Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1926

Spalte:

248-249

Autor/Hrsg.:

Lenz, Joseph

Titel/Untertitel:

Die docta ignorantia oder die mystische Gotteserkenntnis des Nikolaus Cusanus in ihren philosophischen Grundlagen 1926

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

247

248

der Verf. in der Tat schon gegangen, wenn er jetzt gelegentlich
statt „alexandrinisch" oder „hellenistisch"
besser „synkretistisch" sagt; oder wenn neben Philo
die hermetischen Schriften und die Oden Salomos viel
ausgiebiger zu Worte kommen; oder wenn in dem Exkurs
über xöofiog statt der Philostelle jetzt „gnostische"
Parallelen erscheinen. Von besonderem Wert sind die
neuen Exkurse, von denen für die neue Beurteilung des
Evangeliums die für seine Christologie bedeutsamen
Untersuchungen der Begriffe Prophet und Gesandter bezeichnend
sind; ferner die Exkurse über do^a über das
Wasser des Lebens, über den Ich-Stil. In dem wichtigen
neuen Exkurs über den Täufer Johannes rechnet der Verf.
m. E. mit Recht mit der Möglichkeit, daß schon im
ersten Jahrhundert ein täuferisches Schrifttum existiert
hat. Freilich ist seine Vorsicht begreiflich, wenn er diese
Hypothese nicht zur Einzelerklärung heranzieht. Man
könnte jedoch m. E. hier weiterkommen in der Interpretation
der Reden und Gespräche des Evangeliums
sowohl durch genauere stilkritische wie durch formgeschichtliche
Untersuchungen, wobei die Analyse des
Evangeliums Hand in Hand gehen müßte mit der der
Johannes-Briefe. Der Verf. wagt nicht mehr zu sagen,
als daß sich auch in den Redestücken der Verdacht
erhebe, der Evangelist habe schriftliche Vorlagen benutzt
. Sicherer bewegt er sich bei der Erklärung der Erzählungsstücke
mit der Voraussetzung schriftlicher
Quellen.

Alles in allem scheint mir der Ertrag für die Erkenntnis
des literarischen Charakters und der Komposition
des Evangeliums nicht so groß zu sein wie für
die Erkenntnis seiner Begriffswelt. Für diese sind freilich
mit der Darbietung des Materials oft nur die Voraussetzungen
gegeben, und wie es dem Charakter des
Handbuchs entspricht, ist für die Verarbeitung des Materials
dem Leser noch viel Arbeit überlassen. Auf einzelne
Beanstandungen will ich hier verzichten und nur
noch auf den Schlußabschnitt hinweisen, der an die
Stelle der Einleitung der 1. Auflage getreten ist und
diese an Umfang und Gehalt weit überragt. Er handelt
zunächst über Verfasser, Heimat und Entstehungszeit
des Evangeliums. An der Hypothese von der Verwechslung
des Zebedaiden mit dem asiatischen Johannes hält
der Verf. fest, nur daß er die Verwechslung nicht mehr
als einen zufälligen Irrtum, sondern als tendenziös erklärt
. Dagegen denkt er nicht mehr an Ephesus als
die Heimat des Evangeliums, sondern m. E. mit Recht
an Syrien; wie in der 1. Aufl. erscheinen die Jahre
100—125 als die empfehlenswerteste Datierung. — Sodann
werden die Voraussetzungen für die Entstehung
des Evangeliums besprochen und dabei die Bedeutung
der Gnosis noch einmal hervorgehoben neben den andern
Faktoren. Was diese letzteren betrifft, so habe ich
Bedenken gegen die Rolle, die dem Judenhaß des Evangelisten
zugeschrieben wird. Wie der Exkurs zu 1,19
zeigt, ist der Judenhaß in der Literatur weit verbreitet. Mir
scheint, entgegen der üblichen Auffassung, daß der Evangelist
die Judenfeindschaft nur als literarisches Motiv
übernahm, das mit seinem Stoff vielfach gegeben war;
daß aber in Wahrheit die Juden für ihn die Repräsenr
tanten des -Mtsiio^ sind. Wenn der Verf. hier auch
die Persönlichkeit des Schriftstellers würdigt, so freue
ich mich, daß er bei aller Anerkennung mystischer
Terminologie doch gegen die „Mystik" des Evangeliums
skeptisch ist. — Der Schluß über Aufbau und Komposition
, Art und Zweck des Evangeliums ist umsichtig,
aber zurückhaltend. Ich kann dem Verf. wohl fast
durchweg zustimmen, glaube aber, wie schon angedeutet,
daß man hier zu bestimmteren Ergebnissen kommen
kann. Jedoch muß ich schließen mit der Betonung,
daß diese neue Auflage des Kommentars einen wesentlichen
Fortschritt für die Erklärung des Evangeliums
bedeutet.

