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Ausgabe: | 1926 Nr. 8 |
Spalte: | 230 |
Autor/Hrsg.: | Dallmeyer, Heinrich |
Titel/Untertitel: | Die Zungenbewegung. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte und eine Kennzeichnung ihres Geistes 1926 |
Rezensent: | Fleisch, Paul |
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Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 8.
230
Wirkung auf die Arbeit der Diakonie ausgeübt. Der
Unterschied in der Wirkung der beiden ersteren hatte
herausgearbeitet werden können. Denselben Wunsch
hegt man bezüglich der Rückwirkungen der verschiedenen
politischen und wirtschaftlichen Anschauungen,
die ja stets die Geschichte der Wohlfahrtspflege beeinflußt
haben. Merkt man auch an manchen Stellen, daß
der Verfasser sich erst in ein ihm fremdes Gebiet
einarbeiten mußte, so wird an dem Gesamturteil
über die Schrift, die mehr als sonst eine Festschrift,
eine vortreffliche wissenschaftliche Arbeit ist, durch diese
Ausstellungen nichts geändert. Für die Geschichte der
kirchlichen Gemeindepflege ist die Schrift ein grundlegendes
Werk.
Bremen. Bodo Heyne.
Thimme, Pfarrer Lic. theol. Ludwig: Kirche, Sekte und Gemeinschaftsbewegung
vom Standpunkt einer christlichen Soziologie aus
Schwerin i. M.: F. Bahn 1Q25. (311 S.) 8°. Km. 6—.
und freiwillig zusammenschließen, so hat Th. es ebensowenig
beseitigt, wie die Tatsache, daß lutherisches
Kirchcntum zum ersten, die evangelischen Sekten zum
zweiten Typus gehören und dieser auch im Pietismus
und in der Gemeinschaftsbewegung immer wieder durchschlägt
.
Daß die Sekten im einzelnen sehr verschieden sind, ändert daran
nichts (die von Th. als besonders verschieden genannten Irvingiten und
Darbysten sind geradezu — wenn auch unähnliche — Zwillingsbrüder).
Leider zieht er auch gar keine Fäden von der sozialen Lage der Glieder
zu den die Struktur der Gemeinschaft bedingenden Gedanken (Methodismus
-Heilsarmee, Irvingiten-Neuapostolische).
Die so im 1. Teil vorliegende Einseitigkeit wirkt im
zweiten natürlich nach, vor allem im ersten Abschnitt
der „Selbstverfassung der Kirche".
Sie muß nach Th. ihren Ausgangspunkt von einer Schar solcher
nehmen, in denen der christliche Besitz lebendig ist und die sich um
Wort und Sakrament scharen als „Abendmahlsgeineinde". Doch sieht
er deutlich die Gefahr der „Verengerung" (in geistlichem Hochmut
und selbstgenügsamcr Ausschließlichlichkeit) und will sie (durch
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Th. will im ersten, größeren Ieil die intierSOZlO- > jURendnntcrweislin,j einschließlich Kindertaufe und Verzicht auf ge
logische Struktur des Christentums geschichtlich dar
stellen, im zweiten daraus praktische Folgerungen ableiten
. Die Grundthese der geschichtlichen Untersuchung
, daß nämlich primär nicht irgendwelche Grundideen,
sondern stets der gemeinsame religiöse Besitz die soziologische
Struktur bestimmt habe, wird in steter Bekämpfung
des bekannten Tröltsch'schen Schemas
„Kirche-Sekte" im ersten Kapitel an der Jüngergemeinde
, Urgemeinde, ja an der katholischen Kirche und vor
allem an, den Reformationskirchen .durchgeführt, im
zweiten am angelsächsischen Sektentum, dem deutschen
Pietismus und der Gemeinschaftsbewegung. Letztere
sind ihm wie die Reformation alles neue Ansätze, in
denen der verloren zu gehen drohende innere Besitz
der Kirche erneuert wird, der nun ein neues soziologisches
Gebilde zusammenschließt und ihm den inneren
Zusammenhalt gibt. Darin ist etwas Richtiges, aber
das soziologische Problem fängt doch da erst an, nämlich
: Prägt sich dieser neue Besitz in Gedanken und
Vorstellungen aus, die einen organisatorischen Zusammenschluß
' von bestimmter Struktur bewirken? Für
Th. spitzt sich dagegen seine These unter der Hand zu
der anderen zu: Der persönliche subjektive Heilsbesitz
schließt eo ipso die Besitzenden in persönlicher Freundschaft
zusammen (bei Jesu und seinen Jüngern redet er
sogar von einem heiligen Eros!). Bezeichnenderweise
bleibt er daher in seiner Darstellung des jeweiligen
schlössen« Organisation) vermeiden, ebenso freilich die Gefahr der
„Grenzverwischung" (Massenabendmahl, Massenkonfirmation). Eine
Lösung aus diesem Dilemma bietet er allerdings nicht.
Die beiden letzten Abschnitte behandeln die „Selbsterbauung
" (mit guten grundsätzlichen Ausführungen
und praktischen Vorschlägen — zahlreiche Nebengottesdienste
, Bibelbesprechstunden, allerdings auch Gebetsstunden
, nicht ohne deren Gefahren zu erkennen) und
die „Selbsterweiterung" der Kirche (Volksmission im
umfassendsten Sinne).
