektive
„Realität ablehnt". Schon im Ausgangspunkt
sind beide „gänzlich verschieden: das eine mal liegt
er im Urhebergedanken, das andre mal in der magischen
Religiosität. Ihrer inneren Struktur nach unterscheidet
sie E. als den „logisch-intellektuell fundierten Strom"
(539) _ hier liegen „echte Oedanken" zu Grunde, d.h.
„Beziehungserfassungen des Schöpfers in seinem Werk"
(499) und der „Geistgedanke bezw. die Auffassung des
Göttlichen als Wille und Denken" (443), was von der
animatistischen oder auch animistischen Auffassung unterschiedslos
aller Naturdinge als lebender Wesen wohl
zu unterscheiden ist —; das andre ist der „nicht intellektuell
, sondern vielmehr emotional fundierte" Strom
(529): der Mensch überträgt, „rein emotional geführt",
„ohne zwischeninne liegende Gedanken" (479) in „rein
vorstellungsmäßigem Denken, nur durch die Objekte
veranlaßt, nicht durch sie geleitet" (499), „ohne weiteres
seinen Eindruck und seine Bedingtheiten auf den
Gegenstand" (479). Hier handelt es sich einfach um
„Projektionen des eigenen Ich in die Dinge" (479).
Darum ebenso alogisch, wie im Grunde arefigiös. Die
Folgen sind: Identifikation der religiösen Objekte mit
der Natur (Animatismus und Mythologie) und den Menschen
(magische Religion), deren Höchststufen und konsequent
klare Endausgestaltung Yoga und Buddhismus
mit der ihnen eigentümlichen restlosen Aufhebung des
transsubjektiv realen Göttlichen: nicht mehr das dem
Menschen real gegenüberstehende Heilige, sondern der
Heilige d. h. Mensch.

So gibt es denn auch zwei entsprechend wesensverschiedene
Formen der Mystik. Die eine — wir
können sie kurz bezeichnen als die christliche bezw. gut
katholische —, deren Charakterzüge: Beibehaltung des
echter Religion wesentlichen Subjekt-Objekt-Dualismus
durch Betonung des Objekts „bis zur Erhöhung in
einer dem Menschen wesensverschiedenen göttlichen Person
, mit der es nur eine moralische und Liebeseinigung
gibt" (310); dafür bedeutsam grade auch ihr gesenicht-
licher Charakter und die damit gegebene „Anerkennung
der geschichtlichen Persönlichkeit Christi, der in der
Liturgie der Kirche als der Gegenwärtige erlebt wird
und in seinem Geiste sich bezeugt" (310); „Persönlichkeitsmystik
" auch insofern, als „der Mensch in seinen
tiefsten Kräften unter der gnadenvollen Einwirkung
Gottes zur höchsten Blüte der Persönlichkeit erhoben"
wird (303); endlich „gedankliche Einstellung" (307)
und Erhaltenbleiben der Fähigkeit zu kritischer Prüfung
(298). Dort dagegen: „Aufhebung des Wesenunterschiedes
", Bedeutungslosigkeit des Geschichtlichen,
Ablehnung der persönlichen Subsistenz der Gottheit,
„Verwischung des Ichbewußtseins", Untergang der Erkenntnis
in der Ekstase.

So sehr man E.'s scharfe Herausarbeitung jener
zwei ganz eigentlich wesensverschiedenen „Ströme" innerhalb
der Religionsgeschichte als eine konstruktive
Vergewaltigung der ganz anders komplizierten Tatbestände
wird ablehnen müssen, so viel Beachtliches steckt
in seinen Ausführungen über die zweierlei Mystik, mögen
auch hier die Sonderungen nicht ganz so reinlich durchzuführen
sein, wie er es versucht. Zu einer Entkräftigung
von Heilers Unterscheidung zwischen mystischer
u[id prophetischer Religiosität reicht es aber jedenfalls
nicht. Die cognitio Dei experimentalis, das innerliche
teilhaben am Leben Gottes, worauf bei aller mystischen
Frömmigkeit das Schwergewicht fällt, ist nun einmal
etwas anderes als das persönliche Gottesverhältnis prophetischer
Frömmigkeit. Hier scheiden sich auch reformatorische
Frömmigkeit und die Höchsterscheinungen
katholischer. Und weil E. in letzterer wurzelt, darum
seine Unfähigkeit, jene andre auch nur in ihrer Sonderart
wirklich zu verstehen, wie eine Fülle schiefer Urteile
das beweist. Darum auch das vollständige Auseinandergehen
der Wege in der theologischen Erkenntnislehre
. Dort der Versuch, die religiöse Überzeugung
zu rechtfertigen; hier der Versuch, den transzendenten
Gegenstand der Religion von einem ganz eigentlichen
experiri Deum als einer Art empirischen Gegebenheit
aus als vorhanden zu beweisen.

