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Ausgabe:

1925 Nr. 5

Spalte:

114-116

Autor/Hrsg.:

Nietzsche, Friedrich

Titel/Untertitel:

Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen. Hrsg. v. Elisabeth Förster-Nietzsche 1925

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 5.

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lösen, womit zugleich seine ethische Verengung wie
seine erkenntnistheoretische Verankerung gelockert wird.
Und die Wendung zur Naturphilosophie wird nun auch
in ihrem zweifachen Sinn deutlich: sie ist der Umweg,
auf dem Sendling das Recht des Theoretisch-Spekulativen
als des eigentlichen Elementes des Denkens und
die Notwendigkeit der Ichphilosophie sich als umfassende
Weltphilosophie durchzuführen, zur Geltung
bringt, und zugleich der Irrweg, auf dem er sich verläuft
in die Preisgabe der Ichpnilosophie an die Seinsphilosophie
. All das dient dann aber schließlich dazu,
klar zu machen, warum Hegel an Schelling anknüpfen
und dennoch ihn fahren lassen mußte: die Philosophie
des Geistes vereint die Wahrheit von Fichtes Ichphilosophie
mit Schelling's Konzeption des absoluten Idealismus
.

Dieser „absolute transzendentale Idealismus" Hcgel's
wird dann im einzelnen so entwickelt, daß der VII. Abschnitt
ihn in seinem Wesen zu fassen sucht und die
großen für sein Verständnis wichtigen Streitfragen bespricht
, der VIII. dann Charakteristiken der drei Hauptschriften
Hegels und Analysen ausgewählter Stücke
aus Phänomenologie und Logik bringt. Die Aufgabe
war hier für K. schwieriger als in den andern Abschnitten
, weil ihm bei seinem Verhältnis zu Hegel der
Hebelpunkt außerhalb des Systems nun fehlt und er
am klarsten doch darstellen kann, wo er seinem Gegenstande
dialektisch, mit Ja und Nein zugleich, gegenübersteht
. Zielstrebig ist die Darstellung hier, wo er am
Ziele ist, nun freilich nicht mehr. Aber leicht und
behende werden die großen Gesichtspunkte hingestellt,
scharfsinnig das Verhältnis zu Fichte und Schelling
an einzelnen Punkten immer aufs neue beleuchtet, und
mit fast verwegener Kühnheit bei dem an sich schon
kühnen Versuche einer Interpretation der großen Logik
gerade ein besonders schweres Kapitel als Beispiel der
Erläuterung gewählt. Das Letztere ist eine Probe eigner
Denkkraft, die nicht alle Lehrer der Philosophie abzulegen
sich getrauen werden.

In den Mittelpunkt seiner Hegeldeutung stellt K.
selbstverständlich die Logik. Zu Hegel's Logik den
Weg zu bahnen, ist eigentlich die Absicht des ganzen
zweibändigen Werks. Und eine Absicht, die gelungen
ist. Dabei spricht er die Kernfrage mit rückhaltloser
Deutlichkeit aus (S. 319f.): „Die Hegeische Philosophie
ist nicht nur Identitäts-, sie ist auch Widerspruchsphilosophie
und wird eben hierdurch im Unterschiede
zu Sendlings Identitätssystem Philosophie des
Geistes. Die Identität ist selbst widerspruchsvoll; in
dieser Erkenntnis stoßen die beiden Momente zusammen
und durchdringen sich. Es ist nun näher zu betrachten,
wie diese Durchdringung von Hegel gedacht wird, da
sie den logischen Sinn, den spekulativen Pulsschlag
seines Systems darstellt. Welche Rolle spielt der Widerspruch
in diesem Systeme, und inwiefern findet er seine
Auflösung? Der Widerspruch vernichtet das Denken, —
wie kann das Denken ihn dennoch ertragen und zum
methodischen Erkenntnismittel machen?" Alles über
Hegel Gesagte führt entweder auf diesen Satz hin oder
entwickelt die Antwort auf ihn. Es liegt in der Art der
Frage drin, daß sie keinerlei Abschwächung des Problems
als Antwort duldet. Die Antwort selbst kann hier
nicht dargestellt werden, da ihre Feinheit in der Einzelausführung
besteht. Nur eine letzte Anwendung des
den Widerspruch in sich versöhnenden Geistgedankens
mag dastehen, die als der knappste Ausdruck von K.'s
Gesamtauffassung gelten kann (S. 414f.): „Fragt man
ob Hegel durch diese Überordnung des Wissens über
die Religion zum Vertreter eines einseitigen Intellektualismus
wurde, ob er den Kampf zwischen Glauben und
Wissen, zwischen Wollen und Erkennen, zwischen Leben
und Denken zugunsten der theoretischen und zu Ungunsten
der praktischen Seite dieser Gegensätze entscheide
, so muß darauf mit Ja und Nein geantwortet
werden. Mit Ja, solange man die Alternative für eine

