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Ausgabe:

1926

Spalte:

294

Autor/Hrsg.:

Steinmüller, Paul

Titel/Untertitel:

Jesus und sein Evangelium 1926

Rezensent:

Traub, Friedrich

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Seite 1

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294

am weitesten und bewußt entfernt geben sich die beiden
Bände Joseph Wittigs. Man könnte es eine neue Variation
zu der alten Weise des Franz von Assissi nennen;
die Berichte der Evangelien werden schlicht als die
Offenbarung eines heiligen Wunders und Gesetzes hingenommen
, und in dem eigenen Leben auf mannigfache
Weise nachzubilden getrachtet. Hier ist diese imitatio
Christi freilich nur literarisch, so deutlich überall durchschimmert
, daß Erlebtes und Erdachtes den eigentlichen
Inhalt der Bücher ausmacht. Sie sind deshalb
wie ein praktisch erbaulicher Kommentar in Form einer
autobiographischen Erzählung. Mit den Stationen des
Lebens Jesu schreitet auch" die Erzählung von dem
eigenen Lebensgange, dem jene Stationen gleichsam
Richtung und Sinn geben, wie in gleichem Schritte
fort. Da gibt es für die Kenntnis frommer Volksbräuche
im Glatzer Lande oder der religiösen Strömungen im
neueren Katholizismus mancheriei Anziehendes zu erfahren
. Freilich ist auch die Gefahr nicht immer beschworen
, daß das Selbsterzählte den Worten des Evangeliums
zu nahe rückt, daß die Distanz verschwindet und
ungeklärte Stimmungen sich ausbreiten. So ist es ein
Werk, das überall und gewollt die Grenzen seines Verfassers
enthüllt und innerhalb dieser Grenzen manches
Freundliche und Nachdenkliche eröffnet. Darunter ist
das am meisten Anziehende der Zug einer lebendigen
Frömmigkeit, die ein unmittelbares Verhältnis zum Urchristentum
d. h. zur Gestalt Christi gewonnen hat
und aus dieser Unmittelbarkeit manche Kritik an katholischen
Institutionen übt. Aber wie beides allezeit innerhalb
des Katholizismus möglich gewesen ist, gleichsam als
Gegenwirkung gegen institutionelle Festigkeit, so bedeutet
auch hier Kritik wie Unmittelbarkeit der frommen
Seele kaum jemals ein grundsätzliches Verlassen oder
Verleugnen des katholischen Glaubensstandpunktes.

In anderer Weise, aber in der Art der religiösen
Betrachtung durchaus verwandt, sprechen die Festpredigten
des Paters Janvier, die aus dem Französischen
gut ins Deutsche übertragen sind, von einem Ausschnitt
des Lebens Jesu, dem „Leiden unseres Herrn Jesu
Christi". Verwandt sind diese Predigten, weil auch für
sie dieser letzte Abschnitt des Lebens Jesu rein den
Charakter eitler unumstößlichen Norm, einer aus allem
Geschichtlichen herausgehobenen ewigen Offenbarung
trägt. Das Leiden Jesu faßt darum alle sittlichen Ideale
nicht nur in heiligem Bilde, sondern in vollendeter und
heiliger Wirklichkeit zusammen. Es heißt eine „wahre
Heerschau der Tugenden", und unmittelbar ist aus
ihm in alle verpflichtender Weise der Kampf der Liebe
und des Hasses abzulesen, darin zugleich die Vorbilder
der Liebe und der Hoffnung, die Schreckbilder der Vermessenheit
, der Schuld, des Hasses. Mit leidenschaftlicher
Beredtsamkeit und vielfältiger Bildung, manchmal auch
mit psychologischer Feinheit sind diese moralisch-religiösen
Betrachtungen durchgeführt. Nirgends verleugnet
sich aber auch die dogmatische Starrheit und Gebundenheit
dieser Anschauung, wenn sie sich auch oft genug
in starke subjektive Lebendigkeit verhüllt.

Dem wissenschaftlichen Problem des Lebens Jesu
kommt am nächsten das Buch von August Reatz. Es
will nach seinen eigenen Worten „ein geschichtliches
Gesamtbild der Persönlichkeit Jesu, seines Lebens, seiner
Lehre und seiner Wirksamkeit zeichnen", und in solchem
Versuch nicht nur den modernen Problemstellungen,
sondern auch dem Bedürfnis gebildeter Kreise Rechnung
tragen. Dieser Plan ist mit herzlicher Liebe und Sorgfalt
durchgeführt. In freundlichem und geschickt harmonisierendem
Bemühen sind die evangelischen Berichte
nachgezeichnet, unter der stillen Voraussetzung,
daß religiöse Wahrheit und geschichtliche Treue in
ihnen sich decken müssen. Fremde Kritik wird wohl gekannt
, auch zurückgewiesen, aber mit leichtem und unangefochtenem
Herzen. Bildung und religiöse Verehrung
halten sich in diesem Lebensbilde gleichsam die Wage;
»Adel des Geistes" und Fülle des Heiles sind in ihm

gleicherweise beschlossen. Es ist ein Ineinander, das
i zwar keiner der beiden Seiten gerecht wird, das auch aus
fester gläubig katholischer Betrachtung heraus nirgends
genügend die Fundamente prüft, auf denen es ruht, das
aber eine traditionelle Anschauung und ein traditionelles
Bild in ansprechender und liebenswürdiger Weise neu
belebt.

