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Ausgabe:

1926 Nr. 11

Spalte:

309-310

Autor/Hrsg.:

Lhotzky, Heinrich

Titel/Untertitel:

Religion oder Reich Gottes. Eine Geschichte. 2., durchges. Aufl 1926

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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309

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 11.

310

Ob sich auf den kritisch-realistischen Wahrheitsbegriff
(145) eine wirklich fruchtbare „induktive Metaphysik
" und eine „wissenschaftlich begründete Weltanschauung
" (153) gründen läßt, ob die Scheidung
zwischen dem „Glauben an Werte" und dem „Wissen
vom Seienden" (172) als endgiltige Antwort auf die
Hauptfrage des Buches sich wirklich halten und mit dem
Anspruch des reflektierenden Verstandes auf das oberste
Gericht in Weltanschauungs- und Glaubenssachen vereinigen
läßt? Schon der Freiheitsglaube enthält ein
Seinsurteil. Hier kann nur die Erhebung zur speku- !
Btiven Betrachtung weiterführen, die über die gegensätzlichen
Momente der (bloß empirischen) Seinsurteile
und der ebenso abstrakten Werturteile hinüber greift.
In diese Richtung weist die platonische Zusammenschau
der Idee des Guten mit der der Wahrheit (S. 82).

Der Verf. hat sich seinen Weg nicht leicht gemacht;
und das sichert ihm unsere höchste Achtung. Solchen,
die in jener Gefahr stehen, seien die nachdenklichen
Briefe besonders empfohlen. Und er scheint sich seinen
Weg auch weiterhin nicht leicht machen zu wollen;
auch an dem Weg, der vielleicht noch vor ihm liegt,
und auf dem ihn unser warmes Interesse begleitet, sieht
er manches Fragezeichen stehen (vergl. 14.—16. Brief).
Auch der als Möglichkeit angedeutete Übergang vom
ethischen Idealismus zum Gottesglauben (119) klingt
in ein solches „vielleicht" aus; es streiten in dem Verf.
die Hinneigung zu einem rein religiösen Katholizismus
und zu einem freisinnig-individualistischen Protestantismus
. Luther und Schleiermacher scheinen ihm noch
gleich fern zu stehen. Der Übergang in den akademischen
Lehrberuf hat, wie der 2. Teil zeigt, die skeptische
Grundhaltung, die den Erben des 19. Jahrb.
eigen ist, eher wieder verstärkt. Andrerseits hat er sich
neuerdings außer mit Nietzsche auch mit Karl Barth
literarisch befaßt. Er steht also wohl, wenn ein solches
Urteil erlaubt ist, nicht am Abschluß seiner Entwicklung
; man fühlt ihm ab, daß er persönlich mehr sagen
könnte, es aber der Öffentlichkeit noch nicht preisgeben
mag. Wir ehren diese Zurückhaltung. Wiederum:
mancher von unseren heutigen Stürmern und Neuromantikern
könnte von der Selbstzucht und Gewissenhaftigkeit
dieses Denkers lernen, der lieber arm er-
scheinen als Reichtum vortäuschen will. Darauf liegt 1
mehr Verheißung als auf manchen großen Worten des
Tages. Von solch schlichter Bescheidenheit und gegen
eigene Wünsche strengen Wahrhaftigkeit, worin der
Verf. mit den Nöten des Daseins ringt, können gerade
wir Theologen lernen. Dies ehrfürchtige Sichfuhren«
lassen von der Wahrheit —schließt es nicht den verborgenen
Grund letzter Gewißheit in sich?

Besigheim (Württ.). R. Paulus

Lhotzky, Heinrich: Religion oder Reich Gottes. Eine Geschichte
. 2., durchges. Aufl. Ludwigshafen: Haus Lhotzky Verl.
1Q24. (VII, 352 S.) 8°. Rm. 3.50; geb. 5—.

