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Ausgabe:

1926

Spalte:

37-38

Autor/Hrsg.:

Daffis, Hans

Titel/Untertitel:

Inventar der Grimm-Schränke in der Preußischen Staatsbibliothek 1926

Rezensent:

Wolff, Ludwig

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Seite 1

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Pls wieder die niclvtabwälzbare persönliche Verantwortung
vor Gott in ihrer ganzen Schärfe empfunden
und darum auch das Wunder der Gnade neu erlebt hat.
Er ist damit der Erneuerer des abendländischen Christentums
. Luthers Bedeutung besteht zweitens in seiner
auf allen Gebieten moderner Kultur greifbaren Nachwirkung
. Ritter zeigt diese Wirkungen besonders am
deutschen Geistesleben auf, an Kant und Fichte, Hegel,
ja Nietzsche. Luther erst hat—damit greift der Verf. auf
das am Eingang Gesagte zurück — „dem metaphysischen
Wesen des Deutschen zum Selbstbewußtsein verholfen".
Wie schon viele vor ihm, stellt aber auch Ritter sich die
Frage, ob Luther nicht mit wesentlichen Bestandteilen
seiner Lehre, mit seinem Glauben an die natürliche Bosheit
des Menschengeschlechts und an das Regiment des
Satans, ein Stück Mittelalter ist, das die moderne Welt
schlechterdings nicht mehr erträgt. Seine Antwort ist für
den Wandel der Anschauungen in den letzten Jahren mehr
als charakteristisch. Er findet Luthers genannte Anschauungen
durchaus nicht fremdartig, sondern uns im
Gegenteil sehr naheliegend. Daß diese Welt und ihre
Menschheit des Satans ist, scheint ihm eine Erkenntnis,
die in den hinter uns liegenden fürchterlichen Jahren
jedem Ernsthaften aufgedämmert sein sollte. Darum
hat gerade uns Luther etwas zu sagen. An Luthers
Stellung zum Staat verdeutlicht es Ritter zum Schluß,
daß Luthers Mut zur Wirklichkeit nicht Kapitulation vor
der Wirklichkeit war, sondern Kampf für die Idee in
der Wirklichkeit.

Die Schlußbetrachtung gewährt uns in die Motive, aus denen
dies Buch entstand, einen Blick. Hier ist einem, der inmitten eines
armen und schwachen Geschlechtes sich mit den Gestalten der Vergangenheit
auseinandersetzte, die Gestalt Luthers übermächtig geworden.
Aus dem referierenden Historiker ward so der Zeugnis ablegende
Bekenner. Denn Ritters „Luther" ist ein Bekenntnisbuch. Es will kein
wissenschaftliches Buch sein. Auch die äußere künstlerisch geschmackvolle
Aufmachung spricht dagegen. Im Buch selbst sind sogar
fremdsprachliche termini technici „eingedeutscht". Die Fundorte der
Zitate sind nicht angegeben. Wissenschaftliche Anmerkungen fehlen
völlig. Ritter will weiteren Kreisen in gemeinverständlicher Forin das
Bild Luthers veimitteln, wie es in seiner Seele lebt. Das ist ihm
meisterhaft gelungen. Das „Dämonische" an Luther, worauf es Ritter
offenbar vor allem ankam, kommt packend heraus. Nirgends ist die
Sprache blaß. Auch die Darstellung von solchen Partieen, die schon

Der erstaunlich reiche Inhalt der Grimmschränke,
die von dem Schaffen der Brüder und ihrem geistigen
Austausch mit andern Persönlichkeiten so beredte Kunde
geben, wird hier in sorgsamer, knapper Katalogisierung
vor uns ausgebreitet und damit erst zu fruchtbarer Verwertung
voll erschlossen. Im Vorwort schildert Daffis,
der den Druck des Buches nicht mehr erlebt hat, auf
aktenmäßiger Grundlage, wie die Schränke mit ihrem
allmählich wachsenden Inhalt durch Schenkung Hermann
Grimms und seiner Geschwister in den Besitz der
Preußischen Staatsbibliothek gekommen sind. Sie enthalten
eine außerordentlich große Zahl von Briefen
(nach den Absendern alphabetisch katalogisiert), Urkunden
, Zeugnisse und Denkstücke zur äußeren Lebensgeschichte
, handschriftliche Vorarbeiten und wissenschaftliche
Notizen, Handexemplare eigener und fremder
Veröffentlichungen und schließlich noch verschiedene
Stücke aus ihren Sammlungen, worunter eine Reihe
Bruchstücke von Handschriften. Das Buch gibt weiter
auch ein umfangreiches Verzeichnis der übrigen auf die
Brüder Grinnn bezüglichen Bestände der Handschriftenabteilung
. Sic setzen sich wieder aus Handexemplaren,
Briefen und persönlichen Erinnerungen zusammen. Nach
einer Zusammenstellung von Philipp Strauch werden
endlich noch die Handschriften aus dem Nachlaß der
Brüder Grimm verzeichnet, unter denen sich neben alten
Originalhandschriften sehr viele Abschriften befinden.

