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Ausgabe:

1926 Nr. 18

Spalte:

479-480

Autor/Hrsg.:

Meurer, Waldemar

Titel/Untertitel:

Gegen den Empirismus 1926

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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479

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 18.

480

liehen Autonomie jedem Vorurteilsfreien allzudeutlich zu Gerniite geführt
", nicht als ein Argument gegen Kant geltend lassen. Die Bedeutung
der kantischen Ethik besteht ja gerade darin, daß sie die
Verbindlichkeit des Sittengesetzes und seine Erhabenheit über alle
Willkür und jede sonstige empirische Bedingtheit zu begründen sucht,
was freilich endgültig auch erst dem Idealismus infolge seiner Oberwindung
des aufklärerischen Individualismus gelungen ist. Aber
jedenfalls: hätte die Gegenwart nicht die ungeheuerliche Lüge begangen
, Kant zu dem Philosophen des Sozialismus zu machen, wäre
ihrem Bewußtsein Kant lebendiger gewesen als Marx, so wäre die
Wirklichkeit für uns Nachgeborene weniger „rauh". Auf keinen Fall
aber scheint es uns möglich, die von Kant eroberten Positionen wieder
zu verlassen und auf den Standpunkt des Katholizismus zurückzukehren
.

Göttingen. J. Binder.

Hessen, Johannes: Erkenntnistheorie. Berlin: F. Dümmler
1926. (151 S.) 8°. = Leitfäden d. Philos., 2. Bd. geb. Rm. 3.50.
Als Leitfaden, der in möglichst einfacher Form den Anfänger
mit den erkenntnistheoretischen Grundbegriffen vertraut machen soll,
und der ihm zugleich eine Bekanntschaft mit den wesentlichsten historischen
Trägern der jeweiligen Problemlösungen vermitteln möchte, ist
das Büchlein brauchbar. Über Möglichkeit, Ursprung, Wesen und Arten
der Erkenntnis, über Wahrheitskriterium und Kategorienprobleme wird
ein nach den verschiedenen Ismen gegliederter Bericht gegeben, der
jeweils das Wesentliche knapp und klar heraushebt. Es läßt sich wie
ein erkenntnistheoretisches Wörterbuch benutzen, das auch dann
seine Dienste leisten kann, wenn man auf andere Weise als durch
Leitfäden seinen Eingang in die Philosophie sucht. Gewonnen hätte
die Darstellung gerade in dem von ihr erstrebten Sinn, wenn sie rein
aporetisch geblieben wäre. Denn die überall beigebrachten kritischen
Bemerkungen sehen wie billiges Zurechtweisen und Besserwissen
aus, weil es ihnen natürlich an der tieferen Begründung gebrechen
muß. Ebenso wäre es für die große Linie des Überblicks
besser gewesen, wenn der Verfasser von den neuesten Größen noch
eine ganze Anzahl aufzuführen unterlassen hätte. Die starke Berücksichtigung
von Geyser und Messer z. B. scheint mir in der Sache
nicht gerechtfertigt. Auf die vielen schiefen historischen Urteile
kann hier nicht eingegangen werden.

Bremen. Hinrich Knittermeyer.

Meurer, Waldemar: Gegen den Empirismus. Leipzig: F. Meiner
1925. (XXXVI, 568 S.) 8°. Rm. 12—; geb. 15—.

