Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1927 Nr. 9

Spalte:

212-213

Autor/Hrsg.:

Lüttge, Willy

Titel/Untertitel:

Das Christentum in unserer Kultur 1927

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

211

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 9.

212

teramt ausübt (236), wenn auch nicht durch die große
Masse selbst, so doch durch die „Mittleren" — bleibt
etwas Negatives und Unselbständiges. Von einem echten
Gegensatz zwischen beiden Faktoren kann daher gar-
nicht die Rede sein, und der zweite Teil des Werkes, der
das Verhalten der Gemeinschaft zur Darstellung bringt, ist
eigentlich nur eine Apologie des ersten Teils, aber von
der Kehrseite gesehen. Daher kommt es wahrscheinlich,
daß das Interesse an der Darstellung immer mehr erlahmt
, je weiter man in der Lektüre kommt. Bei der
Behandlung der schöpferischen Kräfte des Einzelnen
wohnt der auch in der Formgebung nach eigner Prägung
suchenden, freilich darüber etwas wortreich werdenden
Entwicklung immerhin ein eigner Reiz bei. Hier
wird etwas wie eine Phänomenologie der schöpferischen
Kräfte und ihres Eintretens in die empfangende Gemeinschaft
gegeben, die ihren Wert behält, auch wenn die
geschicntsphilosophischen Hintergründe dieser Analyse
nicht standhalten. — Daß schließlich bei der mitgeteilten
Einstellung von einer Eigenwertung oder gar
Überwertung religiöser Bindungen in der Geschichte
nicht die Rede ist, versteht sich eigentlich von selbst.
Immerhin sei ein belegkräftiger Satz noch mitgeteilt:
„Der Mensch schuf den Gott sich zum Bilde, zum Bild
des Menschen schuf er ihn ... Es ist auszudenken, daß
die Menschheit ohne Gottesverehrung lebe, nicht aber
daß sie der hohen Weihe von Fest und Feier, von Verehrung
und Dienst entbehre" (148 f.).

Bremen. Hinrich Knittermeyer.

Literarische Berichte aus dem Gebiete der Philosophie.

Hrsg. v. Arthur Hoffmann - Erfurt. Heft 5 (Sommer 1925).

Erfurt: K. Stenger 1925. (48 S.) gr. 8°. Rm. 4—.

Das auch diesmal wieder reichhaltige Heft bietet Sammel-
berichtc über die Gebiete der Reliigionsphilosophde (Gesamtdarstellungen
) und Religionspsychologie (1923 u. 1. Halbj. 1924), ferner
über die Descartes-Literatur und die ethische Literatur in Schweder.
(1923); außerdem einen bibliographischen Aufsatz über Hermann
Schwarz, zum 60. Geburtstag des Philosophen, und einen Nachtrag
zum Verzeichnis der aus Anlaß des Kant-Jubiläums 1924 erschienenen
deutschen Veröffentlichungen.

Kiel. W. Bruhn.

Utitz, Emil: Der Künstler. Vier Vorträge. Stuttgart: F. Enke
1925. (V, 64 S.) gr. 8°. geb. Rm. 2.70.

In dieser Schrift sind vier Vorträge vereinigt, die in den Jahren
1922 (1) und 1924 (2—4) an verschiedenen Orten (1: Generalversammlung
der Kantgesellschaft in Halle; 2: Kantgesellschaft Berlin; 3: deutsche
Urania Prag; 4: II. Kongreß für Ästhetik Und Allgemeine Kunstwissenschaft
Berlin) gehalten und an verschiedenen Stellen bereits
gedruckt sind. Einander sich ergänzend bilden sie, zumal für die,
welchen die des öfteren angezogenen größeren Arbeiten des Verfassers
nicht bekannt sind oder das ganze Studiengebiet nicht vertraut
ist, einen lebendigen und lehrreichen Einblick in die Probleme
der Psychologie oder, wie der Verfasser bestimmter sagt, der Charakterologie
des „Künstlers" (nicht des bildenden im besonderen, sondern
des Künstlers im allgemeinen).

Der Inhalt der einzelnen Vorträge kann hier nur angedeutet
werden.

