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Ausgabe:

1925 Nr. 4

Spalte:

84-85

Autor/Hrsg.:

Buchwald, Georg

Titel/Untertitel:

Neues zur Charakteristik Luthers 1925

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 4.

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diesem Abschnitt nicht behandelten damaligen kirchlichen
Lehren und Anschauungen sagen, daß B. da einfach
auf der großen Heerstraße geht, soweit diese schon
fertig war? Wäre es nicht lohnend, zu zeigen, daß in
der Wiedergabe des Traditionellen oder in der Art seines
Vorausgesetztseins affektvolle, durch die dauernde
oder augenblickliche Stimmung B.'s bedingte Verschiedenheiten
sich nachweisen lassen, deren einige vor
einem scharfsinnigen Ketzerrichter nicht bestehen könnten
? Und ein Zweites! L. meint (S. 105, Anm. 10; 112,
Anm. 10), die Anselmsche Satisfaktionslehre habe kein
nachweisbares Echo bei B. gefunden. Von weitläuftigen
Auseinandersetzungen absehend, frage ich nur, ob die
von L. selbst (S. 107) benutzte Predigtstelle (vgl. auch

5. 109, Abs. 2 und S. 111, Anm. 10) ohne Hinweis auf
Anselm wirklich erklärbar ist. Ich kann mir kaum eine
bessere Erläuterung des Grundgedankens der Anselm-
schen Theorie denken als diese dichterische Erklärung
des Gotteswortes: „Poenitet me fecisse hominem" (Gen.

6, 7), das bei B. den Streit über das Schicksal des gefallenen
Menschen zwischen justitia und veritas einerseits
, misericordia und pax andrerseits zur Erledigung
bringt: Poena, inquit, me tenet, mihi incumbit sustinere
poenam, poenitentiam agere pro homine, quem
creavi . ., ecce venio. Daß der Begriff der satisfactio bei
B. aus Athanasius stamme, ist inbezug auf Athanasius
wie inbezug auf B. gleich unhaltbar. — Die beiden
andern Teile des Buches bewegen sich auf einem Gebiete
, auf dem schon viel gearbeitet ist. Aber man wird
den an Studien zur Geschichte der Mystik geschulten,
auf eifrigster Bernhard-Lektüre ruhenden und reiche
Quellennachweise bietenden Ausführungen L.'s, falls
man an seiner oft rhetorischen und nicht selten gezierten
Redeweise sich nicht stößt, gern und mit Nutzen
folgen, obgleich sie mehrfach des Systematisierens zu
viel tun. Doch dem, was dem Verf. am wichtigsten
ist, der reinlichen Unterscheidung von „Gottesmystik"
und „Christusmystik", vermag ich nicht zuzustimmen.
Das ist allerdings richtig, daß die „Gottesmystik", d. h.
die ältere (neuplatonische) Mystik, deren außerchristlichen
Ursprung L. ebenso unumwunden zugibt, wie ihr
Vorhandensein bei Bernhard, etwas anderes ist, als die
devotio gegenüber der geschichtlichen Person Jesu
Christi. Aber ist diese letztere „Christus m y s t i k"? Handelte
es sich bei ihr nur um eine „überaus innige, betrachtende
Versenkung in das Leben Christi", dann ließe
sich darüber streiten, ob auch diese mit L. (S. 189,
Anm. 4) „Mystik" genannt werden könnte. Doch die
Jesusfrömmigkeit Bernhards, deren Bedeutung ein evangelischer
Christ leichter ermißt, als ein Katholik, ist
mehr (vgl. R. Seeberg, Dogmengesch. 32, 128ff.; A. v.
Harnack, DG. 3*, 341): ein christozentrisches Verständnis
des Christentums, das trotz seiner mönchischen
Färbung mit der Mystik wenig gemein hat. Da, wo sie,
als devotio erga c a r n e m Christi oder als amor car-
nalis charakterisiert, dem amor spiritualis weicht, d. h.
da, wo die devotio sich auf das verbum richtet (vgl.
2. Kor. 5, 16), da freilich steht man genuiner Mystik
gegenüber. Aber ist diese altbekannte Logos-Mystik von
der „Gottesmystik" unterscheidbar? — Eine neue Form
der Mystik liegt — ich komme zu keiner andern
Formulierung, und auch R. Seeberg (32 132) scheint
ebenso zu denken — bei Bernhard d a vor, wo die bräutliche
Vereinigung mit Christo „als Fortsetzung der geistlichen
Erfahrungen auf der vorigen Stufe" (Seeberg
a. a. O.) sich darstellt, bzw. wo die Menschheit
Christi auch in der Ekstase „das transparente Kleid des
Geliebten bleibt" (meine DG.4 S. 523). Ist das richtig,
so ist das Problem, das die Mystik B.'s darstellt, mit
der Unterscheidung zwischen „Gottesmystik" und
„Christusmystik", in der L. die Lösung der Schwierigkeiten
findet, nicht erklärt. Man muß dann anerkennen,
daß bei B„ praktisch siegreicher als in der Theorie,
ein wirkliches, wenn auch durch manche theologische
und mönchische Traditionen gehemmtes, Verständnis des

