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Ausgabe: | 1926 Nr. 8 |
Spalte: | 236-239 |
Autor/Hrsg.: | Natorp, Paul |
Titel/Untertitel: | Vorlesungen über praktische Philosophie 1926 |
Rezensent: | Knittermeyer, Hinrich |
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235 Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 8. 236
licher Baubestandteile der Materie verstanden wird". Damit
ist das „Ideal" der Naturwissenschaft gekennzeichnet
.
Indessen dies Ideal ist nicht ohne weiteres zu
verwirklichen, sondern nur unter bestimmten Bedingungen
und Voraussetzungen und auf Grund eines bestimmten
Verhaltens gegenüber der Wirklichkeit. Es
ist ja ein längst überwundener erkenntnistheoretischer
Irrtum, daß die Naturwissenschaft den Anspruch erhebe
oder erheben könne, mit ihren Ergebnissen einfach ein
„passives Abbild" der Wirklichkeit darzubieten; aber
auch das ist nicht richtig, daß die Naturwissenschaft eine
rein schöpferische völlige Umgestaltung der Wirklichkeit
vollziehe, wie wohl Neukantianer gern behaupten.
Vielmehr übt sie ein gewisses Abstraktionsverfahren
der Wirklichkeit gegenüber. Sie sieht ab von einer Reihe
von Erscheinungen, die von dem vorwissenschaftlichen
Denken in der Wirklichkeit gefunden werden wird. Sie
„eliminiert" diese Erscheinungen, „schaltet sie aus"
zu ihren Zwecken und erreicht durch solche Methodik
ihr Ziel, die Realisierung ihres „mechanistischen ato-
mistischen und gesetzmäßigen Ideals".
Es wird nun in einem längeren zweiten Teil des
Werks mittels einer Reihe sehr eingehender Ausführungen
anschaulich dargelegt, wie das moderne naturwissenschaftliche
Denken und Erkennen zunächst die
„Kraft" „ausschaltet"; ebenso die „Materie"; ferner die
„räumlichen Qualitäten"; desgleichen auch die „zeitlichen
Qualitäten". Auf solche Weise kommt schließlich
durch die Physik die „Geometrisierung" und „Arithme-
tisierung", Verfasser sagt, die „Verzahlung" der Welt
zustande; woraus jedoch beileibe nicht „etwas auf das
wahre Wesen und die metaphysische Struktur der Welt"
fasser aus seiner didaktisch klugen Reserve kaum heraus
. Er überläßt es dem denkenden Leser, die Konsequenzen
zu ziehen. Nur eine vereinzelte und ganz gelegentliche
, aber prägnante Äußerung sei, auch lediglich
exempli causa, hier angeführt. Zuvor aber sei
noch daran erinnert, daß es das v o r wissenschaftliche
Denken ist, das von „Kraft" und Kräften in der Welt
redet. Und nun das Zitat: „Warum sollte nicht auch
in der Welt eine Hierarchie von Kräften als am Werk
befindlich angenommen werden dürfen, welche in verschiedenartiger
, vielleicht auch wechselnder Unter- und
Überordnung, sich gegenseitig dienen und beherrschen?
Und warum sollte es nicht Wirklichkeit sein, was
jeder unvoreingenommene Mensch in sich zu erleben
meint: daß unter diesen Kräften wirklich auch gute
und böse, kurz: ethisch zu wertende sind, und daß gerade
auch dem menschlichen Willen für den Ausgang dieses
Kampfes eine bedeutsame Rolle zukäme? Warum sollten
sie alle nicht gerade auch um die Herrschaft und
die Nützung der Gesetze und Kräfte der anorganischen
materiellen Natur für ihre Zwecke ringen können, ohne
daß- damit an der berechtigten Geltung der Naturgesetze
auch nur das Geringste abgedungen zu werden brauchte?
Dann aber erheben sich auch wieder mit neuer Gewalt
alle jene ältesten Fragen der Menschheit nach der Gewalt
, Organisation und endlichen Sieghaftigkeit solcher
Kräfte in der Welt, schließlich vielleicht sogar einer
letzten, höchsten, die ein jeder nach seiner ethisch-
religiösen Überzeugung und auf Grund seiner persönlichen
Erfahrungen beantworten wird."