Marburg a. L. R. Bult mann.

Schumacher, Dr. Rudolf. Die soziale Lage der Christen
im apostolischen Zeitalter. Paderborn : F. Schöningh 1q24.
(42 S.) kl. 8<>. Rm. _qo.

Der vorliegende Aufsatz ist eine Streitschrift gegen die bekannten
Aufstellungen Karl Kautskys in seinem „Ursprung des Christentums"
1. Aufl. 1908. Daneben wird auch Kalthoff, die Entstehung des
i Christentums nicht genannt. Ob es nötig war, jetzt noch Kautsky
eine Schrift zu widmen, kann bezweifelt werden, da bei den Sozialisten
selbst seine Meinungen nicht mehr die Geltung zu haben
scheinen, wie einst. Max Beer, der sich u. a. durch eine sehr lesbare
I Biographie von Karl Marx bekannt gemacht hat, vertritt in seinem
j neuesten Werk „Allgemeine Geschichte des Sozialismus" 1919 ff. die
Ansichten des Altmeisters nicht mehr. Es liegt nicht im Wesen
j einer Streitschrift, daß sie einseitig ist, sie läuft aber in dem Maß
I Gefahr, es zu sein, wie sie sich darauf beschränkt, die Meinung des
j Gegners zu verneinen, und sie vermeidet die Gefahr, je mehr sie nicht
j allein verneint, sondern die gegensätzlichen Meinungen in einer höheren
zusammenfaßt. Der Herr Verf. geht den ersteren Weg. Seine Weise
i ist es, die Aussagen des N.T. über die durch die wirtschaftliche Pro-
j duktion in der Gesellschaft sieh ergebenden Verhältnisse und die gebotene
Stellung des Christen zu diesen als möglichst neutral darzustellen
. Dabei wird er m. E. schon dem N.T. selbst nicht gerecht.
Vor allem aber verlangen die aus den heutigen wirtschaftlichen Verhältnissen
— allein schon auf unser Volk gesehen — entstehenden
Nöte des persönlichen Lebens, daß das N.T. so oder so Rat weiß,
j Ist der von Kautsky beschrittenc Weg als der unrichtige zu bezeichnen,
so muß von dem, der das tut, unbedingt verlangt werden, daß er
einen besseren, s. M. nach den richtigen aufzeigt. Eben diese höhere
Einheit vermisse ich in der Lösung des Problems. Denn auch der am
; Schluß (S. 40) versuchte Ansatz dazu, der Hinweis auf den alles
1 überwindenden Glauben, hat zu wenig Ausgestaltung erhalten, als daß
i er sieh Geltung verschaffen könnte.