Mit heißem Bemühn wird in Form vor allem einer Kritik der
empirischen Wissenschaft der Versuch unternommen, ein neues Wissen
zu verkünden. Der Wille geht auf das Größte, und auch der breit
ausgeführte kritische Teil hat einen merkwürdig sicheren Blick für das
wirklich Bedeutende gerade in der neueren Literatur. Um so mehr
wundert man sich, daß der Aufwand solchen Ernstes und solcher
Mühe fast vergeblich bleibt. Die 1. Abhandlung sucht „das Grundproblem
" voraus zu deuten. Im „Grundeinsichtigen, dem Mutterschoß
alles Psychischen, Logischen, Seelischen" muß „unverrückbare Sicherheit
" bestehen, ehe ein Schritt in die Erkenntniswelt getan werden kann.
Auf diesen ersten 15 Seiten stürzt daher fast alles, was bisher den
Menschen für eine Stütze der Erkenntnis gegolten hat. Uber der
Ahnungslosigkeit der empirischen Wissenschaften steigert sich die
neue Wissensüberzeugthedt des Verfassers derart, daß er sie leibhaftig
sich gegenüber sieht: „Ihr Wissenschatten alle, die ihr einst wart,
und ihr empirischen Wissenschaften, die ihr jetzt weit und breit die
einst blühenden philosophischen Gärten mit Stumpf und Stil ausrotten
wollt, ihr alle seid Wissen ... Wohlan! dann könnt ihr alter nicht
Wahrheit kund tun, denn die höchste Aufgabe, die Wissenschaft
stellt, habt ihr alle noch garnicht gesehen . . ." (19). Diese Aufgabe,
das neue Wissenschaf tsproblcm, das Niemand bislang sah, faßt er
in den Satz zusammen: „Wissenschaft ist ein Inhalt, ausgezeichnet
durch das Scinsmerkmal, etwas in jedem Fall Bestimmtes und als
solches ursprünglich: logisch, psychisch, seelisch" (20). Die 2. Abhandlung
: „Hie empirische Wissenschaft! Hie Handeln nach Ideen!"
proklamiert die Untrcnnbarkeit von Handeln und Wissen. Die auf
allen Lebensgebieten sich äußernde Zerfahrenheit der Gegenwart, wie
sie in A. Schweitzers Kulturphilosophic auf die Spitze getrieben sich
zeigt, wie sie aber seit Descartes und Kant im Prinzip schon ge-
geben war, läßt sich nur dadurch überwinden, daß das neue Wissen
auch das Handeln bindet. Die 3. Abhandlung bietet eine Kritik
Franz Brentanos, der als Beispiel für die „empirische Geistesverfassung
" der Gegenwart genommen wird. Die 4. und Hauptablnnd-
Iung endlich: „Zur Kritik der empirischen Wissenschaft" sucht den

Gegner in seinem Zentrum zu treffen und damit zugleich das eigene
Fundament in seiner Unüberwindlichkeit zu erhärten. Unter Empirismus
versteht er dabei immer den „Standpunkt des Gegebenseins"
(183) im weitesten Sinne. Durch das Gegebene bleibt die empirische
Wissenschaft an den „Alltag" geknüpft, an das „Leben und die Bedürfnisse
der Einzelnen" (561). Für die ursprüngliche Wissenschaft
wird „mit Einem Schlage die ganze Bühne verwandelt", das Wissen
in seiner „durchsichtigen, einleuchtenden Klarheit" mit den „Momenten
" des „Ansich, der Ausschließlichkeit, Alleingültigkcit, Zeit-
losigkeit und des Erlebniswertes" schließt sich auf, indem mit seiner
Erkenntnis zugleich auch die „Gefühlsscite" neugeboren wird. An die
Stelle der „individuellen Gefühlsweise" tritt die „Pflicht", die den
„eigenen Weg" in seiner kompromißlosen Notwendigkeit bestimmt.
„Blindheit und Widerwillen gegen alles, was nicht aus der Höhe des
Erlebnisses und seiner Innerlichkeit strömt, wie Rücksicht auf des
Lebens Vorteile, Glück, Häuslichkeit, die bindet, der man Untertan
ist, Familienleben, das verpflichtet, gegen all diese schmeichlerischen
Einflüsterungen, welche von dem eigenen Wege ablenken wollen",
das ist der Kern der neuen Ethik, für die alles möglich ist, was
man will und tun muß (562). Damit wäre das Buch des Verfassers
zur Genüge gekennzeichnet, und man würde der Ankunft des neuen
Menschen sich zu gewärtigen haben; es sei denn, daß man solcher
Neuerungslust längst sich entwöhnt hätte.

Bremen. Hinrich Knittermeyer.

Hilbert, D. Gerhard: Ersatz für das Christentum! 3., verm
Aufl. Leipzig: A. Deichert 1925. (96 S.) gr. 8°. Rm. 3—.

