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Ausgabe:

1926 Nr. 2

Spalte:

40-41

Autor/Hrsg.:

Nötzel, Karl

Titel/Untertitel:

Die Grundlagen des geistigen Rußlands 1926

Rezensent:

Holl, Karl

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Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 2.

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ahnen von der geheimen Unsicherheit und den tiefgreifenden
Zweifeln, die nach dem Ausweis seiner Tage-
Bücher Tolstoi bis in die allerletzte Zeit hinein in Spannung
hielten. Eben darum erfährt man auch aus diesen
Briefen nichts darüber, wie sich die Schlußwendung, die
Flucht ins Kloster bei ihm vorbereitete. Es wird zwar
der Abschiedsbrief an seine Frau mitgeteilt, aber der Brief
erklärt nicht, warum Tolstoi das jetzt tut, was er an sich
schon längst hätte tun können.

Und doch bekommt man Tolstoi in diesen Briefen
von einer Seite her zu sehen, von der er sich sonst nicht
zeigt. Den hauptsächlichsten Inhalt bildet freilich das,
was T. sein Evangelium nannte, seine Predigt von dem
Gott, der im Herzen jedes Menschen wohnt, und der
daraus sich ergebenden Pflicht der unbedingten Menschenliebe
und des Nichtwiderstehens gegen dem Übel.
Aber T. ist in diesen Briefen genötigt, auf bestimmte
Fragen zu antworten — schade, daß die Briefe an ihn
nicht erhalten oder nicht abgedruckt sind —, und diese
Antworten geben zu seinem Evangelium mitunter eine
höchst befremdliche Erläuterung. Er dehnt auf der einen
Seite das Gebot des Nichtwiderstehens bis dahin aus, daß
man auch einen Verrückten nicht einsperren dürfe, auf
die Gefahr hin, von ihm getötet zu werden (S. 157).
Aber daneben billigt er die Haltung eines Nichtwider-
stehenden wie die: „Sie wollen mich ins Gefängnis werfen
— seien Sie so gut, gerade das wünsche auch ich.
Wollen Sie mich mit Ruten schlagen? Ich bin Ihnen
sehr dankbar für diese Aufmerksamkeit. Wollen Sie
mich hängen? In welche Schlinge befehlen Sie, daß ich
meinen Hals stecken soll" (S. 271). Daß solche höhnischen
Worte gewiß nicht aus dem Geist der Bergpredigt
heraus gesprochen und noch weniger geeignet
sind, wie T. meint, den Gegner innerlich zu überwinden,
hat er offenbar nicht empfunden. — Ein andermal antwortet
Tolstoi dem Bauern Novikow, der ihn unter leidenschaftlichen
Ausbrüchen über die satten Gutsbesitzer
und den Hund von Verwalter um Geld gebeten hatte,
zunächst mit einer eindringlichen Ermahnung, seinen
Seelenzustand zu ändern. Aber dann fährt er fort: „Aus
dieser Anschauung können Sie selber den Schluß ziehen,
daß, wenn ich auch Ihren Wunsch erfüllen könnte (ich
kann das aber nicht, da ich gar kein eigenes
Geld besitze), ich das doch nicht tun würde,
da ich sehr viele Menschen antraf und kenne, die bei
weitem dringender als Sie Geldunterstütziuig bedürfen"
(S. 237). Man sieht, das Gebot: „Wende dich nicht von
dem, der dir abborgen will", hat T. nicht ebenso als ein
unbedingtes betrachtet, wie das andere, dem Übel nicht
zu widerstehen. Die Sache wird aber dadurch noch peinlicher
, daß derselbe Tolstoi, der hier erklärt, kein eigenes
Geld zu besitzen, in einem andern Fall selbst Geld anbietet
und ausdrücklich dabei bemerkt „Ich habe solches
, über das ich verfügen kann" (S. 284).
— Lehrreich ist auch, wie er seinen Begriff von Liebe
(Liebe in erster Linie = Selbstvervollkommnung) gegen
den Vorwurf zu verteidigen sucht, das sei in Wahrheit
Egoismus (S. 203), während er doch gleichzeitig mit
Eifer den Satz verteidigt, daß jede Einwirkung auf einen
andern, vollends etwa durch die Predigt:, unmöglich und
unnötig sei (S. 215 und 242). Wozu schreibt dann T.
eigentlich seine Bücher? Und wie unsicher wird derselbe
T., der sonst nur Haß gegen die orthodoxe Kirche zu
kennen scheint, wenn Rechtgläubige ihn treuherzig zur
Rückkehr in die Kirche auffordern. Er gesteht solchen
Leuten viel mehr zu, als er eigentlich dürfte, ja, T. kann
sich sogar einmal selbst ganz ernsthaft daran erbauen,
wie er eine Frau zweifelhaftester Vergangenheit sich unaufhörlich
vor den Heiligenbildern verneigen und bekreuzigen
sieht (S. 308). — Stärker als in diesen Proben
tritt selbst in den Tagebüchern das Unausgeglichene
in T. nicht hervor.