feste und unaufhebliche hält, denn in der Tat sieht
Hegel im Glauben nicht die höchste Stufe, die der
Geist erreicht; mit Nein aber, wenn man sich auf den
Standpunkt der Phänomenologie selbst begibt, denn auf
ihm gilt jene Alternative für beweglich und werdend,
die Gegensätze als ineinander übergehend und durch
das Wissen um dieses Übergehen als versöhnt
. Das Versöhnungswort, welches das Wissen
spricht, kommt nicht aus dem einseitig gefaßten „Intellekte
", aus einem dem praktischen entgegengesetzten
theoretischen Bewußtsein, sondern aus dem konkreten
Geiste, der sich als konkreten in jenem Wissen begreift
. .. „Es muß aus diesem Grunde gesagt werden,
daß nichts gewußt wird,... was nicht als gefühlte Wahrheit
, als innerlich geoffenbartes Ewiges, als geglaubtes
Heiliges ... vorhanden ist.' " — Von dieser Deutung
her glaubt K. dann das Recht zu haben, in Hegels Philosophie
die Synthese von Antike und Christentum, oder
auch die Einigung von griechischem und deutschem
Geist zu finden. So meldet auch ein Nichttheolog hier
sein Wort an zu der Frage nach dem Verhältnis von
Idealismus und Christentum, ein Wort, das die Selbstschätzung
Hegels in dieser Frage für sachlich richtig
erklärt. Das macht für uns Theologen die Auseinandersetzung
mit diesem Buche zu einem spannungsreichen
Ringen. Freilich, wieviele werden zu dieser Auseinandersetzung
willig sein in einer Theologengeneration, der alle
philosophische Bildung soweit problematisch ist, daß
Freund und Feind in schönster Eintracht die Theologie
des starren Gegensatzes von Gott und Welt — dialektisch
zu nennen wagen?
Oöttingen. E. Hirsch.

Nietzsche, Friedrich. - Der werdende Nietzsche. Autobiographische
Aufzeichnungen. Hrsg. v. Dr. phil. h. c. Elisabeth
Förs ter - N ie t zs ch e. München: Musarion-Verlag 1924. (VIII,
456 S. m. 3 Taf.) 8°. Om. 6—; geb. 9.50.

Ders.: Jugendschriften. Dichtungen, Aufsätze, Vorträge, Aufzeichnungen
u. philologische Arbeiten 185S—68. (Sonderausgabe
des 1. Bd.s der Musarion-Ausgabe von Friedrich Nietzsche's gesammelten
Werken.) München: Musarion-Verlag 1923. (XVI,
326 S.) 4°. Mk. 4—; geb. 6.50.

Nietzsche's Schwester hat bekanntlich ihre alleinige
Verfügung über Nietzsche's Werke und Nietzsche
's Nachlaß dazu benutzt, um ein nicht leicht übersehbares
Chaos von Nietzsche-Ausgaben auf den Markt
zu bringen. Immer noch etwas im Rückhalt habend,
in keiner Ausgabe das Ganze bietend, so treibt sie den
Nietzscheforscher in die Notwendigkeit hinein, manches
doppelt zu kaufen, und nimmt ihm doch niemals
das unangenehme Gefühl, mit unvollständigem Material
zu arbeiten. Wer auch nur eine philologische Ader hat,
steht kopfschüttelnd vor diesem Netz künstlich geschaffener
Schwierigkeiten.

Besonders peinlich haben wohl viele es empfunden,
für die Werdezeit Nietzsche's auf die lückenhaften Fragmente
, die sich in den beiden Biographien der Schwester
zerstreut finden, angewiesen zu sein. Die beiden
hier zu besprechenden Veröffentlichungen beseitigen wenigstens
diesen Zustand. Deshalb wird man sie zwar
mit der Frage, warum sie nicht schon längst geschahen
, aber dennoch mit Dank begrüßen. Chaotisch
sind freilich auch sie noch mehr als genug. Manche Gedichte
stehen in beiden Veröffentlichungen, manche nur
in einer von beiden; im „werdenden Nietzsche" findet
man viele sonst schon gedruckte Briefe. Das Material
für Nietzsche's literarischen Schülerverein steht halb
in der einen, halb in der andern Veröffentlichung; die
im „werdenden Nietzsche" abgedruckten autobiographischen
Skizzen des Knaben sind durch zwischenhinein abgedrucktes
andres Material in kleine Stücke zerrissen; der
große Theognisaufsatz findet sich im ursprünglichen
Text und unverkürzt allein im einzeln nicht zu habenden
ersten Band der Musarionausgabe (die keiner zu
kaufen Lust verspürt, der das Meiste schon in einer
andern Ausgabe besitzt), sodaß die aus diesem 1. Bd. er-