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Ausgabe:

1927 Nr. 9

Spalte:

200-201

Autor/Hrsg.:

Milne, C. H.

Titel/Untertitel:

A reconstruction of the Old-Latin text or texts of the Gospels used by Saint Augustine. With a study of their Character 1927

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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199

Theologische Literaturzeitung 1927 Nr. 9.

200

im Grundgedanken hat der Verf. m. E. recht: Joh. will I
für seine Leser ein autonomes und suffizientes Evangelium
, also Ersatz für alle andere Tradition sein. Aber
ist damit schon gesagt, daß der Evangelist ihnen '
das Lesen anderer Evangelien geradezu verbieten will? i
Ob er nicht ruhig gestatten würde, daß andere Tradition
neben ihm in den Gemeinden lebendig bleibt? Denn
davon bin ich trotz Windisch überzeugt, daß Job- die j
Bekanntschaft mit synoptischen Stoffen bei seinen Le- j
sern voraussetzt; die Bekanntschaft mit Wundergeschichten
(2,23; 6,2; 7,3 f), mit der Taufgeschichte (für j
die m. E. 1,32—34 nicht als verdrängender Ersatz
gelten kann), mit Tradition über den Täufer (3,24) wie S
über die Zwölf und ihre Wahl (6,70; 15,16), über
Petrus (1,42 ersetzt m. E. nicht Mk. 8, 27—30 parr.,
sondern weissagt jene Szene der Umnennung für die Zukunft
) und über Judas (13,2), über Nazaret und den |
Vater Joseph u. a. Solche Tradition hat er m. E. aner- j
kannt bzw. toleriert; schwerlich hat er gemeint, sie durch
sein Buch auszurotten. Anderes (ob nun aus den Synoptikern
oder sonstwoher bekannt) kann er nicht tolerieren,
sondern unterdrückt es (Verklärung, Gethsemane u- a.) j
oder korrigiert es (Chronologie der Tempelreinigung,
zahlreiche Züge in der Passion u. a.). Ich glaube jedoch,
daß der Evangelist durchaus von dem positiven Sinn j
seiner Aufgabe getragen war, und daß ihn die polemische
Rücksicht auf andere Tradition nur selten bestimmt.
Er greift auf, was ihm dienen muß, und gestaltet es
in seinem Sinn, im übrigen ignoriert er anderes. Man I
könnte m. E. sagen, daß faktisch alle jene Tendenzen in
gewissem Sinne bei ihm zur Geltung kommen: er will j
ergänzen (aber nicht Paralipomena zu den andern Evan- j
gehen liefern!), er will interpretieren (aber nicht einen
Kommentar zu andern Büchern schreiben!), er will ver- j
drängen (aber nicht ä taut prix wie Marcion). Was also
Windisch von der Souveränität und dem Selbstbewußt- j
sein, von der Autonomie und Suffizienz des Joh. sagt,
wird schon richtig sein. Aber so exklusiv wie Windisch
stelle ich mir den Evangelisten nicht vor, sondern
könnte mir doch denken (vgl. Windisch S.133), daß i
er andere Tradition soweit gelten läßt, wie sie für An- j
fänger im Glauben ihren Dienst tut, während sein
Evangelium für die Reifen ist. Wie solche Reife stets
die Anfänge „ersetzen" soll, so will auch sein Evangelium
die andere Tradition ersetzen.

Das scheint mir nun speziell gegen Windischs Auffassung
der johanneischen „Ethik"gesagt werden zu I
müssen (S. 116—120). Es ist schon richtig, daß für
Job. das Liebesgebot den ganzen Gehorsam des Glaubenden
erschöpfend beschreibt und also alle andere
paränetische Tradition „ersetzt". Aber daß damit die
Bergpredigt erledigt sei (wofür gar noch das Wort
von den nicht schweren Geboten 1. Joh. 5,3 in Anspruch
genommen wird!), daß das Gebot der Feindesliebe
außer Kraft gesetzt sei, — das scheint mir Konsequenz-
macherei auf Grund einer kleinlichen Exegese zu sein.
Es liegt doch wohl so: wer das Liebesgebot erfaßt hat, j
der braucht in der Tat jene Einzelweisungen nicht j
mehr (insofern ist also die „Ethik" des Joh. „suffizient"), j
aber nicht, weil sie nicht mehr gelten, sondern weil sie
selbstverständlich sind; und gleichwohl kann es gelegentlich
nötig sein, auch auf die praktischen Konse- |
quenzen des Liebesgebots im einzelnen aufmerksam zu i
machen (1. Joh. 3,17).

