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Ausgabe:

1926 Nr. 17

Spalte:

445-449

Autor/Hrsg.:

Köhler, Walter

Titel/Untertitel:

Zwingli und Luther. Ihr 2. Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen 1926

Rezensent:

Schubert, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 17.

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Cusanus. Seine Gliederung ermöglicht es ihm also, die
Tatsache zur Geltung zu bringen, daß der Höhepunkt der
philosophischen Reflexion im Renaissancezeitalter in
Deutschland liegt. Gegenüber den Leistungen eines Cusanus
hat die florentinische Akademie in der Tat in
den Schatten zu treten. Derartige Abstufungen wird man
in den bisherigen Darstellungen der Renaissancephilosophie
, die in nebeneinanderstehende Schulen oder in
Nationen eingeteilt sind, vergeblich suchen.

Unter den „Auswirkungen" der Renaissancephilosophie
nennt Riekel Namen wie Ramus, Taurellus, J.
Böhme, Grotius u. a. Hier zeigt sich ein Mangel seiner
Periodisierflng. Denn die genannten Philosophen haben
entscheidende Anstöße nicht nur von der Renaissance, sondern
von der Reformation empfangen. Der Verf. weist
dies auch z. T: selbst nach. Er beschreibt also, wo er
die Auswirkungen der Renaissance darstellt, zugleich,
ohne sich dessen voll bewußt geworden zu sein, die
Ansätze einer neuen, von der der Renaissance verschiedenen
Philosophie. Diese Tatsache aber, daß der Verf.
die Philosophie der Renaissance und der Reformation
darstellt, hätte in der Anordnung des Stoffes (ev. schon
in der Betitelung des Buches zum Ausdruck gebracht
werden sollen.

Die Darstellung ist anschaulich und flüssig geschrieben. Was
das Inhaltliche betrifft, so ist man erstaunt, auf verhältnismäßig kleinem
Raum im allgemeinen das Wesentliche über die einzelnen Philosophen
zu erfahren. Nur der sonst guten Darstellung des Cusanus und
der des Qiordano Bruno ist der enge Raum zum Nachteil geraten.
Der spätere Cusanus kommt hinter dem früheren zu sehr zu kurz Die
Weiterbildungen, die Cusanus den Lehren von De ignorantia und De
coniecturis gegeben hat, hätten erwähnt werden müssen Bei Oiordano
Bruno kommen die Unausgeglichenheiten seines Systems nicht zur
Sprache. Bei Pico von Mirandula hätte der Kampf gegen die Astrologie
, durch den Pico am meisten gewirkt hat, erwähnt werden
sollen. Warum fehlen unter den deutschen Naturphilosophen Koperni-
kus und Kepler, bei denen Einflüsse des Cusanus und des Neuplatonis-
mus nachgewiesen sind? Eine dankenswerte Beigabe ist das ungemein
charakteristische Bildnis des Paracelsus von Holbeln.

Königsberg (Pr.). Fritz Blanke.

KS hl er, Walter: Zwingli und Luther. Ihr 2. Streit über das
Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen.
I. Bd.: Die religiöse und polit. Entwicklung bis zum Marburger
Religionsgespräch 1529. Leipzig: M. Heinsius Nachf. in Komm.
1924. (XIII, 851 S.) 4°. = Quellen u. Forschgn. z. Rcfor-
mationsgesch., Bd. 6. Rm. 20—.

Durch ein besonderes Mißgeschick ist eine Besprechung
des großen Werkes in diesem Blatte bisher
ausgeblieben. Wie irrig es wäre, wenn der hochverdiente
Verfasser daraus auf Nichtbeachtung in Deutschland
schließen sollte, könnte ihn allein ein Blick in Otto
Ritschis eben erschienenes Buch „Die reformierte Theologie
des 16. und 17. Jahrh." zeigen. Es gibt schwerlich
jemand, der nicht gleich diesem das Werk „überaus
gründlich und dankenswert" fände. Köhler besitzt eine
Reihe wichtiger Voraussetzungen für die vorliegende
Aufgabe; ein genauer Kenner Luthers, ist er heute unübertroffen
in der Kenntnis Zwingiis; ein gelehrter
Einzel forscher, der doch stets die bewegenden Ideen
sieht und der religiösen Grundlage nachspürt; ein
Deutscher aus dem Wuppertal, in dem Lutherisches
und Reformiertes hart nebeneinanderstehen, und nun in
der Schweiz eingelebt, in Zürich an den Quellen der
Zwingliforschung sitzend; eine von Haus aus irenische
Natur, die keine Freude daran hat, aufeinander angewiesene
Menschen auseinanderzuführen, umso mehr aber,
ihr Gemeinsames aufzusuchen, ein Mann, der das Vorwort
dieses Buches über den ersten großen Protestantenstreit
mit dem Wunsche der concordia fratrum schließen
kann. Nicht nur als Zeichen äußeren Dankes, sondern
mit innerem Rechte ist das Werk der lutherischen
Fakultät zu Christiania gewidmet, die aus gleicher Empfindung
heraus ihm vor fünf Jahren zur Erinnerung an
den Wormser Reichstag ihren Ehrendoktor schenkte.