Berlin. Karl Holl.

Nötzel, Karl: Die Grundlagen des geistigen Rußlands. Ver

such' e. Psychologie d. russ. Geisteslebens. 4.—7. Tsd. Leipzig:
H. Haessel 1923. (VIII, 308 S.) 8°.

Das 1915 geschriebene, 1923 bereits in dritter
Auflage erschienene Buch stellt sich die Aufgabe, den
deutschen Leser auf einem neuen Wege in den „allgemeinen
Charakter des russischen Geisteslebens einzuführen
". N. will nicht ausgehen von „einem im Grund
doch nur willkürlich angenommenen national-russischen
Naturell", sondern „von den Hauptkulturschicksalen:
Rußlands", um aus ihnen „die verschiedenen Äußerungs-
seiten des russischen Geistes" abzuleiten. Der Versuch
ist schon methodisch lehrreich, aber es ist außerordentlich
schwer, über den ungemein verwickelten Inhalt
des Buchs in Kürze zu berichten. Sechs Hauptkulturschicksale
unterscheidet N. 1. Die allgemeinen
Kulturschicksale d. h. die Zwischenlage zwischen
Asien-Europa, die offenen Grenzen und die Bedrohung
durch die asiatischen Nomadenvölker. Daraus ergebe
sich beim Russen das Verständnis für die Notwendigkeit
der nationalen Verteidigung, die darauf sich gründende
Volkstümlichkeit des Zartums, die Spannung gegen
das „undankbare" Westeuropa und die Richtung des
Denkens auf ein diesseitiges, materielles Glück der Gesamtheit
. 2. Das Christentum. Aus ihm, willsagen
aus dessen orthodoxer Auffassung stamme das religiöse
Überlegenheitsgefühl des sich als rechtgläubig
wissenden Russen, der Traum einer in Brudersinn geeinten
Menschheit, die Abneigung gegen den Staat und
der mangelnde Sinn für geregeltes Denken. 3. Das Tar-
tarenjoch, das mit der Unterdrückung des ganzen
Volkes zugleich die Zurückdrängung des hohen Adels
und andrerseits die Anfänge des Landkommunismus gebracht
habe. Darauf gehe zurück die Gewöhnung an
den Zwang, die Pflege des Innenlebens, das Übergewicht
des Gefühls über das Denken, der schrankenlose
Subjektivismus, der doch unbedenklich selbst wieder Andersgesinnte
vergewaltige oder verleumde. 4. Der russische
Despotismus. Dieser habe die Entwicklung
des Rechtsgefühls und die richtige Würdigung des
Staats verhindert, aber doch vermöge der planmäßigen
Züchtung des Nationalstolzes, der Zwangserziehung (vor
allem auf den Gymnasien) und der Zensur Bleibendes in
den Volkscharakter hineingebracht; selbst da, wo man
ihn leidenschaftlich haßte. 5. Die Leibeigenschaft.
Sie hat nach N. den Bauern selbst am wenigsten geschadet
. Denn die Sittlichkeit auf dem Lande blieb auf
einer bewundernswerten Höhe. Aber um so mehr schadete
sie dem „Seelenbesitzer". Das Unfehlbarkeitsbe-
wußtsein und die geschlechtliche Zügellosigkeit der Herrenschicht
, sowie die Unerzogenheit der gebildeten
Stände sind die Früchte der unbeschränkten Verfügungsgewalt
, die dem Gutsherrn über seine Leibeigenen
zustand. Das Bewußtsein der Unwürdigkeit dieser Zustände
gibt dann der klassischen Literatur der Russen
ihren eigentlichen Inhalt. Denn in ihr handle es sich nicht
sowohl um die politische Freiheit, als um die Forderung
der sozialen Gerechtigkeit. 6. Das soziale
Elend des russischen Volkes. Unter dieser Überschrift
behandelt N. die Entstehung und Entwicklung
des Sozialismus in Rußland. Soziales Empfinden war
und ist als Sozialästhetismus und Sozialasketismus innerhalb
der russischen Intelligenz lebendig. Aber es
blieb bloßes Empfinden, oder wo es zur Tat wurde, war
der Terror seine einzige Waffe. Demgegenüber bedeutete
der Marxismus einen entschiedenen Fortschritt.
Er erst gab dem russischen Volk ein Verhältnis zur
Wissenschaft und stärkte den einzelnen in dem Glauben
, daß er selbst dazu mithelfen könne, die goldene
Zukunft herbeizuführen.

Soweit N. Unzweifelhaft enthält das Buch eine
Fülle schlagender, wenn auch nicht durchweg selbständiger
Beobachtungen. N. selbst erkennt an, wie viel er
Miljukow verdankt. Daneben stören freilich empfindliche
Mängel. Der nicht sehr glückliche Aufbau des