Eine Erwägung anderer Art kommt hinzu- Der j
schwächste Punkt des Buches liegt darin, daß es auf j
die Frage nach den Quellen des Joh- nicht energisch ein- j
geht. Zwar meine ich wie der Verf., daß das Evangelium
als Einheit zu verstehen sei- Aber ebenso wie j
der Verf. meine ich, daß diese Einheit eine vom Evan- j
gelisteu geschaffene ist auf Grund der Verarbeitung
einer mannigfaltigen Tradition (wobei es eine zweite
Frage ist, wieweit ihm diese Tradition schon schriftlich
fixiert vorlag). Dann aber kann die Frage nach dem
Verhältnis des Joh. zur evangelischen Tradition nur im |

Zusammenhang mit der Frage nach seinem Verhältnis
zu seinen Quellen überhaupt gestellt werden. Wenn
z. B. eine Schicht der verwendeten Tradition in den
Reden vorliegt und wenn sich hier der ausgesprochen
antitraditionalistische, „gnostizierende" (im Sinn des
Verf. S. 177—180) Charakter findet, so ist doch das
Evangelium als Ganzes dadurch charakterisiert, daß es
eben nicht durchweg auf diesen Ton gestimmt ist, sondern
eine Kombination dieses „gnostizierenden" Materials
mit alter evangelischer Tradition darstellt, die u- a.
dem Verf. in jener orjiiEla- Quelle vorlag. An einigen
Stellen zeigt nun auch m. E. die literarkritisehe Analyse,
daß der Evangelist seine Quelle aus der synoptischen
oder verwandter Tradition ergänzt hat. So ist wohl 1,
22—24 zwischen 1,21 und 25 eingeschoben, und an
1,31 ist 1,32—34 erläuternd angehängt. Ebenso dürfte
18,39—19,6 zwischen 18,38 und 19,7 gestellt sein.
Was also der Verf. in c. 9 über den Charakter des
Joh. sagt, muß zum Teil auf eine bestimmte Schicht
des Evangeliums eingeschränkt werden; als ganzes ist
das Evangelium kirchen- bzw. traditionsfreundlicher, als
der Verf. meint. Das ließe sich z. B. auch an den Beziehungen
auf das A.T. zeigen.

Zur „Schlußbetrachtung" erlaube ich mir, da der
Verf. auch mich zitiert, die Bemerkung, daß er sich
in einem starken Mißverständnis der „Barth'schen
Kategorien" (vgl. S. 184) befindet, wenn er meint,
daß nach Barths und meiner Meinung Gott bei Joh.
nicht als der Gott des Heils und der Liebe, sondern als
das vernichtende Numen zu verstehen sei, und daß wir
die Offenbarung bei Joh. als das Mysterium tremendum
auffaßten. Daß nirgends im N. T. so stark wie bei Joh.
die Paradoxie der Offenbarung beschrieben wird, die
als XQloig das Ende alles Menschlichen und das Wirklichwerden
der Cwrj alwviog bedeutet, ist allerdings
meine Meinung. Aber nichts ist weniger geeignet, den
Sinn des johanneischen Gottesgedankens zu bezeichnen
als die moderne Kategorie des „Numinosen".

Zum Schluß noch zwei Einzelheiten. Einen besonderen
Hinweis verdienen die Ausführungen über das
Abendmahl (S. 70—79), deren Diskussion hier nicht
möglich ist. Der Verf. meint, daß Joh. eine von Jesus
bei der letzten Mahlzeit vorgenommene Stiftung der
Eucharistie nicht anerkannte. Endlich konstatiere ich
mit besonderer Freude, daß der Verf., der guten alten
Sitte treu, sich nicht scheut, Fremdwörter, wie sie für
die Prägnanz der wissenschaftlichen Diskussion unentbehrlich
sind, in suffizienter Weise zu gebrauchen.
Marburg. R. Bultmann.

Ml Ine, C. H., M. A.: A reconstruction of the Old-Latin text
or texts of the Qospels used by Saint Augustine. Witli a
study of their Charactcr. Cambridge: University Press 1026.
(XXVIII, 177 S.) gr.8°. geb. sh. 10/6.

Augustins Bibeltext wieder herzustellen ist keine
leichte Aufgabe. Für die 50 Schriften bis etwa 400,
bis zu De sancta virginitate, stellt Milne die Zitate aus
den Evangelien zusammen und vergleicht sie mit der
Vulgata (nach Wordsworth und White, Oxford 1898)
und den altlateinischen Texten; insbesondere ist es ihm
darum zu tun, die Verwandtschaft mit den afrikanischen
Texten herauszustellen. Es stellt sich aber heraus, daß
Augustin auch nach dem Erscheinen der Vulgata, der
er sich entschlossen und mit Überlegung angeschlossen
hat, ihr keineswegs sklavisch gefolgt ist, sondern die
altlateinische Übersetzung, die er im Gedächtnis hatte,
weiter benutzt hat. Er ist aber auch dieser gegenüber,
wie gegenüber der Vulgata selbständig, so daß oft eine
Abhängigkeit weder von dort noch von hier zu konstatieren
ist. Milne erklärt dies in erster Linie aus seiner
bedeutenden Kenntnis des griechischen Urtextes und
seinen Bemühungen, ihn durch sich selbst sich zu erklären
, und in zweiter Linie aus der ungeheuren Beweglichkeit
und Selbständigkeit seines Geistes, die ihn
schließlich auch veranlaßten, Stellen aus den verschie-