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Ausgabe: | 1925 Nr. 4 |
Spalte: | 90-91 |
Autor/Hrsg.: | Rolffs, Ernst |
Titel/Untertitel: | Politische Ethik und ethische Weltanschauung 1925 |
Rezensent: | Schweitzer, Karl |
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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 4.
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Kattenbusch, Prof. Ferdinand: Die deutsche evangelische
Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre
Schäden 4., vollst, umgearb. Aufl. der Schrift „Von Schlciermacher
zu Ritsehl". Gießen: A. Töpelmann 1924. (VIII, 124 S.) gr 8°.
Om. 3.50; geb. 4.60.
Vor einem Vierteljahrhundert gab es wohl in Gießen
keinen Theologiestudenten, der nicht Kattenbusch's „von
Schleiermacher zu Ritsehl" sein eigen genannt hatte, und
als der verehrte Verfasser sein fünfundzwanzigjähnges
Dozenten jubiläum dort feierte, erschien sogar ein witziges
Festgedicht unter diesem Titel. Mochte für den Studenten
in erster Linie die kleine, ursprünglich einen
Vortrag darstellende Schrift als Kompendium der Geschichte
der Theologie im 19. Jahrhundert für Examenszwecke
sich empfehlen, so war sie darüber hinaus lehrreich
für jeden, der über die wissenschaftliche Lage der
Theologie, speziell der systematischen, am Jahrhundertende
— sie erschien 1892 — sich unterrichten wollte.
So stieg die Zahl der Auflagen rasch auf drei (1903);
und daß K. nunmehr eine Pause machte, allen Bitten um
eine Neuauflage trotzend, wird verstehen, wer der inzwischen
eingetretenen Lageveränderung in der Theologie
gedenkt. Um so besser, daß uns jetzt die vierte
Auflage unter verändertem Gesichtskreise und äußerlich
verändertem Titel geschenkt wird! Die zwanzigjährige
Pause ist nur von Vorteil gewesen; sie hat eine geradezu
bewundernswerte Abgeklärtheit geschaffen, die dieses Buch
— das ist es, und keine „Broschüre", trotz der nur
124 S. — in die erste Reihe der Darstellungen der Geschichte
der modernen Theologie rückt. Es ist stellenweise
geradezu ein Genuß, dem Führer zu folgen, ob
der ruhigen, sicheren Hand und der Prägnanz der
Formulierung, die oft in einem Worte oder in einem j
knappen Satze eine ganze Gedankenwelt lebendig werden
läßt (vorausgesetzt natürlich, daß man den charakterisierten
Autor selbst gelesen hat). Z. B. bei Häring
(S. 75) die „überraschend feine Ausziselierung der Probleme
" oder die treffende Differenzierung zwischen
Kutter und Ragaz (S. 90) oder das Urteil über
Schlatter (und manchen anderen dieser Richtung, setze
ich hinzu): „in den erkenntnistheoretischen Fragen an
Abgründen, nicht ohne philosophische Selbstbesinnung,
doch wie hinspielend" (S. 57). Die Ausmalung der
knappen Striche zu einem fein schraffierten Porträt ist
seltener, wo sie aber begegnet, wie bei Herrmann
(S. 69 ff.) ist sie vortrefflich. An die überreichlichen,
auf die Dauer etwas bemühenden, der Markierung dienenden
„Anführungsstriche" gewöhnt man sich, sobald
man sich sagt, daß K. in dem gewählten Worte „Gedanken
" unterbringen will, die der Leser aus ihm
herausholen soll.
Die einzelnen Ausgaben gegeneinander abzuwägen,
fehlt mir die Möglichkeit. Das Grundschema der drei
Schulen nach Schleiermacher, liberale, konfessionelle
una Vermittlungstheologie (S. 35 f.) ist beibehalten,
auch weitergeführt bis in die jüngste Vergangenheit
hinein. Solange man es selbst nicht besser macht, sollte
man hier nicht tadeln, aber augenscheinlich hat die alte
Schematik etwas hemmend gewirkt. Es war schon
schwierig, manche Forscher da unterzubringen, und mitunter
erscheinen Namen etwas bunt durcheinander gewürfelt
nebeneinander, die nicht gut ausgelassen werden
konnten, aber in den Rahmen nicht recht hereinpassen
Kann man Kahler z. B. der Vermittlungstheologie zurechnen
? (S 56, wo K. selbst Bedenken dagegen
äußert.) An ihn schließt sich dann Schäder, der m E
viel besser als einer der geistigen Väter des K. Barthkreises
gewürdigt würde, als welcher er dann an anderer
Stelle (S. 97) noch einmal wenigstens erwähnt wird.