Der Anhang des Buches veröffentlicht zwei Stücke,
die ganz in das persönliche Leben der Brüder hineinführen
, und bei deren Niederschrift sie nicht an fremde
Augen dachten. Es sind von Jacob „Besinnungen aus
meinem Leben". Sie vergegenwärtigen Erinnerungen aus
der Kindheit und halten Tatsachen aus der Jugend bis
zum Jahre 1815 fest. Von Wilhelm lesen wir die Blätter,
die er in den Jahren 1811—13, als er bei längerer
Krankheit seinen Tod vor Augen sah, als Andenken für
seinen Bruder niederschrieb. Jedem, dem die unvergleichlichen
Persönlichkeiten menschlich nahegekommen
sind (und welchem Leser ihrer Werke wären sie das
nicht?), wird es eine Freude sein, diese Aufzeichnungen
zu lesen, aus denen unmittelbar ihr Wesen zu uns spricht.
Das Buch ist geschmückt mit dem bekannten Biow-

sehr häufig behandelt sind (Wonns,"wartburg), zeigt Plastik. j Siclilingschen Stich der Brüder Grimm.

Ritter wird es uns indes nicht verargen, wenn Göttingen. Ludwig Wolff.

wir, wie es in dieser Rezension geschehen ist, sein
Buch nicht nur als Bekenntnisbuch, sondern auch nach
seiner Stellung innerhalb der gegenwärtigen Luther-

Keller, Pfarrer Gottfried: Werden und Wirken der Evangelischen
Gesellschaft des Kantons Schaffhausen v. 1873—1923. Schaffforschung
und Lutherdeutung beurteilt haben. Denn i hausen: Buchdr. K. Bachmann 1924. (29 S. m. 5 Taf.) 8°.

den Kirchenhistoriker interessiert es zu wissen, wie sich,
auch in Einzelheiten, das Lutherbild im Bewußtsein eines
Profanhistorikers spiegelt, und wie weit die in den letzten
Jahren auf theologischer Seite stark gepflegte Erforschung
Luthers in die Profanhistorie hinübergewirkt hat.
Das Buch Ritters zeigt an seinem Teil, in wie starkem
Maße eine solche Hinüberwirkung vorliegt. Nicht nur in
historischen Einzelheiten, sondern auch in der Beurteilung
ist eine starke Übereinstimmung mit den Anschauungen
theologischer Forscher da. Und zwar ist es, was
die Beurteilung anbetrifft, bezeichnenderweise nicht mehr
Troeltsch, der die geistesgeschichtlichen Akzente bestimmt
, sondern Holl. — Diese Einordnung in den Zu-
sa/Pmennang der Forschung bedeutet indes nicht einfach
Abhängigkeit. Vielmehr liegt in Ritters Luther, wie im
Vorhergehenden schon gezeigt wurde, eine aus eigenster
Kenntnis der Quellen und selbständigem Urteil geflossene
Leistung vor. Auch der Spezialforscher wird
sie mit Gewinn lesen. — Uns über das Erscheinen dieses
tsuches zu freuen, haben wir allen Grund.

*L_______ Fritz Blanke.

° -tiliEl Hc,"s:. Inventar der Grimm-Schränke in der Preu-
rn a h StaaItsbibli0thek, bearb. Mit e. Bildnis d. Gebrüder Grimm.
w/-iiTi Jacob Grimm: Besinnungen aus meinem Leben 1814.

Wilhelm Grimm: An den Bruder jacob. 1811-13. (Aus Handschriften
der Grimm-Schränke.) Leipzig: K.W. Hiersemann 1923.

Iksv '^ . BlattCT) 4° - Mitteilungen aus d. Preuß.
Staatsbibliothek, 5. „

1 Km. 10—.

Die Gründung der Evangelischen Gesellschaft
Schaffhausens im Jahre 1873 ist, wie so viele Gründungen
ähnlicher Gesellschaften in der Schweiz, eine
Frucht der großen kirchlichen Kämpfe und sozialen
Bewegungen vom Anfang der 1870er Jahre. Ihr Wirken
bestand ursprünglich in Evangelisationsarbeit; mit
der Zeit kamen hinzu: Betrieb eines Bücherdepots, eines
Vereinshauses, eines Asyls für Heimatlose und Gebrechliche
. Die führenden Männer waren die Pfarrer
Gottlob Kirchhofer, August Bächtold, Eduard Frauenfelder
. Lehrreich ist, was über die positiven und negativen
Beziehungen zwischen der Evangelischen Gesellschaft
und dem Werk der Pilgermission St. Chrischona
gesagt wird.

Basel. Ernst Stae heiin.

Tolstoi, Leo: Religiöse Briefe, übers, u. hrsg. v. Karl Nötzel.
Saliner/.: Gemeinschafts-Vcrl. E. Arnold. (358 S. m. e. Bildnis.) 6*.

Hm. 4—; geb. 5—

Die vorliegende Sammlung der religiösen Briefe
Tolstois umspannt den Jahreszahlen nach die Zeit von
1859—1910. In Wirklichkeit freilich entfällt auf den Abschnitt
vor 1888 nur ein ganz kleiner Teil, 18 der 237
Briefe. Es ist also in der Hauptsache der fertige Tolstoi,
den wir vor uns haben. Als ein seiner Sache Gewisser
tritt Tolstoi denn auch tatsächlich in diesen Briefen vor
uns hin. Besäße man nur sie, so würde man nicht*