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Ausgabe:

1926 Nr. 11

Spalte:

307-308

Autor/Hrsg.:

Kurtschinsky, M.

Titel/Untertitel:

Der Apostel des Egoismus. Max Stirner und seine Philosophie der Anarchie 1926

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Seite 1

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.307

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 11.

308

ihrer Vorzüge noch im geringsten eine Würdigung der
sachlichen Bedenken zur Seite steht, die jede andere
Lösung auch und gerade vom Standpunkt innerlichen
Christentums aus drücken; 3.) daß für die neuen Formen
nirgends klare Linien gegeben sind. Wer aber so weittragende
, zumal die in Kirchenfragen weniger orientierten
Kreise der Jugend zweifellos aufregende Forderungen
ausspricht, sollte sich der ernsten Verantwortung
nicht entziehen, Für und Wider nach allen Seiten abzuwägen
. Sonst kann die Wirkung seiner Worte
anders sein, als er selber vielleicht annimmt.

Scheurlens kleine Schrift ist ganz praktisch volkstümlich eingestellt
. In Beiträgen vom Herausgeber, von J. Schoell und Diestel
sagt sie dem ev. Christen, was er an seiner Kirche hat und was er
ihr schuldig ist. Außerdem kurze Aufsätze über Evangelisch und
Katholisch, Kirche und Sekte, Von den neuen Kirchenverfassungen.
Sehr nützlich und brauchbar!

Breslau. M. Sc Iii an.

Kurtschi nsky, Prof. M.: Der Apostel des Egoismus. Max

Stirner und seine Philosophie der Anarchie. Aus d. Russischen
übers, v. Gregor v. Glasenapp. Berlin: R. L. Prager 1Q2.3.
(17Q S.) 8°. Rm. 5—; geb. 7—.

Max Stirncr, geb. in Bayreuth IS(>!>, gest. in Berlin 1856 (mit
bürgerlichem Namen hieß er Kaspar! Schmidt (man hegreift, daß er
solchen Namen, — soweit er vermochte — von sich stieß, wenigstens
literarisch als Eigentum wegwarf) ist gegenwärtig eine richtige Berühmtheit
. Lange ehe er es bei uns in Deutschland wurde, war er
es im Auslande, vorab in Rußland. Das letzterschienene russische
Werk über ihn ist das oben bezeichnete. Es liest sich gut
und darf jedem empfohlen werden, der sich über Stirners Gedankenwelt
— sie ist grenzenlos monoton d. h. so absolut von einem
einzigen Gedanken regiert, daß wer ihn begriffen hat, sich bei lebendiger
Phantasie überall bei energischem Mitdenken von selbst sagen
kann, was St. sagt — „rasch" orientieren will. St.'s Buch „Der
Einzige und sein Eigentum", 1S44, liest sich schwer, ist gewissermaßen
eine Sammlung von schriftlich festgehaltenen Einzelentwürfen
„zur" Sache. Vielfach höchst geistvoll, ebenso oft flach und platt,
ermüdet es unvermeidlich den Leser, den es durch sein Hin- und Herspringen
zwischen „konkreten" Fällen der Anwendung des Grundgedankens
und auch durch viele Willkürliehkeiten bezw. Wunderlichkeiten
der Ausdrucksweise, des Wortgebrauchs, verwirrt und immer
wieder in die Gefahr bringt, selbst abzuschweifen. Im Grunde schweift
St. nie ab, es ist nur keine rechte innere Disposition vorhanden, wenn
auch ein Register Ober den „Inhalt" zwei „Abteilungen" zeigt und bei
jeder wieder Unterabteilungen, ja sogar teilweis bei diesen noch Paragraphen
angibt. Kurtschinsky hält sich mit Rcchi; daran nicht, sondern
schafft in freier Weise ein System der St.'sehen Appergus. Hat man
St.'s Grundgedanken im Sinne, so blättert man vielfach mit Genuß
in seinem Buche und findet allmählich selbst Vergnügen daran den
Fußangeln aufzuachten, die St. legt, vermutlich um das radikale „Umdenken
", das er jedem zumutet, immer wieder als jeden Augenblick
neue Aufgabe — weil „alles" Denken und Werten bisher falsch
eingestellt war — zum Bewußtsein zu bringen. Daß St. ein ernst zu
nehmender und kraftvoller Denker ist, wird niemand leugnen, der sich
bewegen läßt, mit ihm zu denken. Und ebenso wird so ziemlich jeder
zum Schlüsse sagen: nein, so wie man hier angetrieben wird „umzudenken
", wird man nicht, wie einem doch immer wieder verheißen
wird, zur rechten Herrschaft über das Leben in der Welt und zu
rechter Geltendmachung seiner selbst, des einzig „Wirklichen",
wider den „gewordenen" Glast, das verdrehte „Ideen'Sverk der
Geschichte, gelangen. Oder sollte das Rohinsonleben das echteste,
das nicht beirrbarc Menschentum darstellen, der alte scholastische Satz
unus homo nullus homo zum „Wesen" des Menschentums stempeln,
was nur Zufall an seiner „Geschichtlichkeit" wäre?!