Das alte Schema läßt dann vor allen Dingen den
Durchbruch der neuen Problemstellungen, vorab die der
religionshistorischen Richtung, nicht recht greifbar werden
. Man möchte gerne ausführlicher hören, wie sie
geworden ist, nicht nur, wie sie i s t. Verschiedene
Forscher scheinen mir da etwas zu kurz zu kommen. So
darf G. Krüger mit seiner programmatischen Schrift „das
Dogma vom Neuen Testament" den Anspruch erheben,
genannt zu werden, überhaupt die zahlreichen programmatischen
Schriften, die die Isolierung des Neuen Testamentes
und seiner „Theologie" auflösten. (Wrede, Wei-
nel, Gunkel u. a.) Auch Rieh. Rothe aber z. B. erscheint
S. 48 ein wenig ungeschickt an die Vermittlungstheo-
logen angeklebt. Es läßt sich der Reichtum theologischen
Lebens vielleicht eher als Problemgeschichte denn
als Schulgeschichte meistern; wenigstens sollte man
das einmal versuchen. Ansätze dazu bietet auch K. genug
.
Seine Zugehörigkeit zur Schule Ritschl's, die K. ehedem
gerne betonte, tritt deutlich heraus in dem harten
Urteil über den Pietismus (S. 12 f.) oder die Religions
-Philosophen (S. 66). Im Übrigen jedoch,
ganz abgesehen von der offenen Kritik an Ritsehl (S.
56), hat sich K. weitgehend den neuen Fragestellungen
erschlossen und urteilt mit der wohlwollenden Weitherzigkeit
, die ihn von jeher zierte. Am frappantesten
tritt das Troeltsch gegenüber zutage, über den vor 25
Jahren in mündlicher Diskussion K. ganz anders zu urteilen
pflegte. Er bedeutet jetzt geradezu die Auf-
gipfelung der ganzen Entwicklung, die „kennzeichnende
Marke" für eine Art von Abschluß (S. 1, dazu 78 die
Konfrontierung zwischen Troeltsch und Herrmann). Mit
vollem Rechte. Auch die inhaltliche Begründung (S.
79), daß hier Schleiermacher mit der Intention, den
Glauben nicht zu lösen von dem Ganzen des Denkens,
ihn vielmehr mit der Gesamtheit der Funktionen und
Methoden, die es aufbietet, zu verbinden, die stärkste
Bewußtheit erlangt hat, ist treffend gegeben, wie überhaupt
die Gedankenwelt von Troeltsch liebevoll einfühlend
, ja geradezu warm analysiert wird. Rollt sich
bei ihm alles von der Geschichte auf, so freut man sich,
auf die Bedeutung Kählers für die Fundamentalfrage
den Finger gelegt zu sehen (S. 61), mit der Kritik:
„aber damit war das Problem doch mehr beiseite gerückt
, als erledigt." Die jüngste Entwicklung, der Karl
Barth-Kreis, steht in der Tat jenseits der Troeltsch-
linie, d. h. jenseits einer rationalen (nicht: rationalistischen
!) Einstellung der Religion. K. unterzieht sie einer
ausgezeichneten Kritik, die die lebhaften Bedenken nur
verstärkt, ob diese Transzendenz befriedigen kann. Nur
einen Satz möchte ich hier zitieren: „ich meine nur, man
müsse ganz konsequenterweise sich dann einfach dem
Agnostizismus hingeben" (S. 100). Daß dann zum
Schluß K. der kommenden Entwicklung gleichsam einige
gute Ratschläge mit auf den Weg gibt, den Gottesgedanken
in den Vordergrund rückend und die Personalisierung
Gottes dogmenhistorisch als Antithese gegen
die Stützung der Gottesidee mit griechischen Denkmitteln
mit besonderer Illustration an Luther (der sehr
fein gegen Calvin abgehoben wird) vortreibend, läßt
den reichen Dank für das Gebotene noch einmal besonders
lebhaft werden.
Zürich.______ W' Köhler-
Rolffs, Emst: Politische Ethik und ethische Weltanschauung.
Leipzig: J.C.Hinrichs 1923. (X, 359 S.) 8". Gm. 2.80; geb. 3.75.
Nach dem Vorwort will der Verfasser in diesem umfangreichen
Buche nicht weniger als eine „einheitliche und geschlossene Weltanschauung
" „von einem festen Standpunkt jenseits aller Kulturentwicklung
" darbieten, nachdem der Weltkrieg eine gründliche Weltanschauungskritik
geübt habe. Es wird sogar an Augustins Gottesstaat
und Hegels Phänomenologie erinnert!
Der Rezensent muß gestehen,daß er diese Aufgabe nicht als gelöst
erachten kann, ja daß ihm der rote Faden trotz des ausführlichen
Inhaltsverzeichnisses nicht immer gegenwärtig geblieben ist. Eine
straffere Gedankeilführung und Konzentration auf eines der vielen
angeschnittenen Probleme würde sich empfohlen haben. Der (an
Schleiermachers angelehnten) Terminologie fehlt oft die Schärfe.
Über das Hauptthema „Politische Ethik" handeln erst die
letzten 50 Seiten. Und das Resultat? — der demokratische Staat
samt Völkerbund mit christlichem Einschlag! „..wer als Christ
das Gottesreich will, muß sich für die Errichtung des Völkerbundes
einsetzen" (p. 347). Und auf welche Hoffnungen wird der
künftige Völkerbund aufgebaut? „Es darf keiner von ihnen (sc. den
Staaten im Völkerbund) seinen Vorteil suchen auf Kosten der andern,