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Ausgabe: | 1925 Nr. 26 |
Spalte: | 620 |
Autor/Hrsg.: | Ritschl, Albrecht |
Titel/Untertitel: | Die christliche Vollkommenheit 1925 |
Rezensent: | Rolffs, Ernst |
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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 26.
620
Die beiden Auflagen des Buches über die Religion, auf
das hin Girgensohn vor 22 Jahren in Dorpat promoviert
und sich habilitiert hat, umspannen die gesamte Zeit
seiner schriftstellerischen Tätigkeit. In diesem Zeitraum
von etwas mehr als zwei Jahrzehnten hat er in mehreren
wertvollen Schriften, von denen seine Zwölf Reden über
die christliche Religion (3. Aufl. 1913), sein Schriftbeweis
in der evangelischen Dogmatik (1914) und sein
Grundriß der Dogmatik (1924) hier in Erinnerung gebracht
werden mögen, seine eigentlich theologischen
Anschauungen in charaktervoller und anziehender Weise
dargelegt. Sein vorwiegendes wissenschaftliches Interesse
aber gehörte der Religionspsychologie, in die er
durch sein großes Werk über den seelischen Aufbau des
religiösen Erlebens (1921; vgl. die Besprechung in der
ThLZ. Jahrg. 46. 1921 Sp. 331 ff.) in Anlehnung an
seinen unvergeßlichen Lehrer Külpe eine neue, scharfsinnig
ersonnene und mit gewissenhafter Sorgfalt gehandhabte
experimentelle Methode einzuführen gesucht
hat.
Mit einigen von deren Kritikern hat er sich dann in seiner
Leipziger Antrittsvorlesung vom 2S. Oktober 1922 überaus gewandt
und im klaren Bewußtsein von den Grenzen des von ihm angegebenen
und befolgten Verfahrens auseinandergesetzt. Der Text dieser Ausführungen
ist in der neuen Auflage unverändert wiedergegeben, aber durch
eine Reihe von neuen Anmerkungen, die etwas über 12 Seiten füllen,
ergänzt worden. Und zu dem gleichfalls unveränderten Abdruck seines
Erstlingswerkes ist nur eine Vorrede von 4 Seiten hinzugekommen, in
der er es rechtfertigt, daß er trotz der von ihm inzwischen gemachten
Fortschritte jenes Buch noch einmal in seiner ursprünglichen Gestalt
der theologischen Leserwelt vorgelegt hat.
Besonders aus dem Zuwachs, den die Antrittsvorlesung
von 1922 erfahren hat, gewinnt man einen lebendigen
Eindruck davon, wie eifrig und mit welcher
Hingebung Girgensohn bestrebt war, die von ihm vertretene
religionspsychologische Methode immer mehr zu
vervollkommnen, mit welcher brennenden Erwartung er
neuen Aufgaben, die er sich gesteckt sah, entgegenblickte
, und wie es ihm auch bereits gelungen zu sein
scheint, andere tüchtige Kräfte zur Mitarbeit an seinem
Lebenswerk zu gewinnen. Nun ist dieses durch seinen
frühen Tod unvollendet abgebrochen. Ob ein ihm kongenialer
Schüler befähigt sein wird, es in seinem Sinne
fortzusetzen, bleibt abzuwarten. Sollte es sich aber auch
im ferneren Fortschritt der religionspsychologischen Arbeit
herausstellen, daß sich nicht alle Erwartungen erfüllen
werden, unter denen Girgensohn seine unermüdliche
Arbeit getrieben hat, so trifft doch auch auf ihn das
alte Wort zu: in magnis voluisse sat est. Jedenfalls aber
ist er es wert, daß ihm als einem Forscher, Denker und
Lehrer von großer wissenschaftlicher Energie und vorbildlicher
Pflichttreue, als einer die Herzen gewinnenden
Persönlichkeit und als einem hochverdienten Fachgenossen
, von dem noch so vieles zu erwarten gewesen
wäre, ein dankbares und ehrendes Gedächtnis erhalten
bleibt.
Bonn. O. Ritschi.
Dyroff, Adolf: Religion und Moral. Berlin: F. Dümmler 1925. (95 S.)
80. Rm. 2—.
Der Verfasser will beweisen, „daß der Gegenstand
einer religionslosen Moral zu dürftig ist, um unser
Menschentum ganz auszufüllen, daß ihr Inhalt entweder
zu abstrakt und vag oder zu ungewiß und schwankend
ist, um unserm ununterdrückbaren Bedürfnis nach möglichst
konkreten und sicheren Geboten zu genügen, daß
ihr Umfang zu enge ist, um von den Grenzen unseres
sittlichen Menschentums zu den übrigen Grundtendenzen
unserer Gesamtnatur hinüberzufinden". Ich muß bekennen
, daß ich diese ganze Problemstellung für verfehlt
halte; wenn „religionslose Moral" soviel heißt als Moral
anstelle der Religion (also Ablehnung der Religion einschließt
) — und das nimmt der Verf. an — so hat der
Verf. gewiß recht; aber das eigentliche Problem, in
welchem Zusammenhang stehen Ethik und Religion,
wird damit garnicht berührt, eben dies aber ist das
einzige Problem, was zugleich den Theologen und den
Philosophen interessiert. Im einzelnen enthält freilich
die Schrift Dyroffs manches Beachtenswerte; auch berührt
der warme „religiös-ethische" Ton überaus sympathisch
.