Um nun nicht den Anschein zu erwecken, als wollte ich nur
j tadeln, nichts anerkennen, hebe ich gern hervor, daß der Gang durch
; das Neue Testament wohl alle Personen und Gemeinden nennt und sie
an vielen Stellen auch umfassend und richtig darstellt. Auch ist viel
und gute Literatur benutzt, so daß in mancher Hinsicht der Inhalt
reich genannt werden kann. Bei dieser Anerkennung wird der Herr
Verf. es mir zu gute halten, wenn ich einige Ausstellungen mache:
Jesu äußeres Erscheinen, sowohl wie sein inneres Wesen sei erdenfremd
und üherwcltlich, seine Kleidung nicht kostbar aber auch nicht
: ärmlich gewesen. M. E. nimmt der Herr in solchen Worten, wie
I Matth. 11, 7 in der Gedächtnisrede für den Täufer und in der Schilderung
der luxuriösen Kleidung des reichen Mannes Luc. 10, 19 durchaus
Partei gegen den Kleiderluxus, nicht weil der Purpur und kostbare
| Leinwand an sich etwas Böses sei, sondern weil der Luxus den Men-
i sehen gefangen hält und hindert, die Kluft zwischen dem Armen und
ihm zu überbrücken. Darnach haben wir uns m. E. die Kleidung des
j Herrn zu denken. Die Predigt Jesu sei überzeitlich, sie habe Ewigkeitscharakter
. Ihr Schwerpunkt liegt im Religiösen (S. 4). Ja gewiß.
Seine Predigt hat das Reich Gottes zum Inhalt und dessen Gerechtigkeit
. Der Herr steht über wirtschaftlichen Gegensätzen. Man darf
aber ja nicht die Klänge des Gleichnisses vom Reichen Mann und
armen Lazarus überhören, auch nicht die Fassung der Bergpredigt bei
Lukas (Luk. 6, 20 ff.). Hier ist der Herr der Heiland der Armen und
Elenden und Gegner des Reichtums. Nicht, weil die irdischen Werte
selbst Sünde seien, aber den Reichen am Eintritt ins Reich Gottes
hinderten und zur Unterdrückung der Armen führten. Weiterhin unterzieht
| der Herr Verfasser die persönlichen Verhältnisse der Apostel und dann
i die der Gemeinden der Prüfung, die Gemeinde in Jerusalem, in der
Diaspora, wobei er m. E. auch dem Jakobushrief nicht gerecht wird,
die Gemeinde in Antiochien, die in Kleinasien, in Griechenland und
in Rom. Überall mit negativem Ergebnis. Und nun als Schluß hätte
eine, wenn auch nicht lange Erklärung darüber kommen müssen, was er
den sozialistischen Aufstellungen,gegenüber, gegen die er doch ankämpft,
zu geben hatte. Anknüpfen ließ sich das an den „Liebeskommunismus"
(Troeltseh) der Gemeinde in Jerusalem. Dort zog man, den damaligen
Verhältnissen entsprechend, zum ersten Male die Konsequenz aus dem
unbedingten Gebote des Herren an seine Jünger, daß sie sich
untereinander bis zur Hingabe ihres Lebens lieben sollten (Job.
13, 33 f.; Luk. 10, 31 ff.). Sogar als äußeres Kennzeichen der Jüngerschaft
sollte die Liebe wirken. Dieses unbedingte Liebesgebot
verbietet, daß die Christen vor dem wirtschaftlichen Leben und seiner
Umgestaltung Halt machen. Eine Weigerung der Christen heute, wo der
Ernst der Stunde immer mehr erkannt wird, wäre eine Verleugnung
ihres Herrn. Das unbedingte Gebot der Liebe fordert, der infolge der
herrschenden Wirtschaftsform überhandnehmenden Not durch geeignete
Gesetzgebung abzuhelfen. Mag das Ergebnis nun ein neugestalteter
Kapitalismus sein, oder mag es zum Sozialismus führen.

Hannover. Ph. Meyer.

Lenz, Prof. Dr. Joseph : Die docta ignorantia oder die mystische
Gotteserkenntnis des Nikolaus Cusanus in ihren philosophischen
Grundlagen. Würzburg: C. J. Becker 1923. (VIII,