Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1926 Nr. 1

Spalte:

501-504

Autor/Hrsg.:

Tischleder, Peter

Titel/Untertitel:

Die Staatslehre Leos XIII 1926

Rezensent:

Koch, Hugo

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

501

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 19/20.

502

Druck der herrschenden Machtparteien scharf hervorgehoben. Und der
Dichter, der mit seinem dämonischen Personahsmus zunächst einem
Napoleon gehuldigt und jeden Widerstand gegen ihn für unmöglich
erklärt hatte, bewies doch mit seinem „Epimenides", daß er den in
seinem Sinne „dämonischen" Charakter der Freiheitsbewegung wohl zu
würdigen gelernt hatte: Nemo contra Deum nisi Deus ipse,
heißt es auch hier.

Vor allem aber, wo bleibt Goethe mit seiner nicht bloß in ein
paar Divanversen, sondern durch ein ganzes Leben erwiesenen
Schätzung der „Persönlichkeit" als „höchsten Olücks der Erdenkinder
", wo bleibt der Dichter der „Urworte", wenn der Romantik
nachgerühmt wird, daß „sie zuerst die Persönlichkeit als Individualität
" verstanden hat? Wir geben v. Below ohne weiteres zu, daß
alle diese Anregungen bei der Romantik zur Blüte gekommen sind —
noch mehr, daß ihre Entfaltung hier ein Ausmaß und eine Dynamik
annimmt, die sie ihren Vorbedingungen nicht mehr „adäquat" erscheinen
läßt. Dennoch zweifeln wir, ob wir nach rückwärts einen so
scharfen Schnitt machen dürfen wie unser Führer tut; nicht minder,
ob wir nicht eher späterhin eine Grenze zu ziehen hätten. In
einem sehr reizvollen und ergiebigen Abschnitt seiner Geschichts-
er/ählung stellt er Leo und Ranke einander gegenüber und zeigt, wie
dieser eigentlich erst die Geschichtsforschung auf ihre eignen Füße
stellte durch die bewußt und meisterlich gehandhabte Kritik der
Quellen. Nun wurzelt freilich das Quellenstudium recht eigentlich
in der Romantik, wie v. Belew deutlich zeigt, und in der Schätzung
der Quellen steht sie sicher diesseits von Goethe, mindestens von den
abwertenden Betrachtungen seines „Faust" im ersten Gespräch mit
Wagner. Aber besteht nicht ein sehr deutlicher Unterschied zwischen
der Quellenbcnutzung der eigentlichen Romantik und derjenigen
eines Ranke? Romantiker sind i. a. schlechte Herausgeber, selbst
dichterischer Werke. Und wann hätte sich ein Romantiker reinsten
Geblütes darum bemüht, aus den Quellen abzulesen, „wie es eigentlich
gewesen ist"? Hier scheidet sich J. Grimm, der natürlich zeitlich
der romantischen Generation angehört, von den „Liederbrüdern", ja
sogar (man denke an das Schicksal der „Kinder- und Hausmärchen")
von seinem Bruder Wilhelm. Vielleicht könnte man den Gegensatz so
ausdrücken: der Romantiker greift aus der Kette der geschichtlichen
Tatsachen die einzelnen Glieder oder Komplexe niederen Grades
heraus, wie sie zu seiner wertenden und wertdurstigen Seele sprechen
und sucht von hier aus unmittelbar zu Gott vorzudringen; Ranke gibt
sich ganz und gar dem objektiven Zusammenhange der Tatsachen
hin: insofern jedes einzelne in diesen Zusammenhängen besteht, die
nichts Zufälliges sind, ist es „unmittelbar" zu dein „Gott", der in der
Geschichte sich offenbart. Und hier scheint mir Ranke viel eher das
erfüllt zu haben, was Goethe der Folgezeit übrig gelassen hatte.

Das alles hindert nicht daran, v. Below zuzugestehen
, wie nachhaltig die Romantik und, (was er zu erhärten
sucht) parallel mit ihr die Hegeische Philosophie
das geschichtliche Denken des Jahrtuinderts befruchtet
hat. Daß v. Belows Bewertung ihres Einflusses
zum Teil durch seine politische Stellungnahme mit bedingt
ist, läßt sich nicht leugnen und nicht übersehen.
Wer da weiß, daß ohne eine solche Einstellung in
geschichtlichen Dingen nichts Großes, Zusammenfassendes
gewagt werden kann, wer diese Tatsache im Auge
behält und von da aus v. Belows Werk betrachtet, dem
wird es eine Fülle von Belehrung und, was mehr wert
ist, von fruchtbaren Anregungen gewähren, auch da,
wo es zum Widerspruch herausfordert. Nicht zum wenigsten
auf dem Gebiete der Religionsgeschichte, die
ja auch in dem „klassischen" Zeitalter unsers Geisteslebens
keineswegs zu ihrem Rechte gekommen war.
Hier darf v. Belows Wort bestehen bleiben: Erst „als
die Romantik und die Erneuerung des religiösen Lebens
am Anfang des 19. Jahrhunderts den Blick für das
Gemeinsame und Bleibende in all den verschiedenen
Gestaltungen der Lehre geschärft hatte, wußte man den
bunten Wechsel der dogmatischen Vorstellungen der
Vergangenheit als die individuell und temporär bedingte
Ausgestaltung des durch Christus der Menschheit gebrachten
neuen religiösen Lebens zu würdigen".