Man wird von diesem „Kommentar", richtiger dieser freien,
erläuternden Nacherzählung der Apostelgeschichte keine Gelehrsamkeit
erwarten. Immerhin darf man, ohne die Absichten des Verf. zu
verkennen, bemerken, daß eine stärkere Berücksichtigung der Paulusbriefe
— wenn nicht zur Kritik, so doch zur Ergänzung — sowie
etwas mehr an zeitgeschichtlichem und geographischem Anschauungsmaterial
durchaus am Platze gewesen wäre. Gleichwohl, was
wir bei Lhotzky suchen, eine lebensvolle, dramatische Schilderung,
so daß wir mit steigendem Interesse, ja Spannung seiner Darstellung
folgen, wird uns in der Tat geboten. Aber wer L. kennt, erwartet
noch mehr, eine eigentümliche Akzentuierung, eine ganz besondere
Beleuchtung, neben Ursprünglichkeit und Großzügigkeit auch
einige Eigcnwilligkeit der Auffassung. Auch in dieser Hinsicht
kommt man auf seine Rechnung.

L. ist nicht der erste, der die Geschichte des Urchristentums
unter dem Gesichtspunkt der Spannung zwischen der Jerusalemer
Gemeinde und Paulus darstellt, aber meines Wissens der erste, der
s,e, statt in den Paulusbriefen, zwischen den Zeilen der Apostelgeschichte
liest, die man sonst durchweg als Dokument des Ausgleichs
würdigt. Diese Gegensätzlichkeit wird ferner von ihm eigenartig
bestimmt und zwar so, daß keineswegs Lehrtypen, sondern ausschließlich
Lebensweisen sich gegenüberstehen. Er läßt uns nämlich
durch Lucas erzählen, wie der Auferstandene sein Reich, d. h. neues,
wunderbares, kindliches, frohes, von Kräften überfließendes Wesen,
baut und ausweitet, erst durch Petrus und die übrigen Apostel, dann,
als diese nach prächtigen Ansätzen seinen Willen nicht verstanden
und sich weder von Jerusalem noch von jüdischem Religionswahn
trennen konnten, folglich den Geist abflauen ließen und, obschon
gelegentlich aufgerüttelt (Korneliusgeschichte), je länger je mehr
veräußerlichten und erstarrten, durch Stephanus und nach dessen
Tode durch Paulus. Aber auch in dessen Brust zeigt er uns zwei
Seelen und läßt uns miterleben, wie der Apostel, der in beispiellosem
Siegeszug das Reich Gottes in die Welt getragen, seine
Schritte nach Jerusalem zurücklenkt, dort von Jakobus umgarnt
wird und in jüdisches Formenwesen fällt, zwar alsbald vom Herrn
zurückgerissen wird, aber seine alte Kraft nicht wieder findet.
Nicht ohne Grund erzählt Lucas, jener freie und überlegene, kritische
und humorvolle Geist, der, was er meint, kaum andeuten kann, (sonst
hätte man sein Buch verbrannt), mit solcher Ausführlichkeit die
Geschichte des letzten Schiffbruchs, der das schließliche Versagen
auch d.escs grüßten Dieners Jesu Christi symbolisiert

Die „Apostelgeschichte" berichtet demnach nach L. vom Gegensatz
und Kampf des Reiches Gottes, dessen Bürger vom hl. Geist befreit
, beseligt, mit Kraft erfüllt, rastlos vorwärts gedrängt werden,
gegen die Religion. Religion aber ist das Unterfangen, das Verhältnis
zu Gott — statt den Geist sieh frei auswirken zu lassen — durch
allerhand menschliche Lehren und Gebräuche zu regeln, wobei es
ziemlich einerlei ist, ob das Judentum sich an diese, oder das
Christentum an jene Formen bindet. So geht man hier wie dort des
Geistes verlustig, die Bewegung stockt, die Kräfte versiegen, man beginnt
, die Männer des freien, sprudelnden, mächtigen Gotteslebens zu
beargwöhnen, zu hassen.