Der erste Vortrag, an Umfang der stärkste (1—24), erörtert, ausgehend
von Kant, der „eine neue Problematik.. .erschlossen hat mit
der" — zu Unrecht—„arg bekrittelten Scheidung reiner und anhängender
Schönheit" (4; diese durchklingt wie ein Leitmotiv des Verfassers
Betrachtungen: 21), „das Problem einer allgemeinen
Kunstwissenschaft", will aber nicht eine Antwort, sondern nur
das Problem geben. „Aber" — so schließt der Vortrag — „dieses Problem
erzeugt und ihm entwächst die allgemeine Kunstwissenschaft"
(24). Der Verfasser bekämpft die herkömmliche, fast volkstümlich gewordene
Lehre der Ästhetik, welche ein Schönes kennt, „das sich
einerseits in den Gebilden der Natur, anderseits in denen der Kunst
offenbaren soll" (5). Demgegenüber definiert er Kunst als Formung
und Gestaltung spezifischer Art auf das Gefühlsleben, derart, daß ihr
Sinn in diesem Erleben sich erschließt, welche Formung und Gestaltung
aber nicht bloß anschauliche Erkenntnis (Wahrheit) geben
soll (K. Fiedler), sondern durchaus eigengesetzlich (autonom) auch
Nationales, Sexuelles, Ethisches, Intellektuelles, Religiöses, Weltanschauliches
usw. in sich begreift (15). Demgemäß gilt auch von der
allgemeinen Kunstwissenschaft, daß ihre sämtlichen Probleme zwar
um das Formproblem kreisen. „Und doch ist die allgemeine Kunstwissenschaft
alles eher als formalistisch: Sexuelles, Intellektuelles,

j Ethisches, Religiöses usw. gehen in die künstlerische Gestaltung ein
I und werden in ihr zu einer neuen Gegebenheitsweise geboren. Gerade
die Form ist es, die den Gehalt rettet, und der Gehalt existiert nur
durch und in der Formung. Ihre Rätsel und Geheimnisse, sie konsti-
! .tuiieren die Aufgabe der allgemeinen Kunstwissenschaft" (20). „Wohl
I gibt es eine Kunst des Schönen, aber es ist nur eine der Möglich-
j keifen unter den Gestaltungen auf das Gefühlserleben" (23).

Die drei weiteren Vorträge haben es im engeren Sinne mit dem
Künstler zu tun. Der zweite: „Zum Schaffen des Künstlers"
(25—39) beschränkt sich in der Hauptsache auf Kritik und Systematik
und verweist bezüglich des empirischen Materials auf frühere Veröffentlichungen
. „Wenn nun jegliche Kunst eine spezifische Gestaltung ist ...
[vgl. den ersten Vortrag] — was gehört zum Vollzug gerade dieser
und keiner anderen Gestaltung?" (26). Diese Frage zu beantworten
setzt sich der zweite Vortrag zur Aufgabe. Stellt der erste die Frage
nach dem Wesen der Kunst und der daraus abzuleitenden allgemeinen
Kunstwissenschaft, so dieser „die Frage nach dem Wesen des
Künstlers" „vom Wesen der Kunst her" (28, nicht vom Ästhetischen
aus: 341); „denn die Kunst bestimmt den Künstler, wie die Wissenschaft
ihre Jünger" (26). Und der Verfasser stellt nachdrücklich fest,
daß „das Ausleben in der Gestaltung eben das Leben des Künstlers"
ist (30), und „daß jenes künstlerische Erlebnis kraft der charaktero-
logischen Eigenart seines Trägers sich gar nicht anders entfalten kann
als in der Gestaltung zum Kunstwerk, weil jede andere Bahn ihm
versperrt ist, keine zum Ziele führt, als eben diese eine" (34 f.).

