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Ausgabe:

1926 Nr. 16

Spalte:

427

Autor/Hrsg.:

Müller, Karl

Titel/Untertitel:

Die religiöse Erweckung in Württemberg am Anfang des 19. Jahrhunderts 1926

Rezensent:

Bossert, Gustav

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427

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 16.

428

Müller, Prof. Karl: Die religiöse Erweckung in Württemberg
am Anfang des 19. Jahrhunderts. Tübingen: J.C.B. Mohr
1925. (V, 52 S.) 8°. Rm. 1.80.

Auf der Heilbronner Jahresversammlung des Vereins
für württembergische Kirchengeschichte hat der
verdiente Vorstand Professor Karl Müller der landesgeschichtlichen
Forschung einen neuen Weg gewiesen.
Es fehlte nicht an tüchtigen Arbeiten über die württembergische
Erweckungsbewegung; Chr. Kolb, F. Buck,
W. Claus, J. Berner und K. Hoffmann hatten solche geliefert
und auch die Beziehung der Brüdergemeine zu
Württemberg berücksichtigt. Aber der Verf. hatte schon
1920 betont, daß man die provinziellen Vorgänge nicht
für sich allein, sondern im Zusammenhang und Vergleich
mit den Ereignissen in anderen Gebieten betrachten
müsse, um ihre Bedeutung und Eigenart beurteilen
zu können. So behandelt er den für die ganze deutsche
Kirchengeschichte bedeutsamen Gegenstand aus dem Anfang
des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von der Dürre
des Rationalismus und des in Württembergs vorherrschenden
Supranaturalismus schildert der Verf. zuerst
die Lage um 1826, die Beziehungen zwischen dem erstarrenden
Pietismus und der um Neubelebung der
Kirche bemühten Brüdergemeine, die mit einer kleinen
württembergischen Predigerkonferenz unter Danns Führung
in Verbindung stand. Es folgt eine feine Würdigung
des mit 30 Jahren schon verstorbenen Ludwig
Hofacker, des gewaltigen Büß- und Erweckungspredi-
gers. Seine Einseitigkeit wurde ausgeglichen durch seine
in der württembergischen Kirche zur Geltung kommenden
Gesinnungsgenossen und Freunde A. Knapp, S. C.
Kapff, J. T. Beck u. a. Als Wirkungen der Bewegung
stellt K. Müller die auch anderwärts beobachtete Vertiefung
des Pfarramts, Belebung der Gemeinschaften,
Weckung des Missionssinnes und des Bibelverständnisses
fest. Dann zeigt er, wie der Einfluß der Schleier-
macherschen Religiosität und der zeitgenössischen Philosophie
sich geltend machte. Das Jahr 1848 brachte die
Auseinandersetzung mit der Politik. Als Charakteristikum
der württembergischen Erweckungsbewegung tritt
hervor die Betonung des Seelenheils, welches auch die
an der Bewegung hervorragend beteiligten Pfarrerskreise
ernster nehmen als die Kirche; während in Preußen
Hengstenbergs Kirchenzeitung, in Bayern eine wissenschaftliche
Zeitschrift aus der Bewegung herauswachsen,
tritt in Württemberg ein Erbauungsblatt hervor.
Die Beteiligung des Pfarrerstandes hielt den Separatismus
fern und sicherte unter Wahrung des
biblischen Grundes allerlei Sonderrichtungen das
Dasein. Der bedeutsame Schlußabschnitt bringt den
Vergleich mit den Vorgängen in anderen Gegenden, vor
allem im östlichen Preußen und in Bayern. Überraschend
ist vor allem der Nachweis der Verbindung der bayerischen
Bewegung mit der Philosophie Schellings. Tho-
masius hatte schon die Bedeutung von Theodor Lehmus
erkannt, aber K. Müller zeigt nun den Einfluß von
Schellings Methode des akademischen Studiums auf den
ursprünglich rationalistisch gesinnten Anfänger der
Lutheranisierung Bayerns. Ein kurzer Überblick über die
Ausbreitung des erweckten Luthertums mit seinen vielgestaltigen
Ausgängen in weiteren deutschen Landen
schließt die Schrift ab, welche den Wunsch nach einer
groß angelegten Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts
wachruft. Im Anhang wird der packende Bericht L. Hofackers
über die Zustände der württembergischen Kirche
von 1828 aus dem Archiv der Brüdergemeine mitgeteilt,
welcher seither auch in Württemberg nur in Knapps
Auszug bekannt war, ebenso die außerhalb Württembergs
wohl wenig bekannte Schilderung, welche S. C.
Kapff von Schleiermachers Besuch in Tübingen im Oktober
1830 gab.

Horb. Q. Bossert.

Kade, Dr. phü. Franz: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung
des preußischen Bildungswesens von 1808—1818.