Herrnhut. Th. Steinmann.

Kerl er, Dietrich Heinrich: Weltwille und Wertwille. Linien
des Systems der Philosophie. Aus hinterlassenen Notizen aufgebaut
u. hrsg. v. Kurt Port. Leipzig: A. Kröner 1925. (XXII, 547 S. m.
e. Tat.) gr. S°. geb. Rm. 18—.

Dietrich Heinrich Kerler, Dr. phil., Buchhändler,
Verleger und Privatgelehrter in Ulm (1882—1921), vom
Herausgeber für „einen schöpferischen Philosophen
ersten Ranges, den Begründer eines ausgezeichneten
metaphysischen Systems, vor allem aber den tiefsten,
weitesten und klarsten Ethiker und überhaupt Wertforscher
, der bis heute gelebt hat" erklärt (S. V), ist
zweifellos bis heute eine recht unbekannte Größe.
Er hat sehr viel gelesen und hat, was ihm beim
Lesen einfiel, in kurzen oder langen Randbemerkungen
und Notizen zu Papier gebracht, auch viele Exzerpte gemacht
. So fanden sich im Nachlaß „rund 3000 Seiten
Einzelnotizen auf losen Blättern", die inhaltlich viele
Widersprüche zeigen, häufig „für sich ganz unverständlich
oder mindestens vieldeutig" sind. Aus diesem
Material ist dann das vorliegende „System" geschaffen,
das in Philosophie des Seins (Metaphysik) und des
Sinns (Geisteswissenschaft: Ethik, Ästhetik, Logik, Erkenntnistheorie
) zergliedert ist und in fortlaufendem
Text geboten wird. Man darf Port glauben, daß das eine
Riesenarbeit war. Z. B. wurde das Kapitel „Kritik an
Kants Erkenntnistheorie" „aus 200 an verschiedenen
Stellen stehenden, auf 20 verschiedene philosophische
Werke sich beziehenden Einzelbemerkungen, von denen
etwas mehr als die Hälfte ganz oder zum Teil, unmittelbar
oder abgeändert in den Text aufgenommen werden
konnten, ferner aus Nachschriften von sechs Vorträgen
und einem Vortragsstichwort-Entwurf ausgewählt und
zusammengefügt, zu Hilfe genommene frühere Schriften
und Mitteilungen nicht angerechnet — und das stellt
durchaus nicht etwa einen Ausnahmefall dar" (XIII).
Daß man durch solche Komplikationen von Augenblickseinfällen
kein System der Philosophie herstellen
kann, ist selbstverständlich und bestätigt sich bei der
Lektüre immer wieder, indem der Faden abreißt.

Genießbar wird das Buch erst dann einigermaßen,
wenn man es als eine Sammlung von Aphorismen
nimmt, die durch Paradoxie, scharfe Zuspitzung und
Keckheit die Aufmerksamkeit erregen und das Nachdenken
herausfordern, aber eine gründliche Beweisführung
nicht bieten, auch nicht erwarten lassen. Als
anregenden philosophischen Essayisten kann man Kerler
gelten lassen. An Nietzsche reicht er freilich nicht entfernt
heran, es sei denn in der Respektlosigkeit gegen
alle großen und minder großen Denker und in dem geheimen
Angezogenwerden durch die religiösen Probleme
, denen er doch die Grundvoraussetzung, das
Dasein der Gottheit nimmt. Gott gilt als eine für das
Denken grundlose, gegen das Sparsamkeitsprinzip verstoßende
Hypothese, für die es auch nicht einen logischen
Wahrscheinlichkeitsbeweis gibt; für das religiöse (mystische
) Erlebnis genügt eine rein psychologische Erklärung
aus dem „Seelengrund", und die etwa vorhandene
Zweckmäßigkeit der Welt läßt auch eine pluralistische
Erklärung zu. Auf sittlichem Boden ist ebenfalls die
Geltendmachung Gottes durch die Idee der Autonomie
ausgeschlossen (S. 70 ff. 199 f. 275). So ergibt sich
als einfachster und darum allgemeingiltiger Erklärungsversuch
der Wirklichkeit ein „atheistisch-plura-
listischer Okkasionalismus". Unter dem okkasionalisti-
schen Prinzip wird verstanden die Annahme, „daß bei