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Ausgabe:

1926 Nr. 6

Spalte:

147-148

Autor/Hrsg.:

Obenauer, Karl Justus

Titel/Untertitel:

Friedrich Nietzsche, der ekstatische Nihilist 1926

Rezensent:

Smend, Otto

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147

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 6.

148

wird, ihm zu folgen; und so wird auch sein Versuch
, Füchtes ethisch-systematische Gedankengänge der
Gegenwart nahe zu bringen, nur sehr mittelbar gelingen.
Sachlich bringt nach der Meinung des Ref. der letzte
Fichtesche Standpunkt noch keine Lösung der systematischen
Schwierigkeiten der Ethik. Fichte hat den
Formalismus überwunden durch eine individualistische
Ethik, die sich dem eigenen Leben jedes Ich anschmiegt,
und er hat seine individualistische Ethik systematisch
schärfer fundiert als z. B. Schleiermacher die seine.
Aber die Kette ist doch gar zu dünn geblieben, die nun
dies Individuelle wieder mit dem Allgemeinen verknüpft.
Das inhaltliche Prinzip, das den Individualismus vom
Subjektivismus abscheidet, ist auch bei Fichte nicht derart
substantiiert, daß es wirklich einer konkreten Ethik
die Blutfülle geben könnte.

(Döttingen. M. Geiger.

Obenauer, Karl Justus: Friedrich Nietzsche, der ekstatische
Nihilist. Eine Studie zur Krise des religiösen Bewußtseins. 1. —3.
Tausend. Jena: E.Diederichs 1924. (204S.) S°. Rm.3.50; geb. 5—.

In der Fülle der Nietzsche-Literatur der letzten Jahre
nimmt vorliegendes Buch des bekannten Goetheforschers
O. eine durchaus selbständige und beachtenswerte Stelle
ein. Es ist nach seinen eigenen Worten nur ein Versuch,
der Gestalt Nietzsches auf dem Hintergrunde seiner Zeit
gerecht zu werden, aber immerhin ein Versuch, der als
wohlgelungen bezeichnet werden darf. In sechs Kapiteln
gibt der Verf. unter sechs verschiedenen, inhaltlich
jedoch zusammengehörigen Gesichtspunkten ein umfassendes
Nietzschebild. Was groß und zeitüberragend
an ihm ist, wird klar und deutlich herausgestellt und
anerkannt, aber auch, was zeitbedingt und widerspruchsvoll
an ihm ist und schließlich zur Tragödie seines
Lebens führte, wird überzeugend festgestellt und rückhaltlos
ausgesprochen.

Grundlegend für das Verständnis des Ganzen ist
das Anfangskapitel, das mit seiner Überschrift: „Der
ekstatische Nihilist" dem Buch den Namen gegeben.
„Die Tragödie des Erkennenden", der O. das letzte
Kapitel widmet, ist hier bereits angedeutet und, wie der
Verf. ausführt, darin zu sehen, daß dieser geniale Seher
und gewaltige Prophet, der wie kaum ein zweiter vor
ihm und nach ihm mit einer unendlich feinen, fast ans
Abnorme grenzenden Sensibilität seine Zeit durchschaute
und mit einer verblüffenden, kassandrahaften Sicherheit
ihren Untergang vorwegnahm, doch die Forderung, eine
neue Art Leben aufzuzeigen oder gar es zu verwirklichen,
nicht erfüllen konnte. Und warum nicht? Weil der unsäglich
unter einem dreifachen Leiden Leidende (Leiden
am Kommenden, an der vielfachen Tradition, an der
materialistisch-intellektualistischen Gegenwart) sich selbst
mit seinem alles zerstörenden und niederreißenden Radikalismus
, für den er selbst das Wort „Nihilismus" gefunden
, den Weg zum wahren Leben und zum höheren
Menschentum rettungslos verbaute. Wie dieser „nihilistische
Instinkt" zum Atheismus Nietzsches hinüberführt
, zeigt das zweite Kapitel „der Mörder Gottes".
Es ist das ein Atheismus, der weniger oder garnicht Ausdruck
einer atheistischen Metaphysik als vielmehr die
extremste Formel des nihilistischen Weltgefühles seines
Zeitalters ist, auf dessen dunklem Hintergrund sich eindrucksvoll
jener prometheisch-luziferische Wille abhebt,
mit dem Nietzsche seinen Übermenschen, den „prome-
theischen" Menschen bildet, von dem O. im dritten gleichnamigen
Kapitel berichtet. Die Unmöglichkeit aber,
ihn in der Gegenwart zu verwirklichen, machte aus
seiner kühnen Idee ein Phantom, eine unwirkliche Theorie
und aus der leidenschaftlich verfochtenen Selbsterlösung
des Ich, das durch die nihilistischen Voraussetzungen
einer pluralistischen, analytischen Psychologie
schon theoretisch von vornherein unhaltbar war,
die willkürliche Forderung einer dämonischen Seele.
Die tragische Grundstimmung, die damit in N.'s Denken
einkehrte, konnte dieser „letzte Jünger des Dionysos",

