Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | 1925 Nr. 26 |
Spalte: | 616-617 |
Autor/Hrsg.: | Brentano, Franz |
Titel/Untertitel: | Psychologie vom empirischen Standpunkt 1925 |
Rezensent: | Titius, Arthur |
Ansicht Scan: | |
Download Scan: |
615
Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 26.
616
nicht richtig ergreifen. Ich nenne hier die an sich ausgezeichnete
Studie von Th. Litt, „Individuum und Gemeinschaft
" (2. Aufl. 1924). Dieser schildert das wahre
Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft ebenso
schön wie zutreffend, nämlich so, wie es die Romantik
aufgefaßt hat, während er glaubt, ihr eine unrichtige
Auffassung, eine kollektivistische, eine, die das Individuum
zu Gunsten eines kollektiven Faktors austilgen
will, vorwerfen zu müssen. Tatsächlich hat sie gleichmäßig
das Verdienst, einerseits das Individuum in seiner
wahren Art entdeckt, ihm sein Recht gewahrt, andererseits
gegen die Isolierung des Ich protestiert, und Seine
Verschränkung in die Allgemeinheit nachgewiesen zu
haben. Wohl finden sich in den Äußerungen von Romantikern
einige Wendungen, die einen Anschein von
Kollektivismus erwecken. Im Ganzen hat die Romantik
jedoch geradezu vorbildlich Individuum und Gemeinschaft
in dem richtigen gegenseitigen Verhältnis erfaßt.
Erst später ist (wie ich es in meiner „Geschichte der
deutschen Geschichtschreibung", 2. Aufl. 1924 dargelegt
habe) das, was die Romantik mit feinen und zarten
Strichen gezeichnet hat, durch Positivismus und Naturalismus
vergröbert und so der romantische „Volksgeist
" in einen derben kollektiven Faktor umgewandelt
worden. K. aber sind wir für seine aus den Quellen geschöpften
Nachweise, wie die alten Romantiker die
Eigenrechte der Individualität vollkommen wahren und
doch zugleich dem „organischen Ganzen" sein Recht zu
Teil werden lassen, aufrichtig dankbar.
Nach vielen Richtungen hin könnte uns das vorliegende
Buch noch Anlaß zu Betrachtungen geben.
Ein Wort sei zu dem vielerörterten Verhältnis von Romantik
und Katholizismus gesagt. Daß die Romantik
überwiegend auf protestantischem Boden erwachsen ist,
das läßt sich nicht bestreiten. Den protestantischen
Boden verstehen wir hier zunächst in räumlichem, geographischem
Sinn. Aber auch die geistige Entwicklung
der Romantik vollzieht sich überwiegend von protestantischen
Geistesströmungen aus, wobei erwähnt sei,
daß K. (wie auch R. Samuel in seiner gleichzeitig erschienenen
Schrift „Staats- und Geschichtsauffassung
F. v. Hardenbergs") den Einfluß des Pietismus hervorhebt
. Die Männer, an die Novalis anknüpft, sind Protestanten
, mit alleiniger Ausnahme vielleicht des Historikers
Michael Ignaz Schmidt, der Febronianer, nichts
weniger als „Klerikaler" war, immerhin doch ein gewisses
wärmeres katholisches Gefühl besaß (vgl. über
ihn die von K. und Samuel noch nicht verwertete Abhandlung
von A. Berney im Historischen Jahrbuch der
Görres-Gesellschaft Bd. 44, S. 211 ff.). Eine Wirkung
übte ferner die unmittelbare Kenntnisnahme der mittelalterlichen
Denkmäler. Protestant ist Novalis dauernd
geblieben. Wenn von ihm aus seiner späteren Zeit
Äußerungen von zweifellos katholischem Charakter vorliegen
, so steht doch auch diese seine Religiosität im
Gegensatz nicht sowohl zum evangelischen Glauben als
vielmehr zur Anschauung der Aufklärung und zu der
Art von erneuertem antiken Heidentum, die am Ende des
18. Jahrhunderts hervortrat. „Klerikal" aber ist Novalis
auch darum nicht gewesen, weil er sich zur freudigsten
Staatsbejahung bekannte, ja als Begründer einer solchen
gelten kann. Das verdient überhaupt Beachtung,
daß das Wirken der Romantiker (auch des zum Katholizismus
übergetretenen Adam Müller) dem Staat noch
mehr als der Kirche, sei es die evangelische oder die
katholische, zu statten gekommen ist. Auf die Übereinstimmung
zwischen Schleiermacher und Novalis in der
Staatsauffassung weist K. mit Recht hin. Zur Vervollständigung
seiner Schilderung der romantischen Staatsanschauung
des Freiherrn vom Stein ist das von ihm
noch nicht benutzte Buch von Botzenhart, Staatsgedanken
des Freiherrn vom Stein (1924) heranzuziehen.