Man muß, meine ich, zugeben, daß diese Konstruktion von
genialem Tiefblick zeugt und ernste Wahrheit enthält. Immerhin habe
ich einiges einzuwenden. Dabei lasse ich dahingestellt, ob L. die geheimen
Intentionen des Verfassers der Apostelgeschichte aufgedeckt
hat. Aber ich muß gestehen, daß mir die Formulierung in einem
Stücke nicht gefällt. Daß Religion, einerlei ob jüdische oder christliche
usw., nichts weiter als menschliches Gefühls-, Gedanken- und
Formenwesen, also geist- und gottlos sein soll, ist doch nicht eine
Wahrheit, sondern eine bestimmte, allerdings schon fast moderne, aber
jedenfalls unglückliche und verwirrende Terminologie. Warum wird
nicht wie üblich zwischen Religion des Geistes und der Zeremonien,
lebendiger und veräußerlichter Religion unterschieden? Das wäre freilich
weniger originell. Wichtiger ist ein zweiter Einwand. L. überspannt
den Gegensatz zwischen Reich Gottes und „Religion". Es
würde nicht der Fall sein, wenn er Reich Gottes rein als Glaubensobjekt
(= ecclesia invisibilis) faßte. Aber das tut er eben nicht, betont
vielmehr mit dem ihm eigenen Realismus immer wieder, daß es
umwandelnd, umgestaltend, sogar Krankheit und Armut vertreibend, in
die Sichtbarkeit, ins Stoffliche eingreift. Dann aber kann es auch
der Form nicht entbehren, kann siehs also nur um mehr oder weniger
einfache und stabile Formung handeln. Ist doch der Paulinismus so
gut ein geformtes Gebilde wie die Jerusalemische Gemeinde, und
vielleicht ein sogar noch ausgeprägteres. Man muß schon sagen, daß
wenn Gott in die Geschichte eingreift, er damit die notwendige
Spannung zwischen lebendigem, erneuerndem, alle Formen einschmelzendem
Geist und dem zum Stillstand und zur Erstarrung neigenden Form-
prin/ip setzt. Geist ohne Form, oder mit L.s Worten, Reich Gottes
ohne Religion (man könnte auch sagen Kirche) verweht.

Doch möchte ich nicht unterlassen zu bekennen, daß ich mich
sowohl an dem erwähnten allerdings bisweilen etwas ins Kraut
schießenden Realismus als auch an dem frischen Liberalismus — selbst
dies heute vielfach sogar bei freien Geistern verpönte Wort scheut
der Verf. nicht — gefreut habe. Und ich möchte damit schließen,
indem ich ein bezeichnendes Beispiel für den letzteren anführe: „In
Jerusalem hieß es immer: Ja, wie hat's wohl in solchem Falle der
Meister gehalten, wie stimmt das wohl zur Bibel, was würde Jesus
heute tun? Und über solchem Fragen kamen sie vom Stillstehen nicht
los. Ja, bis heute steht die ganze Christenheit im Banne des Christus
nach dem Fleisch und der Bibel. Hätten sie den Auferstandenen, so
würden sie nicht so viel von ihm reden. Aber Paulus hatte den Mut,
der Christenheit und der Judenschaft und jeder Religion gegenüber zu
sagen: Und wenn ein Engel vom Himmel käme und lehrete anders
als ich, der sei verflucht! Was geht mich denn der Christus nach
dem Fleische an? Nichts wissen von ihm, gar nicht gekannt haben
will ich ihn. Darin hatte er des Meisters Art. Nun darf man sich
aber auch nicht auf den Paulus festnageln lassen und immer fragen:
Wie hat der Apostel Paulus gesagt? Sondern wer ihm und dein Auferstandenen
folgen will, der muß vorwärts. Der darf auch den Paulus
nicht kennen, sondern der muß den Plänen und Gedanken folgen, die
der Auferstandene heute bewegt". S. 280.

Iburg. W. T h i m m e.