wie das vierte Kapitel ausführt, nur überwinden, oder
richtiger: vergessen durch Hingabe an das dionysische
Element des Rausches, in das er untertauchte durch das
Medium der romantischen Musik. Nach der Krisis von
1876 (Bruch mit Wagner) trat zwar ihre inspirierende
Bedeutung für ihn zurück, aber die Folge war, daß sich
bei allem Festhalten an einer ästhetischen Grundeinstellung
Dionysos, der Gott des Rausches, verwandelte
in den Gott alle tanzenden Kunst, in den antimoralischen
Gott des „Jenseits von Gut und Böse", der seinem ekstatischen
Geist auch am natürlichsten entsprach. Von
hier zu Dionysos als dem antichristlichen Symbol
schlechthin war dann nur ein Schritt, zu dem ihn, wie
im „Antichrist", dem fünften Buchkapitel auseinander
gesetzt wird, nächst den zahlreichen Schwächen
und Angriffsflächen des damaligen kirchlichen (protestantischen
) Christentums vor allem drei Ursachengruppen
veranlaßt haben: seine ästhetische Weltanschauung
, seine Anbetung der Antike und ein verhängnisvoller
Einfluß fremdländischer, bes. frz. und russ. Literatur
(Ernest Renan, Dostojewski, Tolstoi). Indessen, wenn
er auch mit aller Inbrunst diesem Gotte diente, dem er
aus den Erlebnissen eines gottbildenden Instinktes Züge
des Goetheschen Erdgeistes anzudichten verstand, und
wenn er auch, zuletzt noch kurz vor seiner Geistesumnachtung
in ihm die unmittelbare Gott-Wirklichkeit des
Selbst erlebte: Nietzsche der Nihilist, der Skeptiker und
Positivist ging doch einen Weg, der aufs Ganze gesehen
eine wahre via negativa war, ein Weg, auf dem wohl das
Ende eines nihilistischen Zeitalters herbeigeführt, der
Nihilismus selbst aber nicht überwunden werden konnte.

Diese Erkenntnis vom Standpunkt des religiösen,
Bewußtseins aus untersucht und klar herausgearbeitet
zu haben, macht den Wert dieses Buches aus. Sympathisch
berührt dabei die persönliche Wärme, mit der es
j geschrieben ist, und die objektive Art der Darstellung,
j die N.'s bleibende Bedeutung in dankenswerter Weise
j mehr als einmal unterstreicht. Gelegentlich erreichen
seine mit großer Klarheit vorgetragenen und reiches
Wissen verratenden glänzenden Ausführungen geradezu
christliche Höhe und prophetisches Pathos, z. B. da, wo
er auf S. 16 von dem Wert des Glaubens und der Wirklichkeit
der göttlichen Gnade und auf S. 174 von einem
Christentum der Zukunft spricht. Es ist keine Frage
und zugleich unser Wunsch, daß vielen, die unter den zahlreichen
Fragen und Problemstellungen unserer krisenr
haften Gegenwart leiden und dabei auf N. als ihren
Herold sehen, dies Buch eine Klärung ihrer Gedanken
bringen und wegweisende Dienste leisten möge.

Bei einer netten Auftage muß darauf gesehen werden, daß da,
wo ein 0 zu stehen hat, auch wirklich ein 0 steht. In mehr als
28 Fällen steht ein U für ein Ü, bzw. ein A für Ä, einmal ein O für
ö. Auf S. 76 1. Z. v. o. muß es und statt und heißen, und auf
S. 132 11. Z. v. o. dient statt dienen.

Lienen. <>. S m e n d.

Wilhelm Dilthey's gesammelte Schriften. V. u. VI. Bd.

Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens.
Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften
. Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und
Pädagogik. Leipzig: B.G.Teubner 1924. (CXVII, 442 U.324S.)
gr. 8°. Rm. 12—; geb. 14— u. 7—; geb. 9--.

Inhalt: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie
des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur
Grundlegung der Geisteswissenschaften (Bd. 5). Zweite
Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik
(Bd. 6). Dazu im fünften Band ein Vorbericht des
Herausgebers (117 S.).

Die Werke Diltheys selbst, die in diesen Bänden
gesammelt sind, liegen außerhalb des Bereiches einer
Rezension. Sie sind historisch geworden und zwar in
einem Ausmaße, wie es Dilthey selbst wohl kaum erwartet
hätte. Überall in der philosophischen Literatur
spürt man ihre Wirkung, ja es ist nicht zu viel gesagt
, wenn man behauptet, daß auf die Wandlung
der allgemeinen Geisteslage seit dem Ausgange des