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Ausgabe:

1926 Nr. 8

Spalte:

227

Autor/Hrsg.:

Wichern, Johann Hinrich

Titel/Untertitel:

Der junge Wichern. Jugendtagebücher. Hrsg. v. Martin Gerhardt 1926

Rezensent:

Schreiner, Helmuth

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227

Theologische Literaturzeitung 1926 Nr. 8.

228

Wiehern, Johann Hinrich: Der junge Wichern. Juprendtage-
bücher. Hrsg. v. Martin Gerhardt. Mit 1 Jugendbildnis U. 2
Handschriftenproben in Faks. Hamburg: Agentur d. Rauhen Hauses
1Q25. (295 S.) 8°. geb. Rm. 6.50.

Aus zwei Gründen ist die Herausgabe der Jugendtagebücher
wertvoll. Sie waren bisher nur teilweise
zugänglich; sei es im ersten Bande der gesammelten
Schriften Johann Hinrich Wicherns, welche sein Sohn
herausgegeben hat, sei es im ersten Bande von Olden-
bergs Biographie. An beiden Orten ist der Original-
Text durch Zusätze und Weglassungen willkürlich verändert
. Gerhardt hat sich der Mühe unterzogen, auf
Grund seiner Arbeiten im Archiv des Rauhen Hauses
die Herausgabe des unveränderten Textes zu wagen und
uns so ein größeres Verständnis Wicherns zu vermitteln.
Vor einiger Zeit hat Girgensohn den Vergleich mit
Augustins confessiones gewagt. Das mag im Blick auf
die unbedingte Wahrhaftigkeit Wicherns gegen sich
selbst, die Aufwühlbarkeit seiner seelischen Struktur
und den Tiefengehalt seines persönlichen Ethos, von
denen die Tagebuch-Aufzeichnungen Zeugnis geben,
richtig sein; in Bezug auf die universale Spannweite
des Geistes scheint mir dieser Vergleich jedoch unmöglich
.

Für das Verständnis der Erweckungsbewegung und
der Antriebe, die aus ihr hervorgingen, ist das vorliegende
Buch eines der wichtigsten Dokumente.
Rationalismus, Orthodoxie und Pietismus treffen sich
in dem werdenden Mannestum des Größten der Inneren
Mission, und doch zeigt das Neue, das hier anbricht,
deutlich, daß es mit keiner der genannten Frömmigkeitstypen
gleichgesetzt werden kann. — In Ausstattung
und Druck hat der Verlag Vorzügliches geleistet.
Hamburg. Helmutli Schreiner.

Bodelschwingh, G. v.: Friedrich v. Bodelschwingh.

Ein Lebensbild, t. Aufl. Bethel: Pfennigverein d. Anstalt Bethel
1922. (423 S. m. e. Bildnis) 8°. Rm. 3.50.

Eine kurze Anzeige der bekannten Lebensbeschreibung
Friedrich von Bodelschwinghs darf auch in der TheoL
Literaturzeitung nicht fehlen. Sein Sohn Gustav v. B.
hat sie geschrieben, nicht als ein umständliches oder vollständiges
Quellenwerk, sondern als ein schlichtes Lebensbild
, das die einzigartige Persönlichkeit in ihrem Reichtum
und ihrer Mannigfaltigkeit vor unsern Augen erstehen
läßt. Für die ersten vierzig Lebensjahre liegen
die von Bodelschwingh selber diktierten Erinnerungen
zu Grunde, die in der Monatsschrift Beth-El, Jahrgang
1909, 1912—14 und 1918/19 erschienen waren. Es ist
sehr zu bedauern, daß sie nicht vollständig wieder abgedruckt
sind, sondern nur auszugsweise. Vielleicht
könnte das bei späterer Auflage nachgeholt werden.
Sie sind gerade in ihrer Unmittelbarkeit von unschätzbarem
Wert. Die Darstellung von 1872—1910 ist von
dem Sohne frei ohne das umfassende schriftliche und
gedruckte Material in Davos niedergeschrieben worden.
Das bedeutet gewiß einen großen Vorteil, weil so ein
Bild aus einem Guß entstanden ist, das lebenswahr die
Hauptzüge wiedergibt. Wenn wir aber erst noch etwas
mehr Zeitabstand gewonnen haben, wird es sehr erwünscht
sein, daß wir eine mit Benutzung aller Quellen
geschriebene wissenschaftlich geschriebene Bodelschwingh
-Biographie erhalten, die ihn auch noch deutlicher
als es hier geschehen konnte, in den geschichtlichen
Zeitzusammenhang hineinstellt, das schöpferisch
Geniale herausarbeitet und es auch an der Kritik nicht
fehlen läßt. Es ist ja für Freunde wissenschaftlich theologischer
Arbeit schmerzlich, daß B. selber gar kein
Verständnis für den Ernst und die" christliche Gewissenhaftigkeit
anderer theologischer Arbeit gehabt hat. Er
hatte nur Vertrauen zu Kähler, Schlatter, Cremer und
ihren nächsten Schülern und Freunden. So liebevoll er
auch sonst jedem Einzelnen begegnete, so war nicht
ohne Schuld gewisser kirchlicher Blätter in ihm ein
Zerrbild entstanden von der „grundstürzenden" Theologie
, und es rächte sich hier, daß er auch als Student
tiefere Einblicke in die theologische Arbeit nicht getan
hatte. Jede menschliche Persönlichkeit — die Großen
nicht ausgenommen — hat ihre Grenzen. Sie sind nicht
nur hier, auch in anderen Punkten bei Bodelschwingh
nicht zu verkennen. Sein Biograph aber steht ihm nicht
nur als der Sohn, sondern auch nach seiner Eigenart so
nahe, daß seine Darstellung selber noch ein Stück von
Bodelschwingh ist. Das gibt dem Buch einen ganz besondern
Vorzug — aber läßt auch eine Lücke offen, die
noch ausgefüllt werden muß. Aber auch so wie wir es
nun haben, ist dieses Buch für uns Alle sehr wertvoll,
vor allem für alle jungen Theologen ein völlig unentbehrliches
Bildungsmittel.

