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Ausgabe:

1926 Nr. 17

Spalte:

451-453

Autor/Hrsg.:

Giese, Gerhardt

Titel/Untertitel:

Hegels Staatsidee und der Begriff der Staatserziehung 1926

Rezensent:

Binder, Julius

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Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 17.

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von nicht ganz 100 Seiten in knappster Darstellung eine
große Fülle des Materials bietet und trotz der durch den
Charakter des Büchleins gebotenen Kürze erkennen läßt,
daß der Verf. seinen Stoff mit philosophischem Geiste
durchdrungen hat. Der Verf. führt seinen Leser von
den Vorsokratikern bis in die unmittelbare Gegenwart,
wobei es ihm nicht um eine lückenlose Darstellung,
sondern um eine Auswahl nach dem Gesichtspunkt der
„historischen Mächtigkeit" der Systeme (S. 2) zu tun
war. Dabei mag sich freilich in Bezug auf die Systeme
der Gegenwart für manchen Leser die Frage erheben,
ob dieses Auswahlprinzip wirklich und richtig durchgeführt
worden ist. Auch inhaltlich bietet das Werkchen
gelegentlich Anlaß zu Ausstellungen; z. B. vertritt der
Verf. noch (S. 9) die Auffassung, das Ideal des platonischen
Staates sei „völliger Produktions- und Konsump-
tionskommunismus" gewesen, was in dieser Allgemeinheit
bestimmt unzutreffend ist. Die Polis Piatons besteht
nicht nur aus ihren Wächtern und nur für diese herrschenden
Stände hat Piaton seinen Kommunismus durchgeführt
, und auch das nach richtiger Ansicht nur in der
Politeia, nicht mehr in den Gesetzen. Immerhin kann
das kleine Buch bestens empfohlen werden.

Güttingen. J. Binder.

Giese, Dr. Oerhardt: Hegels Staatsidee und der Begriff der
Staatserziehung. Halle a. S.: M. Niemeyer 1926. (X, 185 S.)
gr. 8°. Rm. 6.50; geb. 8—.

Hegels Philosophie des Geistes und vor allem seine
Rechts- und Geschichtsphilosophie ist wie keine andere
Philosophie vor- und nachher imstande, durch ihre
Dialektik den Gegensatz zwischen dem Einzelwillen und
der Gesamtheit, zwischen Individuum und Staat, an dem
wir seit dem Einbruch des positivistischen Denkens in
Deutschland so schwer gelitten haben, zu überwinden.
So knüpfen sich einige der wenigen Hoffnungen, die
wir in Bezug auf die Zukunft Deutschlands noch hegen
können, an diese Restauration der Hegeischen Philosophie
. Unter diesen Umständen muß das Buch' von
Dr. Gerhard Giese als eine recht erfreuliche Erscheinung
begrüßt werden. Denn es versucht, eines der
vielen schweren Probleme der Gegenwart, mit denen der
sie beherrschende Individualismus nicht fertig werden
kann, unter Beschwörung des Geistes Hegels zu lösen
— und dieser Versuch scheint im Wesentlichen gelungen
zu sein. Durchaus geglückt scheint mir zunächst sein
Unternehmen, den Kern der Hegelschen Philosophie in
seiner Einheitlichkeit zu erfassen und von ihrem religiösen
Ausgangspunkt aus festzuhalten. Demgemäß
knüpft der Verf. an die Theologischen Jugendschriften
an, die auch uns heute als zum Verständnis des Hegelschen
Systems unentbehrlich erscheinen, entwickelt in
kurzen Strichen den wesentlichen Inhalt des Systems an
der Hand der „Enzyklopädie", um dann den Schwerpunkt
auf die Rechts- und Geschichtsphilosophie zu verlegen
, wobei er vor allem der ersteren mit klarem Blick
und gutem Urteil gerecht zu werden sucht und sie insbesondre
gegen das eingewurzelte Vorurteil, Hegels
Universalismus bedeute die Vernichtung des Individuums
, mit guten Gründen zu verteidigen weiß. Bedeutet
doch Stahls Kritik dieses Universalismus nur
eine Verkennung, die im Grunde nur vom Standpunkt
eines eingefleischten Individualismus einigermaßen begreiflich
wird, und wäre Hegel der Letzte gewesen, der
das Recht der Persönlichkeit und vor allem das Recht
der Person auf „Lebensinnerlichkeit" verneint hätte.
Dieses Recht der Person wird vom Verf. an der Hand
des richtig verstandenen Hegel scharf herausgearbeitet
und damit im Grunde schon die Voraussetzung gewonnen
für die Behandlung des Erziehungsproblems.