Evangeliums mit den alten mystischen Überlieferungen
ringt, oft mit ihnen sich verschlingend, oft sie mehr oder
minder verdrängend und so die Mystik verchristlichend,
aber noch häufiger vor ihnen, als dem „Höheren",
zurückweichend. — An Einzelheiten wäre, wie schon
angedeutet ist, manches zu weit gehende Systematisieren
und manche damit zusammenhängende Erklärung Bern-
hardscher Sätze zu kritisieren; auch manche angreifbare
Behauptung reizt zum Widerspruch. Ich will abermals
nur zweierlei erwähnen, — zweierlei, das vielleicht allgemeineres
Interesse hat. L. übersetzt Bernhards Satz:
„cum ergo ipsa (ecclesia) in scripturis divinis verba vel
alterat vel alternat, fortior est illa compositio, quam
prima positio verborum" (in vigil. nativ. 3,1; MSL 183,
94 D) ins Irreale: „wenn sie ... vornehmen würde, so
wäre" (S. 39). Das ist eine unstatthafte Korrektur!
Bei B. handelt es sich um die Tatsache, daß die
ecclesia mater Exod. 16,6 (vespere scietis, quod dominus
eduxerit vos de terra Aegypti) vigiliae nativitatis
domini aptavit: hodie scietis, quia veniet dominus. — Zu
| Bernhards Wort, wir würden die Sonne nicht in gewisser
| Weise zu sehen vermögen, si non aliqua er parte ipsum
lumen corporis ... coelesti lumini simile esset (in cant.
31,2; MSL 183, 941 B), bemerkt L. (S. 51, Anm. 8):
„der Vergleich mit dem Sonnenlicht ist augustinisch."
Das heißt, nicht weit genug zurückgehen! Der Gedanke
I stammt, wie aus Büchmanns „Geflügelten Worten" zu
ersehen ist, in der durch Goethe uns geläufig gewor-
I denen Form wörtlich aus Plotin (ennead. 1, 6, 9, ed.
| Müller 1,54,2 f.), und Potin hat ihn aus Plato (respubl.

508 b); ja schon für Pindar ist das Auge sonnenhaft
I (U. v. Wilamowitz, Piaton I, 416, Anm. 2). — Der
I Druck ist im ganzen einwandfrei. Doch ist S. 40, Z. 3,
! ein „sientire" (statt scientiae), S. 125, Anm. 7, ein
„Rmtschl" stehen geblieben, und S. 182, Anm. 4, muß
I es statt „die s. Paschae 18" heißen: 1,17. Sehr
störend ist, daß die Verweise auf Predigten de tempore
und de sanctis bloß den Sonn- oder Festtagsnamen und
[ das Kapitel nennen, nie (wie auch sonst nie bei den
: Bernhard-Zitaten) die Seitenzahl einer Ausgabe. Das
macht dem Leser unnötige Arbeit. Dann zumal, wenn
Sigla verwendet werden, die S. VII nicht mit erklärt
sind, wie „Temp. res." (= sermones de tempore, in die
resurrectionis) oder „OSs" (= sermones de sanctis, in
festo omnium sanctorum).
Halle a. S. Friedrich Loof s.

Buchwald, Georg: Neues zur Charakteristik Luthers.

Lutherworte aus d. handschriftl. Überlieferung d. Predigten u. Vorlesungen
zusammengestellt. Leipzig: Ed. Pfeiffer 1924. (VIII.
76 S.) gr. 8°. Gm. 1.20; geb. 2.50.

Oeorg Buchwald, der sie in der Weimarer Lutherausgabe herausgab
, möchte in dieser Blutenlese die Predigten Luthers in ausgewählten
Kernsprüchen einem größeren Kreise nahe bringen. Die hier
vorliegenden Schwierigkeiten verhehlt er sich nicht; sie liegen in der
bekannten Art der Nachschrift durch Rörer oder andere; auf der anderen
Seite sind manche Edelsteine in ihnen verborgen. Solche hat
Buchwald gesammelt und seinerseits ins Deutsche übertragen, in Anpassung
an Luthers Sprache, unter Berücksichtigung der sprachlichen
Gepflogenheiten Rörers. Gruppiert ist: 1. Selbstzeugnisse. 2. Der
Weg zu Gott. 3. Das Finden Gottes im Glauben. 4. Oott und ich.
5. Das Leben des Christen in Gott. 6. Die Kirche. 7. Papsttum.
8. Deutschland. 9. Allerlei. Das Jahr der betr. Predigt und die
Stelle in der Weimarer Ausgabe sind beigefügt. Die Hoffnung, „daß
manches der hier zusammengestellten Kernworte mit der Zeit Gemeingut
unsres evangelischen Volkes werden wird", vermag ich insofern
nicht zu teilen, als uns die Kernworte ja eben nicht in Lutherscher
Prägung überliefert sind, sondern durch Rörer. Da Ist auf all ' Fälle
Vorsicht geboten, schon gegenüber den Katholiken. In den meisten
Fällen dürfte doch nur der Sinngehalt Lutherisch sein, bei volklichem
Gemeingute aber ist die Form wesentlich. Immerhin die Zusammenstellung
ist lehrreich und dankenswert; sie kann und wird
auch dem Lutherforscher Anregung geben. Gewidmet ist die Schrift
dem Leiter der W. A. Möchte diese nur wirklich ein „geistiges
Nationaldenkmal" werden und nicht durch Schwächen und Mängel in
den einzelnen Bänden enttäuschen! Das ist nicht des Herausgebers
Schuld, der als Oermanist die Fülle der zum großen Teile theologischen
und historischen Probleme überhaupt nicht meistern kann,