Das Thema des dritten Vortrages „Kunst und Geisteskrankheit
" (40—74) ist, wie der Verfasser zum Beginne es ausspricht
, „heute wieder von besonderer Aktualität". Diese Tatsache darf
aber als solche keineswegs dazu benutzt werden, die expressionistische
Kunst verächtlich zu machen. „Die sachliche Qualität der Werke entscheidet
allein, nicht der Gesundheitszustand ihrer Urheber" (40). Das
Problem ist vielmehr dies, „ob zum Hervorbringen jener Leistung pathologische
Faktoren notwendig waren oder nicht. Es kommt auf die Genesis
der Leistung an; ihre tatsächliche Schätzung scheidet aus dieser
Betrachtung aus" (40). Ist aber künstlerisches Schaffen ein Formen
und Gestalten und zwar so, daß das künstlerische Erlebnis gar nicht
anders sich entfalten kann als in der Formung zum Kunstwerk, so
kann die richtige Fragestellung nicht lauten: „Ist das künstlerische
Schaffen .gesund' oder .krankhaft', sondern: wie wirkt Geisteskrankheit
auf das künstlerische Schaffen ein, welchen Einfluß übt sie?"
(43). „Nur diese methodisch saubere Fragestellung verbürgt klare
Ergebnisse. Dann aber erlischt gewiß nicht die Ehrfucht vor der
Tatsache, daß bisweilen furchtbare Krankheit erst gewaltige Leistungen
ermöglicht" (46). Doch mahnt der Verfasser zum Schluß, daß zur
Verständigung über die heute noch sich widersprechenden Ansichten
bezüglich dieses Problems kunstvertraute Psychiater, Ästhetiker
und Psychologen mehr als bisher Hand in Hand arbeiten.

Im letzten der Vorträge: „Der Charakter des Künstlers"
(48—64) stellt Utitz „scharf und klar" die Frage: „Was bedeutet der artistische
Charakter im Gefüge der Persönlichkeit, oder umgekehrt diese für
den artistischen Charakter? Aber" — fährt er fort—„von einer scharfen
und klaren Antwort sind wir leider sehr weit entfernt", und er will
sich auch nur „mit einigen einleitenden Bemerkungen begnügen" (48).
„Aber schon diese zeigen deutlich", — darin wird ihr Ergebnis zusammengefaßt
— „daß der einseitige Kultus des artistischen Charakters
zum Verständnis von Kunst und Künstler keineswegs hinreicht,
daß wir durch ihn auf ganz abstruse Abwege getrieben werden. Im
Gegenteil: die gesamte Persönlichkeit in ihrer Menschlichkeit steht in
Frage. Nur sie bedingt den artistischen Charakter wie dieser wieder
jene" (63). „So heißt auch Charakterologie des Künstlers nicht etwasaubere
Fixierung eines artistischen Charakters, der aus der Gesamtpersönlichkeit
herausgeschnitten wird, wobei eine bürgerlicher Ho-
munculus übrig bleibt; nein, die Gesamtpersönlichkeit gesehen unter
dem Zeichen der Kunst, von ihr her" (64).

Art und Wert der hier skizzierten Vorträge dürfte mit diesen
Angaben hinreichend gekennzeichnet sein. Man wird bemerken, daß
es sich um ein bedeutsames Spezialgebiet der wissenschaftlichen
Forschung handelt, das zwar viel beredet, aber noch immer wenig
exakt und ausgiebig erforscht ist. Ob der Verfasser immer auf dem
rechten Wege ist, muß hier dahin gestellt bleiben. Zweifellos recht hat
er darin, daß der einseitige Ästhetizismus dem Wesen der Kunst Abbruch
tut und darum zu überwinden ist; nicht minder darin, daß —
man kann es denen, die es angeht, nicht oft und nicht eindringlich genug
vorhalten — „die große Tatsache der Kunst" (31) doch noch
etwas anderes und sehr viel mehr ist als bloße Artistik. Auffallend ist
! mir aber, daß der Verfasser so ganz undifferenziert von „dem Künstler
" redet. Kann man das?

Berlin. Georg Stuhl fauth.

Lüttge, Prof. D. Willy: Das Christentum in unserer Kultur.

Leipzig: Quelle & Meyer 1925. (XI, 196 S.) 8°. geb. Rm. 7—.

Im ersten vorwiegend geschichtsphilosophischen
Teil wird vor allem die Überlegenheit des Christentums
über seinen stärksten Rivalen, die indische Mystik, ver-