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Ausgabe:

1926 Nr. 2

Spalte:

611-612

Autor/Hrsg.:

Heller, Nikolaus (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Des Mystikers Heinrich Seuse, O. Pr., Deutsche Schriften 1926

Rezensent:

Clemen, Otto

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611

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 25/26.

612

Des Mystikers Heinrich Seuse, O. Pr., Deutsche Schriften.

Vollständ. Ausg. auf Grund d. Handschriften. Eingeleitet, übertr,
u. erläut. v. Nikolaus Heller. Regensburg: Verlagsanst. vorm.
G. J. Manz 1926. (LXX11I, 478 S. m. 15 Bildern u. e. Kunstbeilage
) 8n. Rm. 16—; geb. 20—,

An neueren Ausgaben der Schriften Seuse's lagen
bisher vor: 1. die hauptsächlich auf den zwei ältesten
Drucken von 1482 und 1512 beruhende in verschiedener
Beziehung mangelhafte Übertragung von Melchior
Diepenbrock (> 1829. 8 1837. 3 1854. 4 1884). An
diese lehnte sich an 2. die Ausgabe von Wilhelm v.
Scholz, die 1906 als 14. Bd. der „Fruchtschale", 1925
als ein Band der „Pegasusbücher" erschienen ist. Einen
großen Fortschritt bedeutete 3. die Übertragung von
De ni f 1 e 1880, die aber doch nicht auf völlig genügender
handschriftlicher Grundlage beruhte, dazu unvollständig
geblieben und jetzt vergriffen ist. Die erste vollständige
Ausgabe des Urtextes auf breiter und sicherer
handschriftlicher Basis lieferte 4. 1907 Karl Bihl-
meyer. An diese Ausgabe lehnte sich an die Auswahl,
die 5. 1910 Wilhelm Oehl (Sammlung Kösel) darbot
, und die zweibändige Ausgabe, die 6. 1911 Walter
Lehmann bei Eugen Diederichs in Jena erscheinen
ließ.

In welchem Verhältnis steht nun die vorliegende
Ausgabe von Nikolaus Heller zu ihren Vorgängerinnen
?

Der Herausgeber war von der Verlagsbuchhandlung
beauftragt worden, eine Neuauflage der Diepen-
brock'schen Ausgabe vorzubereiten. Er erkannte sehr
bald deren Mangelhaftigkeit, lehnte den Auftrag ab, erklärte
sich aber bereit, „eine völlig neue alle deutschen
Schriften Seuses umfassende und alles Fremdartige ausschließende
Ausgabe in der heutigen Schriftsprache zu
übernehmen", zumal da auf katholischer Seite eine
solche Seuse-Ausgabe nicht mehr existierte, nachdem
die Denifle's vergriffen war. Das „völlig neu" ist zunächst
auf die Textgrundlage zu beziehen. Heller
nimmt als einen besonderen Vorzug seiner Ausgabe in
Anspruch, daß sie „auf Grund der Handschriften" angefertigt
sei. Man versteht nun aber nicht, warum er nicht
den Text bei Bihlmeyer und für das „Exemplar" nicht
mit diesem die aus der Bibliothek des Johanniterhauses
zum grünen Wörth in Straßburg stammende Berliner
Hs., die Bihlmeyer „die älteste und beste Hs. des Exemplars
" nennt, zugrunde legt, sondern die Stuttgarter Hs.
(S bei Bihlmeyer), die früher im Besitz des Domiiü-
kanerinnenklosters Ötenbach bei Zürich, dann in Weingarten
war. Das „völlig neu" gilt ferner von der Übersetzung
. Heller ist wie Oehl möglichst konservativ verfahren
, während Lehmann sich vom Urtext freier gemacht
und sich bemüht hat „wirklich unserer Sprache sich
anzuschmiegen". Ich habe den Eindruck, daß sich die
Übersetzung von Lehmann noch besser liest und für
weitere Kreise noch geeigneter ist als die von Heller,
bei dem Einzelnes trotz der sorgfältigen erklärenden
Anmerkungen unverständlich oder doch schwer verständlich
bleibt (z. B. gleich S. 13 „den hailen Fisch, der da
Aal heißt" statt: den glatten Fisch). Heller's Ausgabe
soll sich zweitens durch Vollständigkeit auszeichnen.
In der Tat enthält sie über Lehmann hinaus das ungekürzte
Briefbuch (nach den Stuttgarter Hss. Bihlmeyer
s und s ') und außer den beiden „zweifellos echten" Predigten
Lectulus und Herum relinquo auch die übrigen,
die mit denen Taulers vermengt worden sind. Drittens
will die neue Ausgabe eine katholische sein, doch tritt
der spezifisch katholische Charakter außer in der äußeren
Aufmachung und in der Widmung: „Der Ewigen
Weisheit in demütigster Anbetung" kaum hervor; insbesondere
lehnt Heller Lehmann's Ausgabe nicht etwa
ab.