Die Quintessenz von St.'s „System" ist ein absoluter, durchaus
konsequenter Nominalismus. Alle „Begriffe", alle Arten von
„Allgemeinheiten" sind bloß Namen, Fiktionen von allenfalls mehr
oder weniger nützlicher Art. Sehr wenige sind wirklich nützlich. Die
Philosophie des Als-Oh" hat St. keineswegs verweggenommen. Aber man
kann von ihm aus eine solche versuchen wollen. Der leitende einzige,
er aber, daß ich so sage: dogmatisch fixierte Gedanke St.'s ist der,
daß für das Einzelindividuum nur es selber die sichere Wirklichkeit
ist, und daß es „selbstverständlich", wenn es anfängt sich darauf zu
besinnen, sich als berechtigt erkennt, alles außer ihm, alles außer
demjenigen, was es an sich selbst erlebt, als konstitutives Moment
seiner seelisch leiblich „gegebenen" Wesenheit bemerkt, darauf zu
prüfen, ob es ihm genehm ist oder nicht. Auch jeder Gedanke muß
ihm klar sein als eben „sein" Produkt, letztlich vielleicht, ja in irgend
einem Maße sicher in seiner Formung, der Art wie da was fingiert

wird, bloß von ihm abhängiges, jeden Augenblick verstoßbares
„Nichts an sich" darstellendes Gebilde. Es gibt keine Menschheit,
sondern nur Menschen und Jeder ist „anders", „einmalig", ein
„Einziger", in „seiner" Eigenart nur für ihn selber bestimmt,
„also" berechtigt, alles in der Welt „sein Eigentum" zu nennen Und
praktisch für sich in Anspruch zu nehmen. Hat einer das sich erst klar
gemacht, so weiß er, daß er sich „alles" erlauben darf, was ihn gelüstet
, d. h. wobei er „sich" am sichersten behauptet mit dem Interesse
, das ihn just erfüllt, selbstverständlich mag er „Verbrecher"
werden, „Gesetze" („Rechte") gehen es nichts an. Hier erkennt man
St.'s letzten „Eigen" m a ß s t a b : was er Freiheit oder das „Eigentum
" des Individuums nennt, Ist Verabsolutierung des juristischen
,,Freiheits"begriffs, der die Gesinnung „bei sich selbst"
jedem überläßt. Weiter „will" St. in der Tat nichts. Das Individuum
ist nie „für" einen „andern" oder etwas „anderes" da. Aber,
das gehört nun mit dazu: hat es „Lust", empfiehlt sein „Denken" es
ihm, für den Augenblick oder die Dauer, so mag es gerade als
„Egoist" sich ganz geben wie ein „Altruist", mag es auch sein.
Wer in Anspruch nimmt, schlechtweg Egoist zu sein, weiß oder merkt,
daß er wohl zugeben muß, daß die „andern", daß die Menschen,
auf die er stößt, mit dem gleichen Rechte in Anspruch nehmen, Egoisten
, nichts als solche zu sein: so wird er praktisch sich irgendwie auf
das Zusammenleben mit andern, „allen" mit denen er es zu tun bekommt
, einrichten, sich auch soweit er es nicht durch Klugheit zu
vermeiden weiß, unter dem Zwange der Verhältnisse, von ihnen „gehrauchen
" lassen, bis er wieder rundweg sie gebrauchen kann für sich.
Im richtigen Gedanken bleibt jeder Einzelne sein „Eigner", der
„Freie", der Alleinherr; „der „Sozialist" ist ,der" Lump (diesen
