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Ausgabe:

1927 Nr. 9

Spalte:

209-211

Autor/Hrsg.:

Breysig, Kurt

Titel/Untertitel:

Persönlichkeit und Entwicklung 1927

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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209

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 9.

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greifende Einheit und Wesensbezogenheit von Logik,
Psychologie und Geschichte in allem aufgewiesen wird.

Bei der echt Hoenigwald'schen konzentrierten Abstraktheit
dieser gleichwohl fruchtbaren, aber schweren
Gedankengänge, kann ein nochmals konzentriertes Referat
wie dieses freilich unmöglich einen Begriff des reichen
Inhaltes geben.

Tübingen. Theodor Haering d. J.

Breys ig, Prof. Kurt: Persönlichkeit und Entwicklung.

Stuttgart: J. O. Cotta 1925. (XXI, 308 S.) gr. 8°. = Vom gegeschichtlichen
Werden, Bd. 1. Rm. 8-; geb. 10.50.
Der ursprünglich Karl Lamprecht nahestehende Verfasser
sucht in dem vorliegenden Werk zwei Grundprobleme
einer „zukünftigen Geschichtslehre" zu klären.
Er will die „Kraft des Einzelnen" und das „Verhalten
der Gemeinschaft" auf eine Weise zur Bestimmung
bringen, die gleich sehr die kollektivistische Voreingenommenheit
Lamprechts und die Entwicklungsblind-
neit der beschreibenden und individualistischen Geschichtsforschung
vermeidet. Die beschreibende Forschung
, als deren „Verkörperung" er Ranke immerhin
rühmend hervorhebt, vergißt über dem „Chronistenstil"
(121), daß das tiefste Kennzeichen der Geschichte das
„Werden" ist, daß nicht die an der Oberfläche des geschichtlichen
Lebens sich vollziehende Verwandlung der
Ereignisse ineinander das Entscheidende ist, daß nicht
„Aktenstück aus Aktenstück, . . Schlacht aus Schlacht"
folgt, sondern hinter dieser oberflächlichen Geschehensfolge
ein Entwicklungsstrom einerseits anschwillt bis
zu seiner Auswirkung in den Gipfelleistungen der wenigen
großen und schöpferischen Menschen und andererseits
von ihnen aus wiederum abschwillt bis zu ihrer Sub-
stantialisierung im Zeitgeist und Massenverhalten. Die
kollektivistische Geschichtsauffassung, die ihrerseits von
Anfang an auf die Erkenntnis der Entwicklungslinien
ausging, hat dagegen die entscheidende Bedeutung der
Persönlichkeit für das geschichtliche Geschehen übersehen
. Es gilt für eine neue Geschichtsphilosophie, die
Vorzüge beider Methoden zu verbinden, dort die Persönlichkeitswertung
und hier den Entwicklungsgedanken
zu übernehmen. Ihr „Thema" muß sein, die Entwicklungszusammenhänge
aufzuspüren, aber weniger in dem
„breiten Strömen von Massenanschauungen" (118), als
in der Verwurzlung, „Fortpflanzung, Kreuzung, Verflechtung
" all der „tausend und tausend Funkenbahnen"
der durch die Geschichte hindurchwirkenden Einzelkräfte
.

Es drängt sich sogleich die Frage auf, ob nicht
diese „Synthese" zu einfach und bequem sein wird, um
wirklich dem Tatbestand gerecht zu werden, wie er
einerseits in der Geschichte und andererseits in der ge-
schichtsphilosophischen Diskussion vorliegt. Der Faktor
der Gemeinschaft sowohl wie der wirkliche Verlauf der
Geschichte, den also etwa Ranke in seinem Gewesensein
und Sichereignethaben zur Darstellung bringt, und
zwar in der Verwobenheit des Metaphysischen mit dem
Faktischen zur Darstellung bringt, also jenes, was
Breysig bei den synthesierten Auffassungen vernachlässigt
, scheint jedes für sich schon ein solches Gewicht
zu haben, daß man sich schwer vorstellen kann,
wie man ohne die gleichverantwortliche Einbeziehung
dieser Faktoren in die geschichtsphilosophische Theorie
auch nur ein erträgliches Resultat erzielen will. In der
Tat kommt, wenn man aufs Prinzipielle sieht, das Buch
zu einer derart unkritischen Verherrlichung des Schöpferischen
in der Geschichte, und zwar des der Persönlichkeit
entquellenden Schöpferischen, daß man es fast nur
aus der im Vorwort verratenen Absicht erklären kann,
dem „Leben" und nicht nur der „Wissenschaft" dienen
zu wollen, „zweien Herren" (VII) also; was niemals
eine entschiedene Leistung möglich macht.