Breslau. Ernst Lohmeyer.

St ei mann, Prof. Dr. Alphons: Jesus und die soziale Frage.

Ein Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung u. z. Oesch. der Karitas. 2.,

neubearb. Aufl. Paderborn: F. Schöningh 1Q25. (VII, 296 S.)

gr. 8°. Rm. 6.60.

Die erste Auflage der Schrift zerfiel in zwei Hauptteile
: eine wissenschaftliche Grundlegung und eine praktische
Ausführung. Dieser zweite Hauptteil ist jetzt
! weggefallen; der erste ist wesentlich erweitert und be-
; reichert worden. Aber Anlage und Ergebnis sind sich
gleich geblieben. Die drei Teile sind: Jesus und die
soziale Bedeutung des A. Test.; Jesus und das Himmelreich
, Jesus und sein oberstes Reichsgesetz. Das Ergebnis
ist, daß Jesus kein sozialpolitisches Programm
aufgestellt, aber die Richtlinien gegeben hat, aus denen
wir die nötigen Leitsätze für die soziale Not der Gegenwart
ableiten können. Dies könnte nur dann bestritten
werden, wenn die rein eschatologische Deutung des Lebens
Jesu Recht behielte. Vf. sieht jedoch in dieser Deutung
eine Einseitigkeit, welche er mit gewichtigen Gründen
ablehnt. Das Ganze ist durch eine umfassende
Literaturkenntnis ausgezeichnet. Der katholische Verf.
zeigt eine erstaunliche Belesenhcit nicht bloß in katholischer
, sondern noch mehr in protestantischer Literatur.
Manchmal hat man allerdings den Eindruck: weniger
wäre mehr gewesen. Die straffe Zielsetzung wird durch
die vielen Zitate und die fortgesetzte Bezugnahme auf
andere Autoren gestört. Und wenn der Untertitel lautet:
„ein Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung", so vermißt man
doch manches, was für einen solchen Zweck unentbehrlich
ist: vor allem ein Urteil über die Quellen. Die Belegstellen
werden gleichmäßig aus den Synoptikern und
Johannes genommen, ohne daß versucht würde, diese
Art der Verwendung durch eine Wertung der Quellen
zu begründen. Das Verdienst des gelehrten Werks soll
damit nicht geschmälert werden. Seine nahezu vollständige
Literatursammlung wird jedem Forscher zu
statten kommen, der sich mit dem Problem beschäftigt;
und sein ruhiges, maßvolles Urteil wird auch von
solchen anerkannt werden, die zu wesentlich anderen Resultaten
gelangen.

Tübingen. Fr. Traub.

Steinmüller, Paul: Jesus und sein Evangelium. Stuttgart:
Oreiner & Pfeiffer 1625. (150 S.) 8°.

Die vorliegende Schrift ist nicht das Werk eines
Wissenschaftlers, sondern eines Dichters. Dies nicht in
dem Sinn, daß mit den Mitteln der frei schaffenden
Phantasie ein Jesusbild gestaltet würde. Der Verfasser
schöpft aus den Quellen, und auch die wissenschaftliche
Erforschung der Quellen ist ihm nicht fremd. Aber
worum es ihm zu tun ist, das ist ein Gesamtbild von
Jesus, wie er es sieht, indem er mit dem Auge des
Dichters seine Quellen liest. Als Leser denkt er nicht
gelehrte Theologen, sondern gebildete Laien. Ihnen, zumal
den Suchenden und Zweifelnden unter ihnen, kann
er in der Tat wertvolle Dienste leisten. Die schöne und
edle Sprache, der einfache Aufbau, die kurzen Abschnitte
mit den charakteristischen Überschriften, das ganze frisch
und lebensvoll gezeichnete Jesusbild wird seinen Ein-
j druck nicht verfehlen.

Tübingen. Fr. Traub.

Krüger, Prof. D. Dr. Gustav: Der Historismus und die Bibel.

Akadtm. Rede, z. Jahresfeier d. Hess. Ludwigs-Universität am
1. Juli 1025 geh. Gießen: A. Tüpelmann 1925. (20 S.) 4°. =
Sdhriftcn d. Hess. Hochschulen, Univ. Gießen, 1925, H.2. Rm. —90.

Diese Gießener Rektoratsrede stellt einen klugen,
überlegten und doch sehr temperamentvollen und per-