Das Buch entsprang einem alten Plane, die Geschichte
der Wittenberger Konkordie zu schreiben. Zu
diesem Zweck hat Köhler ein gewaltiges Material zusammengebracht
, das hier erst zur Hälfte in einem ersten
Teil (bis zum Marburger Gespräch ausschl.) verarbeitet
vorliegt — auf 851 Seiten. Diese Aufschwellung ist vor
allem veranlaßt durch die überaus genauen Referate über
die Schriften, nicht nur der großen Führer, sondern
auch der vielen kleinen Trabanten, die um die beiden
Sonnen kreisen (nam. Kap. 4 u. 9). Diese Ausführlichkeit
, über deren Berechtigung man streiten kann, hat
jedenfalls den großen Vorzug, daß man schwer erreichbares
Material nun hier bequem beieinander findet und
durchweg das angenehme Gefühl hat, auf sicherem
Boden zu stehen. Zudem handelt es sich um besonders
feine, nicht leicht zu fassende Schattierungen in einer
knifflichen, in scholastische Formen eingewickelten Kontroverse
. Da Köhler über einen flüssigen Stil verfügt,
so lesen sich gerade diese Excerpte leicht und gut.
Dazu aber kommt, daß der Verfasser über alle bisherigen
Behandlungen des Stoffes hinaus zweierlei mit vollem
Bewußtsein der Wichtigkeit neues hinzubringt und dadurch
unsere Erkenntnis in der Tat erheblich fördert.
Einmal, daß er den Zusammenhang des dogmatischen
Streits mit der kirchenpolitischen Lage in der Schweiz,
der innerevangelischen Kontroverse mit der gemeinsamen
katholischen Gegnerschaft aufweist. Es wird
j vollkommen deutlich, wieviel komplizierter und also
j schwieriger die Lage des Schweizers, übrigens auch so
I vieler Süddeutscher, war als die der Wittenberger
; Führer, die von ihrer sicheren kursächsischen Stellung
j aus operieren konnten. Das zweite ist, daß dem Ganzen
eine neue Untersuchung der Abendmahlslehre Zwingiis
in ältester Gestalt vorangestellt ist. Dabei ergibt sich,
daß ihm eine andere Luther verwandtere Auffassung ursprünglich
eigen war, die, von erasmischer Mystik bedingt
, die Realpraesenz gelten ließ (der wichtige Brief
an Th. Wyttenbach, jetzt auch in der geschickten Zusammenstellung
in Köhlers neuestem Buch, „Das Buch
der Ref. Huldr. Zw.'s" 1926, S. 27 ff.). Da auch bei
Luther die ursprüngliche Auffassung weniger schroff war,
als die spätere und das Geistige, den Glauben stärker,
das Dingliche weniger betonte, so ergibt sich schon von
hier aus, daß eine Vereinigung selbst der Führer nicht
völlig außer dem Bereiche der Möglichkeit lag. Das
führt auf einen weiteren bedeutenden Fortschritt, den
das Köhlersche Buch bringt. Der Verfasser hat das
Ohr, in dem Geschwirr all der Stimmen die Töne zu
hören, die schließlich zu einem Einklang führen konnten.
Diese Linie, die Richtung auf unsinnliche Fassung der
leiblichen Realpräsenz, für die Jakob Strauß — durch
die Spirifualisiemng des Leibes Christi — eine über-
| raschend große Rolle spielt, die sich bei Zwingli in der
amica exegesis anmeldet, bei Oekolampad ganz deutlich
wird („er hat auf Zwingli gedrückt und war mit Me-
I lanchthon befreundet") und schließlich sich zu der
! Straßburger Aktion von 1528/29 verdichtet, wird mit
großer Feinheit und Sicherheit herausgearbeitet. Man
sieht weit klarer als bisher, wie es nicht nur zu den
Marburger Artikeln, sondern auch zu der Marburger
Unionsformel über das Abendmahl kommen konnte,
die zwar nicht mehr in Marburg, aber 1534 in Stuttgart
und 1536 in Wittenberg die Grundlage der Verständigung
bildete — das Thema des zweiten Bandes, der uns
hoffentlich rechtzeitig d. h. vor 1929 beschert wird.

Über diese, der Abendmahlskonkordie zustrebende
Linie hinaus führt die Schlußbetrachtung, die dem vielfach
so unerquicklich und eng anmutenden Abendmahlsstreit
eine befreiende universalgeschichtliche Bedeutung
zuspricht und auf die Unionsgedanken unserer Gegenwart
hinweist — Gedanken, die der Verfasser schon in
der Festgabe für Karl Müller (S. 198) dargelegt hat:
zwar nicht die Lutheraner, wohl aber Zwingli und die
Seinen, unter stärkerer Beeinflussung der Antike und des
Erasmus stehend, vermochten es, über die dogmatische
Differenz im Abendmahl hinweg das Gemein-Evangelische
und damit das „Wesen des Christentums" zu
erfassen — wozu ich freilich dreierlei anmerken möchte,