Oreifswald. Ed. von der Goltz.

Petri, Franziskus: Unser Lieben Frauen Diakonle. Vierhundert
Jahre evangel. Liebestätigkeit in Bremen. Bremen: O. Winter
• 1925. (XI, 310 S.) 8°. geb. Rm. 6.50.

Am 16. April 1525 wurde in der als erste in Bremen
zur Reformation übergetretenen Kirchengemeinde von
Unser Lieben Frauen eine „Gotteskiste" errichtet und zu
deren Verwaltung Vorständer (bald Diakonen genannt)
bestellt. Die Einrichtung dieser Diakonie als selbständiger
Träger der kirchlichen Gemeindearmenpflege
hat sich in Bremen im Unterschied zu anderen
Städten bis auf den heutigen Tag erhalten. Zu ihrem
400 jährigen Jubiläum erschien als Festschrift das vorliegende
Buch.

Es gibt ein umfassendes Bild von der Geschichte der Diakonie.
Ihre Anfänge waren nicht leicht, da die organisatorisch begabten
Kräfte, genügende und regelmäßig fließende Einnahmequellen fehlten
, — Mängel, die erst allmählich ausgeglichen wurden. Wachsende
Liebesgesinnung führt zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer planmäßigen
Armenfürsorge, die im 30jährigen Kriege wirklich Bedeutendes
zu leisten vermag. Die allgemeine Notlage zwingt zu grundsätzlichen
Neuerungen. Der Rat gibt seine Zurückhaltung, die alles-
der freien Initiative der Bürger überlassen hatte, auf und richtet
1688 das Generalarmenwesen ein, in das die Diakonie als bürgerliches
Ehrenamt eingeordnet wird. Trotz der belebenden Wirkung
des Pietismus (Undereyk) treten die religiösen Antriebe in der Fürsorge
ganz zurück. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beeinflußt
der gemütstiefe und opferwillige Bredow die Tätigkeit der
Diakonie. Die neue Ordnung von 1779 nimmt zwar den altstädtischen
Diakonien ihren bisherigen Vorrang und den gesamten
Diakonien das Alleinrecht der Hausarmenpflege, trifft aber manche
Verbesserung. Man betont jetzt merkantilislisch eingestellt, als Hauptzweck
der Armenpflege die Förderung der Industrie und damit die
unbedingte Arbeitspflicht der Armen.

Nach den Befreiungskriegen erfolgt ein Rückschlag. Auch die
großzügige Verordnung von 1829 kann auf die Dauer nicht die mit
der veralteten Finanzierung der bremischen Armenpflege verbundenen
Mißstände beseitigen, so wird die öffentliche Armenpflege von
den Diakonien im Jahre 1876 gelöst. Die Diakonen, welche schon
seit den 40er Jahren sich stärker um die eigentlichen Angelegenheiten
der Kirchengemeinde gekümmert haben, schaffen jetzt eme
umfassende kirchliche Gemeindepflegc, welche nach sorgfältiger Prüfung
da eingreift, wo die öffentliche Fürsorge versagt, und im Weltkriege
das einzig dastehende Wagnis unternehmen konnte, die Fürsorge
für sämtliche durch den Krieg betroffene Gemeindcglieder aus
eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten.

Die Schrift kann auch außerhalb Bremens starkes
Interesse beanspruchen. Ähnliche umfassende Darstellungen
aus der Geschichte der kirchlichen Gemeindepflege
fehlen. Der dargestellte Gegenstand — eine
gegenüber den Organen der Gemeinde (Pfarrer, Kirchenvorstand
) vollkommen selbständige, sich selbst ergänzende
Diakonie, die 2 Jahrhunderte ausübendes Organ
der öffentlichen Fürsorge mit amtlichen Befugnissen
ist und doch den Zusammenhang mit der Kirchengemeinde
nie verloren hat, — ist etwas ganz besonderes.
Der Verfasser hat diese Besonderheit klar herausgearbeitet
. Er hat nicht nur eine lückenlose Schilderung
der äußeren geschichtlichen Entwicklung gegeben, sondern
den Gegenstand seiner Arbeit in den Zusammenhang
der Kirchengeschichte und der Geschichte der
Wohlfahrtspflege hineingestellt. Luthertum und reformiertes
Christentum, Pietismus, Rationalismus haben ihre