Das Buch hat mit Recht einen wachsenden Leserkreis gefunden.
Es bietet vorbildliche Apologetik. Dem fragenden, vielleicht angefochtenen
Christen hilft es zu klarer Orientierung. Drei Vorzüge verdienen
besonders hervorgehoben zu werden. Der erste ist das ernsthafte
Bemühen, dem Gegner gerecht zu werden. Die als Religionsersatz
auftretenden Formen der Kunst, Wissenschaft, Moral und
dogmenfreien Religiosität werden eingehend dargestellt unter reichlicher
Verwendung wörtlicher Zitate aus den Reihen ihrer Vertreter.
Dadurch wird dem Leser der Weg zu wirklicher Auseinandersetzung
gewiesen und gebahnt. Der zweite Vorzug ist der, daß nirgends eine
Widerlegung des Gegners durch Anzweiflung seiner Motive oder durch
Anfechtung seiner einzelnen Behauptungen versucht wird. Vielmehr
wird er ganz praktisch konfrontiert mit den Lebenswirklichkeiten Not,
Sünde und Tod und gezeigt, wie er vor ihnen den Menschen im Stiche
läßt und nicht hält, was als Ersatz der Religion zu bieten er versprach
. Der dritte wichtigste Vorzug der Hilbertschen Apologetik
ist der, daß die Auseinandersetzung mit dem Gegner zum Anlaß
wird, das Wesentliche am Christentum kraftvoll und klar heraus zu
arbeiten. Das ist die entscheidende Hilfe, die der Apologet dem Angefochtenen
geben kann, daß er vor seinen Augen die schlichte Klarheit
des Christentums aufleuchten läßt und von seiner Lebenswahrheit
Zeugnis gibt. Am schärfsten ist diese Herausarbeitung im 4. Abschnitt,
wo bloßer Religiosität gegenüber die überwältigende Gegenständlichkeit
des an Gottes Wirklichkeit allein orientierten Christentums erwiesen
wird.

Kiel. Heinrich Rendtorff.

Rellin, Max: Das Kind in der Gesellschaft. Abriß der Jugendwohlfahrt
in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Ausschnitt aus
Sittengeschichte, Rechtsgeschichte, Gesellschaftslehre und Sozialpolitik
. München: E. Reinhardt 1925. (XVI, 535 S.) 4°. Rm. 10—.
Das ganze Gebiet der Jugendwohl fahrt wird hier nach verschiedenen
Seiten hin behandelt. Die väterliche Gewalt, die Vormundschaft
, die Jugendfürsorge, die Sorge für die Armen und Waisen,
für die Verwahrlosten und die Abgearteten; Mutter-, Säuglings- und
Kinderschutz, das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz — das alles wird
ausführlich dargestellt; alle gesetzlichen Bestimmungen, Organisationen,
Funktionen und Abgrenzungen der einzelnen Arbeitsgebiete werden besprochen
. Der Blick beschränkt sich nicht auf Deutschland, sondern
es werden alle andern Länder herangezogen, in denen es ähnliches gibt.
Die ganze Darstellung verbindet mit dieser systematischen Behandlung
die geschichtliche; nicht nur wird die Entwicklung jedes einzelnen
der genannten Zweige der Gesamtarbeit zur Anschauung gebracht,
sondern es erweitert sich immer auch der Blick zu einer umfassenden
Behandlung der Geschichte der Erziehung überhaupt, der christlichen
Lichestätigkeit, besonders der Innern Mission. Durch das Ganze geht
ein einheitlicher Gedanke hindurch: das beste Heilmittel Ist immer
die Erziehung, nicht das Gesetz und der Zwang. So bietet das Buch
eine Sozialpädagogik im christlichen Geist und zwar in einer sehr
angenehmen und feinen Gestalt.

Marburg. F. Niebergall.

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 25. September 1926.

Verantwortlich: Prof. D.E.Hirsch in Göttingen, Bauratgerberstr. 19
Verlag der J. C. H i n r ic h s'schei; Buchhandlung in Leipzig, Blumengasse 2 — Druckerei Bauer in Marburg.