Mit e. bisher ungedr. Votum Schleiermachers. Leipzig: Quelle fV
Meyer 1925. (XI, 208 S.) gr. 8°. Rm. 7—.

Diese Untersuchung stellt in lichtvoller Weise den
Anteil Schleiermachers an den Reformen des niederen
und höheren Schulwesens, des Universitätswesens und
der Berliner Akademie der Wissenschaften dar. Ihre
Zuverlässigkeit gründet sich auf eine ausgiebige und unmittelbare
Benutzung der Archivbestände. Ein sehr wichtiges
Votum Schleiermachers vom J. 1814, das zum
ersten Mal im Anhang abgedruckt wird, bildet den
Ausgang, eine Beleuchtung seiner Reformvorschläge
aus seiner pädagogischen Theorie den Höhepunkt des
Buches. Es ist eine Freude, Schleiermachers hervorragende
und weithin maßgebende Mitarbeit auf dem
Felde des preußischen Bildungswesens hier kennen zu
lernen. Während er in den systematischen Grundfragen
der Philosophie und Theologie einen merkwürdigen
Glauben an doch recht dünne rein wissenschaftliche Deduktionen
zeigt, die der Wirklichkeit keineswegs gerecht
werden, läßt sein pädagogisches Wirken und Denken,
wie Verf. oft betont, gerade eine in seiner Zeit unübertroffene
Lebensnähe und einen beträchtlichen Wirklichkeitssinn
erkennen. Hinzu kommt sein sozial-politischer
Wille, der ihn auch gegenüber dem einseitigen Neuhumanismus
seiner größten Zeitgenossen nach neuen
Wegen und Zielen ausschauen läßt. Volksschule und
Bürgerschule sind für ihn nicht bloße Durchgangsstufen
zum Gymnasium, sie haben ihren eigenen Wert
und ihr eigenes Maß. Alte Sprachen haben auf der
Bürgerschule nichts zu schaffen, dafür können die
Muttersprache mit ihrem „Reichtum von Verstand und
Schönheit" („Interpretation deutscher Schriften"), Mathematik
und Physik, alle in ihrer Weise von hohem bildenden
Wert, zu ihrem Recht kommen. Die höheren
Schulen selbst sind keine Fachschulen, sondern vermitteln
die allgemeine Bildung derer, die zum wissenschaftlichen
Studium berufen sind, eine ganze, die naturwissenschaftliche
wie die geschichtliche Seite umfassende
Bildung. Überall tritt das den Besten jener Zeit eigene
Bemühen hervor, die alte mechanische, leblose Unterrichtsweise
zu verdrängen und einem lebendigeren, auf
Weckung der Kräfte bedachten, tatsächlich bildenden
Unterricht Bahn zu machen. Die Stufen der Emporführung
endigen in der Universität, deren Wesen von
niemand tiefer erfaßt ward als von Schleiermacher.
Mit Recht tritt Verf. der Meinung (Sprangers) entgegen,
als sei für ihn die Universität nur Lehr- und Lerninstitut
und verkenne er ihre eigentlichste Aufgabe der Produktion
des Wissens. Wie sollte das möglich sein bei
dem, der die Philosophie als schöpferisches Denken gerade
der Universität vorbehält und in ihr den gestaltenden
Mittelpunkt alles Studiums erblickt! So zerstreut
auch die»Erörterung des Verhältnisses von Theorie und
Praxis mannigfache Mißverständnisse in der heutigen
Literatur (bei Heubaum, Rolle, Thiele, Natorp). Von
einer Zwiespältigkeit kann bei Schleiermacher in der
Tat keine Rede sein, wenn man alle seine Vorschläge
und Äußerungen in ihren Zusammenhängen wahrnimmt.
Der Begriff der Einheitsschule ist vieldeutig; einem
Typus, der von oben her konstruiert ist, setzt Schleiermacher
einen andern von unten her sich organisierenden
entgegen. Die Gymnasien sieht er in ihrer Überbetonung
der alten Sprachen in Gefahr, Spezialschulen zu
werden und die wahre Universalität zu sehr zurücktreten
zu Tassen. Die Aussöhnung des klassischen und
des modern-realistischen Bildungsideals ist hier schon als
Ziel ergriffen. Bereits dringt bei ihm die Idee der allgemeinen
Volksschule durch. Dem Verfasser ist zuzustimmen
, daß durch alle Kundgebungen Schleiermachers
ein einheitlicher Zug hindurchgeht. Ob dabei nicht
doch eine größere Beweglichkeit, eine gewisse sich ausreifende
Klärung über das Mögliche und Notwendige,
anzunehmen sei, darf immerhin gefragt werden. Bei
einem Mann wie Schleiermacher ist das von vornherein
wahrscheinlich. — Diese mit methodischer Umsicht ver-