Ausdruck da zu verwenden — nicht im Sinne „moralischer" Verurteilung
, sondern, so zu sagen: sozialer Beschimpfung, Verstoßung
jedes prinzipiellen Gesellschaftlers, wird St. nicht müde). Wen
es lockt, St.'s Lehre über die Gemeinschaften, über Allgemeinideeii,
die er empfiehlt gelten zu lassen, kennen zu lernen, lese sein Buch
bezw. vorab das von Kurtschinsky, das dabei ein guter Führer sein
kann. Der Kritiker St. ist so scharfsinnig, daß er fasziniert: er
trifft weithin der vorhandenen Gesellschaft gegenüber den Nagel
auf den Kopf. Aber auch gegenüber den modernen Konstruktionen
— nicht umsonst suchte ein Marx ihn bei Seite zu schieben.
St. war selbst praktisch kein Himmelsstürmer, theoretisch durchaus
Revolutionär, Antisozialist, Gegner der „Gesellschaft" in jedeT
Gestalt, (Familie, Staat, Kirche, außer dein „Verein"!), und lebte doch
„ruhig" in Berlin in armen kleinen Verhältnissen als ein Mädchenschullehrer
. Er war auch verheiratet und widmete sein Buch der Marie
Dähnhardt, „meinem Liebchen", (auch der Egoist darf „natürlich",
wenn er „will", sich Liebe, Treue etc. etc. gestatten).

Halle a. S. F. Kattcnbusch.

Messer, Prof. Dr. August: Glauben und Wissen. Geschichte
c. inneren Entwicklung. 3. Aufl. München: E. Reinhardt 1024.
(VI, 176 S.) 8". • Rm. 2—; geb. 3-.

Das Buch bietet dem Werdenden, Klarheit Suchenden
wie dem Religions- und Weltanschauungspsycho-
logen wertvolle Einblicke in den Weg eines hochgebildeten
Mannes unserer älteren Generation von kindlicher
Glaubensstellung (in diesem Fall von einem gewissenszarten
Katholizismus) durch den „Naturalismus"
bezw. Positivismus zu einem „ethischen Idealismus"
(hierin in freiem Anschluß an Kant) und darüber hinaus
zu einer Wiederannäherung an religiöse und (im
weitesten Sinn) christliche Glaubenspositionen. Mancher
Ältere mag, mutatis mutandis, Selbsterlebtes dabei
wiederfinden. Das alles im Stil streng kritischer Selbstbesinnung
, die dann in dem kurzen 2. Teil zu mehr
fachmäßiger Auseinandersetzung (vor allem mit Kant,
den Neukantianern, den Intuitionsphilosophen und Neuscholastikern
) übergeht und den Briefcharakter ziemlich
abstreift, was aus dem Bedürfnis des Lehrers der Philosophie
sich erklärt. Den Wendepunkt des Ganzen bildet
formal die Einsicht in den primär atheoretischen Charakter
innerster Entscheidungen und in die Unableitbar-
keit letzter Wertungen aus Seinsurteilen, womit die
Freiheit gegenüber religiösem wie naturalistischem Dogmatismus
errungen ist (S. 81. 86 ff. 95. 99 f.), material
die Erkenntnis, daß der Naturalismus (dessen relativer
Wahrheitswert richtiger der Naturwissenschaft gutzuschreiben
wäre, vergl. den 10. mit dem 12. Brief) dem
qualitativen Gehalt der verschiedenen Wirklichkeitsgebiete
nicht gerecht wird; wertvoll ist insbesondere die
Einsicht, daß der Determinismus von den Willensvorgängen
ein verzerrtes Bild zeichnet (98. 160).