Vergl. auch Th. Roller, G. A. Reimer und sein
Kreis (1924).
Eine Differenz zwischen K. und mir besteht hinsichtlich
der Männer, die er als Romantiker betrachtet.
Ich habe schon in meiner Schrift über „Historische
Periodisierungen" (1925) davon gesprochen, daß doch
kein Anlaß vorliegt, bei denen, die herkömmlich in den
Literaturgeschichten als „Romantiker" bezeichnet werden,
Halt zu machen und solche Personen auszuschließen,
die sachlich ganz dieselbe Anschauung vertreten, wie
insbesondere Ranke als Vollender der Romantik erscheint
(S. 103 und 106). Ich zog dort eine Äußerung
von Meinecke heran, welcher geltend macht, daß bei
Scbleiermacher, dessen Verdienst um Überwindung des
Rationalismus im staatlichen Denken unbestreitbar ist,
sich doch noch eine Nachwirkung der rationalistischen
Denkweise zeigt, daß dann aber Ranke das, was jener
geleistet, auf „die Höhe der Entwicklung des deutschhistorischen
, organisch-individuellen Staatsgedankens"
erhebt. K. gibt mir jetzt wider Willen selbst Recht,
wenn er (S. 89) hervorhebt, daß die romantische Idee
von der Individualität der Völker „am schönsten wohl
von Ranke ausgesprochen worden ist". Wie hier, so
müßte man überall, wenn man die „Staatsauffassung der
deutschen Romantik" schildern will, die Gedanken Nie-
buhrs, Rankes, Savignys usw. hinzunehmen.
Freitwrg; i. B. O. v, Below.
Brentano, Franz: Psychologie vom empirischen Standpunkt.
Mit ausführlicher Einleitung, Anmerkungen u. Register hrsg. v.
Oskar Kraus. I. Bd. Leipzig: Felix Meiner 1924. (XCV1I,
279 S.) 8°. = Philos. Bibliothek, Bd. 192. Rm. 8.— ; geb. 10—.
Brentano's „Psychologie vom empirischen Standpunkt
" (1874) hat auf die neuere Forschung namentlich
in der Richtung der Denkpsychologie, der Logik
und Phänomenologie, der Werttheorie in so entscheidender
Weise eingewirkt, daß eine Neuausgabe, insbesondre
auch der im vorliegenden Bande abgedruckten Teile, zu
deren Neudruck der Autor selbst wegen gewisser Änderungen
seines Standpunktes sich nie entschließen
konnte, sehr zu begrüßen ist. Der Herausgeber, Oskar
Kraus, hat dem Werke zugleich aktuellen Wert gegeben,
indem er in ausgiebigen Anmerkungen auf die erwähnten
Änderungen aufmerksam gemacht, namentlich aber in
einer etwa 80 Seiten umfassenden Einleitung den definitiven
Standpunkt Brentanos in wichtigsten Punkten
präzisiert und durch Polemik gegen vermeintliche Fortbildungen
, die doch von Brentanos eigener Intention
sich weit entfernten, unterstrichen hat. Von grund-
j legender Bedeutung ist es, daß B. der üblichen gene-
j tischen oder naturwissenschaftlichen Psychologie, die
ihm übrigens nicht in Psychophysik aufging und in der
er bereits die Assoziationstheorie energisch bekämpfte,
eine deskriptive (oder phänomenologische) zur Seite
stellt, die nicht bloße Tatsachenwissenschaft sein soll,
sondern, indem sie die Voraussetzungen des regelrechten
Denkverfahrens und des evidenten Urteils erforscht, zur
Quelle der Logik wird. Von den genannten Erfahrungen
aufsteigend, gelangt sie ohne jede Induktion zu apriorischen
apodiktischen Urteilen, die freilich als bloße
Erkenntnisse von Unmöglichkeiten durchaus negativen
Charakter tragen. Methode dieser Psychologie ist die
innere Wahrnehmung (die auch das evidente Anerkennen
des primären Bewußtseins und seiner selbst einschließt)
und die durch willkürliche Richtung der Aufmerksamkeit
geleitete innere Beobachtung. Ihr wichtigstes Ergebnis
ist die Analyse des Bewußtseins und Klärung der
Gegenstandstheorie. Von jeher erkannte B., daß das Bewußtsein
nicht eine Relation in gewöhnlichem Sinne des
Wortes sei (wo Existenz beider korrelater Termini vorausgesetzt
wird), sondern nur relationsähnlich, sofern
zur Bewußtseinsbeziehung nur Existenz des einen Terminus
erfordert wird; spät erst erkannte er, daß der übliche
Relationsbegriff unklar ist und als Urtyp der
Relation vielmehr das Bewußtsein selbst zu betrachten
ist. Zum Bewußtseinsakt gehören ihm zwei Momente:
Das Subjekt und seine Gegenstandsbeziehung; Existenz
muß das Subjekt haben; für das Objekt ist solche nicht