Der Wert der praktischen Vorschläge des 2. Teiles liegt nicht
zum wenigsten darin, daß sie vielfach aus langjährigen mit theologisch
geschultem Blick gemachten und nun wirklich verarbeiteten Beobachtungen
in der Gemeinschaftsbewegung erwachsen sind. Die Darstellung
dieser Bewegung ist daher auch das Wertvollste des 1. Teiles.
Wenn er dabei meinen Schriften die unverdiente Ehre erweist, sie
in Parallele mit Ritschis Geschichte des Pietismus zu stellen, um
dann freilich uns beide als religiös und religfonsgcsclikhtlicli gleich
wertlos zu verdammen, so läßt mich das nicht gerade als den geeigneten
Recensenten dieses Abschnitts erscheinen, hindert mich aber
jedenfalls nicht, anzuerkennen, daß Thimmes Aufstellungen hier manchmal
zu neuen Forschungen anregen (Einfluß Wicherns, Bedeutung
Stockmayers U. a.).
Hannover. Fleisch.
Dallmeyer, Heinrich: Die Zungenbewegung. Ein Beitrag zu
ihrer Geschichte und eine Kennzeichnung ihres Geistes. 1—5. Tsd.
Lindhorst (Schaumburg-Lippe): Adastra-Verl. (144 S.) 8°.
religiösen Besitzes, der man im übrigen weithin zustim- Rm i 50. „D 2_
men kann, meist bei der Entfaltung des persönlichen j Wenn H. D., der im Anfang der sogenannten Zungenbcwegung in
Heilsbesitzes stehen und ubersieht die dann liegenden ; Deutschland selbst im Mittelpunkt stand, einen Beitrag zu ihrer Ge-
tiedankeil, die die Struktur der äußeren Gemeinschaft ; schichte gibt, so ist das von vornherein für den Historiker beachtlich,
entscheidend beeinflussen, oder bringt sie nur unvollständig
.
So berührt er z. B. bei Luther die Frage der Niehterkennbarkeit
der Gläubigen überhaupt nicht und schiebt Luthers Glauben, daß, wo
das Wort gepredigt wird, es auch in irgend jemandem irgendwie
Glauiren wecke, als einen gefährlichen und mehr nebensächlichen Gedanken
beiseite.
In der zweiten Gruppe besteht seine These teilweise
zu Recht, sofern manchmal tatsächlich einfach die gemeinsame
religiöse Erfahrung Menschen zusammen -
führt. Aber wenn er deswegen nun das Vorliegen von
Gedanken, die grundsätzlich eine Gemeinde von „Bekehrten
" fordern, in diesen Gebilden durchweg verneint,
so übersieht er, daß solche Gedanken vielmehr bei
samtlichen genannten Erscheinungen sofort in mindestens
einzelnen der Führer miteinsetzen (vgl. schon die fast
jedesmal gleich auftauchende Frage des „reinen" Abend-
mahlstisches). Modifiziert man TröltsclV Schema dahin,
zÜvVei grundleglich verschiedene Strukturen äußerer
Kirchengemeinschaft gibt, die eine, wo im Mittelpunkt
ein personlichen Heilsbesitz irgendwie vermittelndes
Objektives steht, um das man sich (in im einzelnen
sehr verschieden starker Intensität) „schart", die andere,
wo die irgendwie feststellbaren „Bekehrten" sich bewußt
auch wenn es mehr ein persönliches Zeugnis gegen jenen der Ge-
memschaftsbewegung noch immer bedrohlichen Enthusiasmus als
eine historische Untersuchung sein will. D. stellt zuerst klar die
„ungesunden Strömungen in der OB. bis zum Auftreten des Zungen-
redens" heraus und schildert dann die „Aufnahme der Bewegung in
Deutschland" bis zum Schluß der Casseler Versammlungen. Die folgende
„Kennzeichnung des Geistes der Bewegung" bleibt freilich auch
diesmal dabei stehen, daß man es darin mit dämonischen Irrgeistern
zu tun habe, was er aus der Art des Zungenredens, des damit verbundenen
Wahrsagens und anderen Momenten zu beweisen versucht.
Ergreifend wirken endlich die inneren Kämpfe, die zu seiner und
seines Bruders „Lösung von der ZB." führten und die ihn zum unermüdlichen
Gegner der späteren „Pfingstbewegung" gemacht haben, die er
als einen „neuen Anfang in demselben Irrgeist" schildert, ein,
was den historischen Zusammenhang angeht, durchaus zutreffendes
Urteil. Ganz besonders interessante Aufschlüsse gibt die Schrift über
das Verhalten der anerkannten Führer der GB. beim Ausbruch des
Zungenredens, darin eine willkommene Ergänzung meiner Darstellung
, die D. sonst bestätigt, aus allerintimster Kenntnis heraus.
Man erschrickt, wenn man sieht, wie vollständig die theologische
Bildung dieser Männer, auch z. B. eines Haarbeck, damals unter
dem Banne eines naiven Biblizismus versagt hat, auch noch, als der
gesunde Instinkt des seminaristisch gebildeten D. schon Argwohn
schöpfte. - Inzwischen ist H. D., der schon lange leidend war
gestorben.
Hannover. Fleisch.