Bremen. Bruno Jordan.
Ritsehl, Albrecht: Die christliche Vollkommenheit. Ein Vortrag
. — Unterricht in der christlichen Religion. Kritische Ausgabe
von Prof. D. Cajus Fabricius. Leipzig: J. C. Ffinrichs 1924.
(XXVIII, 120 S.) 8». Rm. 3-.
Ritsehl ist sehr rasch aus der Mode gekommen. Aber schwerlich
dürften die .Modernen in allen Punkten über ihn hinaus sein. Eine
etwas eingehendere Beschäftigung mit diesem energischen und charaktervollen
Theologen kann auch dem heutigen Geschlecht noch lohnenden
Gewinn bringen. Allerdings werden nur wenige die Zeit finden,
die 3 Bände „Rechtfertigung und Versöhnung" zu studieren. Es ist
daher ein zweifelloses Verdienst, daß Fabricius zwei kleinere Schriften
Ritschls, die lange vergriffen waren, in ihrer ursprünglichen Gestalt
uns wieder zugänglich gemacht hat. Gerade in dieser Gestalt
sind sie für Ritschis konsequent ethische Einstellung bezeichnend
und geeignet, einen starken Eindruck von der Geschlossenheit
und Einseitigkeit seiner Auffassung des Christentums zu erwecken.
Die Änderungen in den späteren Auflagen, die sorgfältig in Fußnoten
angeführt werden, lassen eine Erweichung der ersten Konzeption erkennen
, durch die das Ethische zu gunsten des Religiösen abgeschwächt
wird. Eine vortreffliche Einleitung unterrichtet über die
historische Stellung und die dogmatische Eigenart der Ritschlschen
Theologie, sowie über die Entstehung des Vortrages über das evangelische
Vollkommenheitsideal und die Bedeutung des „Unterrichts".
Osnabrück. « E. Rolffs.
Waggett, P. N.: Knowledge and Virtue. The Hulsean
Lectures for 1920—1921. Oxford: Clarendon Press 1924. (217 S.)
gr. 8».
Diese vier je zur Hälfte im November 1920 und
| im Januar 1921 an der Universität Cambridge gehaltenen
Vorlesungen über Erkenntnis und Tugend, Wissen und
Wollen, sind nicht rein theoretischer Natur, sondern
wollen Mut machen zum Suchen nach der Wahrheit,
aus dem dann eine Kräftigung der moralischen Fähig-
I keiten erwachsen soll. Erkenntnis gilt als „Quelle und
Ursache der Vollendung", wie umgekehrt die Tugend
I den Weg zur vollkommeneren Erkenntnis bedeutet. Die
Einleitung, die den Vorlesungen nachträglich im Druck
vorangestellt ist, sucht eine Beziehung herzustellen zu
den Ereignissen der letzten Jahre, zumal zum Krieg;
die Macht des „Gedankens" scheint geeignet, um Gewalt
zu verhindern. Daß dem Verfasser die Linie des
Schützengrabens von der See bis nach der Schweiz als
die Grenze der Zivilisation erscheint (S. 20), die zu
hüten seine Landsleute zusammen mit Frankreich sich für
berufen erachteten, sei nur nebenbei erwähnt, weil solch
ein Urteil sich besonders eigentümlich ausnimmt bei
einem Manne, der gern von seiner sechsjährigen Abwesenheit
von der Heimat und von seinem Aufenthalt
in der alten und neuen Welt redet, was seinen Gesichtskreis
etwas hätte weiten können, und der gerade zufällig
ein Buch schreibt über „Erkenntnis" und dadurch bedingte
„Tugend", in solch einem Urteil aber selber beides
vermissen läßt. Der Weg von der Theorie zur
Praxis ist oftmals ziemlich weit, sogar bei ausgesprochen
praktischer Einstellung, wie diese Vorlesungen sie
zeigen.
Nachdem der Gang; der vier Vorlesungen kurz skizziert ist, wendet
sich der Vortragende dem Nachweis zu, der zunächst in Form einer
Behauptung auftritt, daß die Gabe der Weisheit und der Offenbarung,
von der der Epheserbricf redet, das Heilmittel ist, das wir nötig haben
in der Verfahrenheit der heutigen Zustände. Die „Erkenntnis" der
himmlischen Realitäten, letztlich die Erkenntnis Gottes, ist es, die wir
brauchen, um über Torheit und Selbstsucht zu siegen. Wir dürfen
glauben, daß „Erkenntnis" die Menschen besser macht; an ihr aber
fehlt es dem großen christlichen Publikum. Durch Abweichungen der
theologischen Forschung von der überlieferten Form des Glaubens wird
die Substanz der Religion selbst und ihre Lebenskraft nicht berührt,
es gilt nur, diese Substanz immer aufs neue zu nähren durch die
christliche Erfahrung. Das Wissen um Gott aber und die Annäherung
an ihn stellt eine Forderung an den Willen: so schreitet die
„Erkenntnis" weiter zur „Tugend".