Ich schließe, indem ich auf den Anfang der ganzen
Besprechung zurückkomme, mit der Bemerkung, daß
ich das Werk in wenig Tagen hintereinander mit atemerschlossen
werden darf, „wie es früher die Pythago- j loser Spannung gelesen habe, auch wo mir das zunächst
räer, aber auch neuerdings viele Physiker getan haben
und tun". Es bleibt eben dabei, daß „das naturwissenschaftliche
Weltbild" ein „methodisches Abstraktions-
produkt" ist, dessen wissenschaftliche Bedeutung nicht
verkannt, sondern sehr stark betont wird, das aber den
Wahrheitswert und Wirklichkeitscharakter des „vorwissenschaftlichen
Weltbildes" nicht notwendig beeinträchtigt
, und seine bestimmten „Grenzen und Schranken"
hat. „Eine Entwertung des naturwissenschaftlichen Weltbildes
liegt hierin nur für den, der an dasselbe unbegründete
Ansprüche gestellt hat. Und in der Tat hat
es in unsern Zeiten nicht an Leuten gefehlt, welchen
die Wissenschaft von der Natur zu einer Religion geworden
war, und welche von ihr alles das erwarteten, was
sonst nur die Religion ihren Gläubigen zu geben vermag.
Es ist jedoch vollkommen unberechtigt, derart unbegründete
Ansprüche den Wertmaßstab für unsere Feststellung
und den Wert naturwissenschaftlicher Erkenntnis
abgeben zu lassen."
Den Beschluß des ganzen Werks bildet eine teils
durchaus anerkennende, teils kritische Auseinandersetzung
mit den verschiedenen Formen und Deutungen der
Relativitätstheorie, auf die im übrigen der Verfasser
vielfach Bezug zu nehmen Anlaß hat.
Fragt man nun — und das ist an dieser Stelle unumgänglich
— was denn das Werk genauer für die
Apologetik abwerfe, so bleibt der Verfasser da, gemäß
der Aufgabe, die er berufsmäßig sich stellt, sehr zurückhaltend
. Es leuchtet aber von selbst ein, was es
für die Beurteilung von Psychischem und Geistigem, ja
für die Notwendigkeit und Möglichkeit einer besonnenen
„Ergänzungsmetaphysik" bedeutet, wenn einmal wieder
von kundiger Seite in neuer und eigenartiger Form
auf die Grenzen und Schranken der Naturwissenschaft
hingewiesen wird. So vorsichtig sich der Verfasser selbst
in der Sache äußert, gelegentlich klingt doch beispielsweise
, ganz leise, ein metaphysischer Gedanke, wie der
Leibnizsche einer „„prästabilierten Harmonie" an. Fragt
man dann noch weiter, was speziell die „Rehabilitierung
" des vorwissenschaftlichen Weltbildes apologetisch
zu sagen vermöge, so tritt auch da der Ver-
nicht ganz leicht wurde. Es hat dem apologetisch Interessierten
einen Genuß geboten, wie etwa nur in den
Tagen meiner Studienzeit die Lektüre von Dubois-Rey-
monds Vortrag über die Grenzen des Naturerkennens
oder späterhin einzelner Schriften H. Rickerts; und ich
bin daher dem Verfasser aufrichtig dankbar.
Gießen. E. W. Mayer- Straßburg.
Natorp, Paul: Vorlesungen über praktische Philosophie.
Erlangen: Verl. d. Philos. Akademie 1925. (VII, 535 S.) gr. 8°.
geb. Km. 16.80.
Diese von dem Sohn des Verfassers herausgegebenen
Vorlesungen unterscheiden sich insofern von ähnlichen
Nachlaßveröffentlichungen, als sie vom Verfasser
selbst in der vorliegenden Verfassung schon für den
Druck bestimmt waren. Allerdings darf vielleicht eingangs
schon darauf hingewiesen werden, daß Natorp
selbst diese Veröffentlichung als eine provisorische ins
Auge gefaßt hatte. Er war, bis in die letzte Zeit hinein,
der Überzeugung, daß ihm eine wirklich befriedigende
Darstellung der letzten Voraussetzungen seines Systems
nicht gelungen sei. Was das heißt, wird deutlich, wenn
man sich die Geschichte von Natorps System ganz kurz
vergegenwärtigt.
Er stand im Jahre 1912 in der Arbeit am 2. Band
seiner Allgemeinen Psychologie. Da zeigte sich ihm, daß
an eine Vollendung dieses Werkes nicht zu denken sei,
wenn nicht zuvor die kategoriale Betrachtung, deren allgemeine
Grundlegung er nicht lange vorner in den
Logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften gegeben
hatte (1910), in möglichst durchgreifender Form
für alle Zweige der systematischen Pnilosophie entwickelt
wäre. So trug er in den Jahren unmittelbar
vor dem Kriege sich mit dem Plan einer „Allgemeinen
Kategorienlehre", zu der in seinem Nachlaß sich noch
wertvolle Bruchstücke befinden. Aber da er dies Problem
nicht als ein abstraktes sich stellen konnte, wurde
er durch die Arbeit daran zugleich auch in die Problematik
der besonderen philosophischen Disziplinen
immer tiefer hineingeführt; und sehr bald wurde ihm
zweifelhaft, ob die „Kategorie" imstande sei, das ganze