Es ist schon ein charakteristisches Bekenntnis, wenn
ein Werk wie dieses Driesch gewidmet wird, und zwar
mit der ausdrücklichen Versicherung, daß die Erkenntnis

| des geschichtlichen Werdens diesem Philosophen der
i Biologie — darauf beruft sich Breysig — mehr „als
I irgendeinem Forscher seit Hegel" (XII) verdankt. Dabei
i muß man sich dessen erinnern, daß es gleichfalls modern
geworden ist, Hegel — den man nur aus seiner Geschichtsphilosophie
, also von der Peripherie her, nicht
! aber von seiner Logik her deutet — als einen Vorläufer
der biologischen Morphologie Spenglers zu betrachten
(z. B. ein Mann wie Heim tut das). Findet man aber
durch die Biologie den entscheidenden Zugang zur Geschichte
, dann kann man immerhin noch eine ganze
i Anzahl von Eigenquellen des geschichtlichen Lebens
anerkennen, ohne deshalb seinen eigentlichen Ausgangspunkt
verdecken und für die Auswirkung wesentlich einschränken
zu können. Geschichte aber ist gerade nicht,
und zwar ihrem wesentlichen Sinne nach nicht als
j Wachstum zu begreifen, als ein schließlich die Gesamtbewegung
durchdringendes und bestimmendes Sichaussenden
jener „Urkraft der Mitte", die in einer kleinen
„Schicht der Schöpferischen" (80) weltbewegend entspringt
, sondern Geschichte ist nach einer andern Seite,
die nicht mehr eine so einfache Parallelisierung mit
| dem natürlichen Organismus zuläßt, Begegnung, Zu-
j sammenstoß und Vereinigung, Ereignis zwischen Mensch
und Mensch. Die schöpferische Kraft der Mitte müßte
die Geschichte dem unwirklichsten und anmaßendsten
Genietaumel überliefern, wenn nicht gerade ihr die Erfahrung
des Du gegenübertrete; freilich nicht in den
| Abstraktionen von Masse, Staat, Volk, oder wenigstens
nicht entscheidend in ihnen, sondern in dem wirklichen
I Du, das dem wirklichen erfahrungsbedürftigen — und
I nicht nur dem Phantom seines Schöpfertums nach-
I jagenden — Ich begegnet und in dieser Begegnung erst
j die Quellen eines wirklichen Schaffens freilegt.

Die Hierarchie, die Breysig vorschwebt, geht vom
Künstler durch den Staatsmann abwärts zum Kaufmann
und Handarbeiter (81), geht — anders gewandt, aber
letzthin gleichsinnig — von den zwölf „Gewaltigen",
„zu höchst Waltenden" — Gotamo, Jesus, Mohammed
— Alexander, Caesar, Napoleon — Piaton, Newton,
Kant — Michel Angclo, Shakespeare, Goethe — zu der
Unscheinbarkeit der Masse, die nicht mehr gibt und
schafft, sondern nur noch empfängt und verzehrt (91).
I Damit ist denn auch die geistige Heimat der Breysig-
schen Geschichtsphilosophie offenbar geworden, ui.d es
ist kaum nötig, die tiefe Gehaltlosigkeit einer solchen
Deutung der Geschichte von neuem zu kennzeichnen.
Sie kennt keine tragischen Wirklichkeiten; wenn das
Du und damit die Gemeinschaftswurzel der Geschichte
i nicht ernst genommen wird, dann sind den schaffenden
Urkräften, in Wahrheit Ichkräften, keine Grenzen gesetzt,
und ein optimistisches Pathos kann im Ganzen sich
breit machen: „Warum sollte nicht das Recht der Gemeinschaft
auf die Vertretung des Gesamtwohls in eine
schöne Einheit mit der Stärke des schöpferischen und
lenkenden Einzelnen verschmolzen werden?" (139). Die
Selbstverständlichkeit, mit der hier die „schöne Einheit"
geglaubt wird, und überhaupt der nie abreißende Hymnus
auf den Einzelnen, sind ein untrügliches Anzeichen
j dafür, daß hier der wirkliche Gegensatz zwischen d^m Einzelnen
und der Gemeinschaft garnicht berührt ist. Aber
bei solcher schwelgerischen Verherrlichung des hel-
j dischen Menschen bleibt am Ende die Kehrseite doch
nicht ganz verborgen; wir selber geraten jenen Zwölfen
gegenüber in die Situation „kriechender Zwerge" (77)
und verlieren damit alle Aussicht auf ein geschichtliches
Selbstleben.

Bei dieser Haltung kann nur dem Einzelnen mit
seinem „Adelsrecht" das „Leben auf diesem Stern lebenswert
" (273) erscheinen; die Masse und damit der Faktor
der Gemeinschaft, der nur hemmt und sich verhält —
merkwürdigerweise freilich gegenüber der Neuerungslust
der großen Einzelnen, in die das Wesen
des Schöpferischen und damit des Lebenswerts überhaupt
immer wieder aufzugehen scheint, auch das Rieh-