Hamburg. Roberl Petsch.

Tischleder, Dr. Peter: Die Staatslehre Leos XIII. München-
Gladbach: Volksvereins-Verlag 1925. (XVI, 538 S.) gr. 8°.

Rm. 8—; geb. 10—.
Tischleder, Verfasser des Buches .Ursprung und
Träger der Staatsgewalt nach der Lehre des hl. Thomas
und seiner Schule' (1923), hat im vorliegenden Werke
sein Bestreben, wie er im Vorwort selber sagt, darauf

ferichtet, eine möglichst erschöpfende Darlegung der
taatslehre Leos, und zwar in systematischer Gliederung
und Anordnung aller seiner auf Staat und Politik sich beziehenden
Äußerungen in den verschiedensten Kundgebungen
zu erreichen und dabei immer die von Aristoteles
über Thomas auf Leo einmündende Entwicklungslinie
, die er die naturrechtliche nennen möchte, aufzuzeigen
. Und da er ebenso praktischen wie wissenschaftlichen
Zwecken dienen will, führt er die wichtigsten
Äußerungen Leos nicht bloß im Zusammenhang
seiner eigenen Darlegungen in deutscher Übersetzung,
sondern auch im Anhang in ihrem ursprünglichen (lateinischen
, französischen oder italienischen) Wortlaut
mit Bezeichnung des Fundortes an. So ist das Buch als
,rasch und zuverlässig unterrichtendes Nachschlagewerk
gedacht, das dem Benutzer die zeitraubende Mühe der
selbständigen Quellenbenutzung ersparen soll, ohne doch
irgendwelcher Oberflächlichkeit Vorschub zu leisten'.
Diesen Zweck erreicht der Verfasser vollauf, zumal
da auch ein sorgfältiges Namen- und Sachverzeichnis
beigegeben ist. Man hat den Eindruck, daß die Kundgebungen
Leos von seiner Bischofszeit in Perugia an
nach ihrem Ertrag für eine Staatslehre vollständig ausgeschöpft
und in ihrem Zusammenhang mit, gelegentlich
auch in ihrem Abgehen von der Lehre des hl.
Thomas richtig beleuchtet sind. Das geschieht in gewandter
Sprache und Darstellung, die bei dem etwas
engen Druck noch gewonnen hätte, wenn mehr Absätze
gemacht worden wären. Auch die neuzeitlichen Anschauungen
sind, meist als Gegensätze, immer wieder
herangezogen. Gegliedert ist das Buch in folgende
Hauptabschnitte: die Naturrechtslehre, der Urprung des
Staates (im metaphysischen, nicht im geschichtlichen
Sinne), sein Wesen, sein Zweck und seine Aufgabe, die
Staatsgewalt, die Staatsform, Staat und Kirche, der
Kirchenstaat oder die weltliche Unabhängigkeit des
Papstes, das Völkerrecht. T. ist natürlich von Bewunderung
erfüllt für die aus Leos Anschauungen hervorleuchtende
Weisheit, und von katholisch-kirchlichem
Standpunkt aus verdienen sie auch wirklich diese Bewunderung
, manche davon verdienen sie überhaupt.
Anderseits fehlt es auch nicht an schüchternen Ansätzen
zur Kritik, z. B. S. 19 f. gegenüber der Zurückführung
alles Unheils im Staatsleben auf die religiösen Neuerungen
des 16. Jahrhunderts, wogegen T. mit Recht auf
den Nominalismus und die Renaissance, besonders auf
Macchiavelli hinweist. Er hätte noch hinzufügen können,
daß die Loslösung des politischen Lebens von aller sittlichen
und göttlichen Ordnung niemand meisterlicher
handhabte als Alexander VI. und sein Sohn Cesare.
S. 344 f. bemerkt er, daß der Hirtenbrief des Bischofs
von Perugia vom 12. Febr. 1860 über den Kirchenstaat
,in seinen Behauptungen weitergeht, als die ruhige und
rein wissenschaftliche Erörterung der Frage billigen
kann'. Namentlich erscheint auch ihm der Versuch mißlungen
, die Notwendigkeit der weltlichen Gewalt aus
dem Begriff der geistlichen Höchstgewalt zu erweisen.
Dieser Versuch scheitert ja in der Tat schon an der
Geschichte, wie denn überhaupt Leo XIII., dieser weitherzige
Eröffner des vatikanischen Archivs, selber mit der
Geschichte zeitlebens aufgespanntem Fuße stand und sich
nicht selten Blößen gab, wenn er sich auf ihr Gebiet
verirrte. Auch S. 355 ff. fühlt T. den Widerspruch,
der darin liegt, daß Leo bei allem Recht, das er sonst
der Zeit als ,der großen Umgestalterin alles Irdischen'
einräumt, allein die weltliche Herrschaft des Papstes
ausgenommen wissen will, und man merkt, daß er von
der Begründung auch nicht befriedigt ist. Daß das
Zurückfordern des Kirchenstaates auch mit der Dienstanweisung
' bei Mt. 5, 40 nicht in Einklang steht, sei
nebenbei bemerkt. Die Abweisung der Ansicht ' von
L. C. Goetz, daß Leo ,mit der Intervention auswärtiger
Mächte gedroht' habe (S. 380), ist wenig berechtigt.
Es ist durch Bischof Bonomelli von Cremona bekannt
geworden, daß Leo längere Zeit mindestens auf einen