In der Einleitung nimmt Heller Stellung zu der
Frage, ob das Exemplar wirklich, wie der Prolog behauptet
, von Seuse zusammengestellt, und das „Leben"
wirklich, wie das Vorwort behauptet, eine Autobiographie
sei, ob nicht vielmehr Prolog und Vorwort erst nach

Seuse's Tod hinzugekommen seien, das Exemplar die
Arbeit eines Redaktors, das „Leben" eine Hagiographic
sei. Er beantwortet die Frage, Karl Rieder (Besprechung
der Ausgabe Bihlmeyer's in den Göttingischen
gelehrten Anzeigen 171) folgend, im Sinne der zweiten
Alternative. Das letzte Wort scheint mir indes hier noch
nicht gesprochen zu sein.

Zwickau i. S. O. C leinen.

Vogl, Carl: Peter Cheltschizki. Ein Prophet an der Wende der
Zeiten. Zürich: Rotapfel-Verlag (1926). (270 S.) 8°.

Im Jahre 1924 gab Vogl eine Übersetzung des
i „reifsten, geschlossensten und revolutionärsten" Werkes
i Peters aus Cheltschiz, „Das Netz des Glaubens" (geschrieben
um 1440) heraus (Th. Ltzt. 1925 Nr. 1, Sp.
15 f.). Es war nicht nur die erste deutsche, sondern
überhaupt die erste Übersetzung dieses alttschechischen
Werkes. Außerdem existierte nur eine russische
Übersetzung der Schrift Cheltschizkis „Von dreierlei
Volk" (St. Petersburg 1903). Nächstens wird Vogl
außer einer deutschen Übersetzung dieser (gegen die
Dreischichtung des Christenvolks in Herren, Priester und
Arbeiter gerichteten, um 1426 verfaßten) Schrift eine
Übersetzung der ersten Schrift Cheltschizkis „Vom
geistigen Kampf" (geschrieben in der 1. Hälfte 1421)
und von sechs Predigten aus der Postille (59 Homilien,
geschrieben nicht vor 1434) herausbringen. Die ganze
Gedankenwelt Cheltschizkis erschließt er uns in dem
vorliegenden Buche. Cheltschizkis Gedanken waren zu
i seiner Zeit nicht völlig neu — am meisten springt
| freilich die Übereinstimmung mit Tolstoi ins Auge, der
j erst 1888 auf den Tschechen aufmerksam wurde und
i über die zwischen ihnen bestehende Gedankengemeinschaft
ähnlich erstaunt war, wie Luther, als diesem
Wessels Schriften zu Gesicht kamen. Aber Vogl hat
recht, sowohl, wenn er die Originalität Cheltschizkis
gegenüber den Waldensern, Wiclif, Huß und den
Hussiten, auch gegenüber den drei Männern, „die im
engeren Sinne als Vorläufer der böhmischen Reformation
gelten": Konrad von Waldhausen, Militsch von
Kremsier, Matthias von Janov betont, als auch, wenn eisern
Vorwort beginnt: „Ein Prophet ist es, von dem in
diesem Buche die Rede sein soll. Einsam und ungekannt
steht er in seiner Zeit, wie alle wahren Propheten, ungekannt
und einsam ist er auch heute
noch". In RE3 ist Cheltschiz nur unter „Brüder, böh-
mische" (3, 447 f.) behandelt, in RGG nur unter „Huß
I und die Hussiten" (3, 208) erwähnt, während den oben
1 genannten drei böhmischen Vorreformatoren besondere
! Artikel gewidmet sind. Recht hat Vogl auch, wenn er in
| seinem Vorwort weiter schreibt: „Was er verkündet, ist
j Utopie, nie und nirgends ist es Wirklichkeit gewesen, so
rein, wie er es geschaut und kundgetan. Die nämliche Utopie
, für die Jesus von Nazareth den Märtyrertod erlitten
hat . . . Nicht darf man den Gegenstand der folgenden
Kapitel messen an den „realen Notwendigkeiten", an
der „historischen Kontinuität", an den „gegebenen Wirklichkeiten
", denn er redet von höheren Wesenheiten,
ohne die unsere Wirklichkeit gar nicht bestehen könnte."
Ich möchte hinzufügen: die Ideale, die diese Propheten
aufgezeigt haben, sind unerreichbar, aber immer werden
sie der Menschheit als weiße Sehnsuchtswölkchen
am fernen Horizont vorschweben; sie sind gar nicht
dazu bestimmt, erreicht zu werden, ihre Bestimmung ist,
die Menschheit stetig zu beunruhigen und qualvoll anzustacheln
. Darum sind auch die „Schwärmer" die
wahren Wohltäter der Menschheit, und nicht diejenigen,
die sich auf den Boden der Tatsachen stellen, sich den
bestehenden Zuständen akkommodieren und Kompromisse
schließen. Es ist niederschmetternd, wenn mau
die Entwioklungsreihe überblickt: Jesus (Mt. 5, 39),
Franziskus, Cheltschizky, Tolstoi, bis hin zu den
Männern, die heut diese Tendenzen vertreten, — und
sich vergegenwärtigt, wie schwach und sporadisch
bisher diese Gegenwirkungen gegen Welt und Gewalt
gewesen sind, und doch auch erhebend, zu