Ich muß hier leider darauf verzichten, dem Verf. auf seinem
Weg im Einzelnen zu folgen und mich darauf beschränken, auf seine
Erörterung vor allem zu den drei dialektischen Stufen des abstrakten
Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit hinzuweisen, wobei er es
an guten und vor allem auch kritischen Bemerkungen nicht fehlen
läßt, die sich zum Teil mit dem von mir in meiner „Philosophie

des Rechts" eingenommenen Standpunkt, vor allem zu dem „Staat
der Sittlichkeit" als dem wahren Staate eng berühren. (II. Abschnitt
S. 28—81).

Auch der Abschnitt über die Nation und den Staat
(S. 82—118) bietet zu kritischen Ausstellungen kaum
einen Anlaß; vor allem scheint es mir verdienstlich,
wie der Verf. die Einheit von Nation und Staat im Sinne
Hegels betont und durch den Gegensatz Herders beleuchtet
(S. 98 ff.). Zuzustimmen ist auch seiner Polemik
gegen Heller, (Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke
1921) nach dem bei Hegel „in der Rangordnung
seiner Werte immer der Staat zu höchst stehen
soll", sodaß er stets der absolute Wert wäre, und die
Ideen des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen „nur
einen relativen, auf den Staat bezogenen Wert" hätten,
womit mir nur die alten Vorwürfe, wie sie das Unverständnis
Schopenhauers und seines Nachbeters Nietzsche
gegen Hegel erhoben hat, wiederholt zu sein scheinen.
Mit Recht macht ihnen gegenüber der Verf. geltend
(S. 102 f.), daß Hegel in seinem System den absoluten
Geist, in dessen Bereich doch Kunst, Religion und Philosophie
fallen, über den objektiven Geist stellt, dessen
Krönung doch nur der Staat bedeutet, um dann zu
zeigen, daß es keineswegs Hegels Ansicht entspricht,
daß der einzige objektive Zweck von Kunst, Religion
und Wissenschaft sei, „die Staatsmacht zu stärken",
wie es vor Heller besonders Nietzsche behauptet hat.
(S. 104 f.). Aber freilich gehören sie zum geistigen
Leben der Nation, das nur in der Form des Staates
denkbar ist, und insofern hat dann auch der Staat Anteil
an diesen Lebensäußerungen und ein Interesse daran,
„daß in dem Staat neben dem Regiment der wirklichen
Welt auch das freie Reich des Gedankens selbständig
emporblühe" (Ena S. LXXIIf.) und darf er behaupten,
„die Philosophie stehe vornehmlich oder allein im
Staatsdienst". Nur Oberflächlichkeit oder böser Wille
kann solche Äußerungen mißverstehen. Denn in der
Tat ist damit nichts anderes gesagt, als daß ohne Staat
„ein geistiges Leben, eine Kultur überhaupt nicht möglich
ist" (Giese S. 104) und daß, wie wir hinzufügen
können, alle diese Lebensäußerungen der Nation in
steter Wechselwirkung stehen und eine Einheit bilden,
einander gegenseitig Defruchtend, sodaß auch der Staat
ihnen nicht nur das Leben ermöglicht, sondern auch von
ihnen wieder Leben empfängt. Ich glaube, an allen
Mißverständnissen dieser Meinung Hegels ist schließlich
doch nur schuld, daß man den organischen Staatsbegriff
Hegels nicht zu fassen vermochte und an dem
alten Unbegriff des Obrigkeitsstaates, der schließlich ja
auch der der liberalen und demokratischen Opposition
ist, festgehalten hat.

Von dieser Grundlage aus übt der Verf. dann in
seinem vierten und letzten Abschnitt Kritik an dem
Ideal der Nationalerziehung der individualistischen Pädagogik
des 19. Jahrhunderts (S. 128 ff.) und beklagt es,
daß auch Hegel für die Erziehung nicht fruchtbar geworden
ist (S. 129). Er erkennt — und das ist die
wertvolle Frucht dieser Arbeit, — daß der modernen
Pädagogik und vor allem auch „den Vertretern der
staatsbürgerlichen Erziehung" „die Staatsidee" fehlt,
„die philosophische Besinnung auf das Wesen des
Staates, das unbedingte politische Ethos, das nur aus
einer geistigen Gesamtanschauung des Lebens herauswächst
" (S. 132). Und so erscheint ihm, und m. E.
mit Recht, „das Wesen des Staates, wie es in Hegels
Staatsidee erfaßt ist", als „der leuchtende Fixstern, nach
dem wir uns auf dem Weg durch die dunkle Nacht

! dieser unendlich schwierigen Fragen richten müssen".

! Dabei tauchen dann freilich neue Probleme vor uns auf,

i vor allem das der „parteilosen Staatspädagogik" (S.
135). Aber auch dieses Problem muß schließlich bewältigt
werden, und es will mir — auch darin wohl mit
dem Verf. übereinstimmend — scheinen, daß wir nur

| die richtige Erziehung zum Staate überhaupt brauchen,
so wie er uns von Hegel dargestellt worden ist, damit