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Ausgabe:

1925 Nr. 26

Spalte:

612

Autor/Hrsg.:

Hürlimann, Martin

Titel/Untertitel:

Die Aufklärung in Zürich. Ein Entwicklung des Zürcher Protestantismus im 18. Jahrhundert 1925

Rezensent:

Staehlin, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 26.

612

Welt. Die reine Ichwirklichkeit des Idealismus, verbunden
mit der Magie, der ,,Kunst, die spröde Welt unter
den menschlichen Willen zu zwingen" (S. 49), zerbricht
Novalis an zwei Orößen, die das Ich überragen,
am Erlebnis der Liebe (S. 53) und am Gottesgedanken,
den er nicht aufgeben kann (S. 54 f.). Aus der Schwierigkeit
, die Welt über dem Ich oder das Ich über der
Welt zu verlieren, erlöst ihn der Mikrokosmosgedanke,
die Auffassung des Ichs als eines „Partikulars aus dem
Ganzen", das als solches am Ganzen Anteil hat (S. 63).
Im „Ofterdingen" geht dieser Gedankengang hindurch
durch die Aussprache zwischen Klingsohr, dem Nachbild
Goethes, und Heinrich bis hin zu dem Knaben Astra-
lis, in dem sich beide Wesensarten verbinden (S. 65 ff.).
Wenn ein solcher Grundriß auch mit Notwendigkeit
stark zugespitzt ist, so scheint mir doch — mit dem Vorbehalt
, der dem Nichtfachmann hier zukommt — daß
hier eine fruchtbringende neue Richtung gewiesen ist.
Allerdings hat der Verf. bei der einseitigen Beschäftigung
mit dem Ich-Welt-Verhältnis andere Züge an Novalis
bei Seite geschoben, namentlich die Beziehung zu
Böhme in der Willenspsychologie, auf die Dilthey (Das
Erlebnis und die Dichtung 9. Aufl. 1924 S. 304 ff.) so
schön aufmerksam gemacht hatte. Auch hätten die Zusammenstellungen
von Ederheimer zu mancher Bereicherung
des Bildes Anregung geben können. Außerdem
, wenn im Märchen die neue Verselbständigung der
Welt, die Wiedergeburt der Natur geschildert wird, so
wird deren Grundgedanke: „Aus Schmerzen wird die
neue Welt geboren" (eine klassische Formulierung von
Böhmes Natur- und Geschichtsbetrachtung — wenn es
nicht gleichzeitig die Schmerzen einer „süßen Geburt"
wären) zu Unrecht völlig von Böhme abgerückt (S.
80 f.). Freilich tritt diese Seite sonst wenig in den
Vordergrund, weil Novalis „heitere Fröhlichkeit", wie
er an Tieck schrieb, als Böhmes innerstes Wesen empfand
und sich an den Ernst und die Tiefen seines Weltbildes
nicht herantraute, ein Mangel seiner Böhme-Auffassung
, der gelegentlich einmal deutlich hätte ausgesprochen
werden müssen.

Je schärfer man sich die einschneidende Wendung
in Novalis unter den unmittelbaren Einwirkungen seiner
Böhme-Lektüre vor Augen stellt, um so unsicherer wird
das Ergebnis des 2. Kap. über den indirekten Einfluß
Böhmes. Schon vor 1799 nimmt der Verf. Berührungen
mit Böhme an, vermittelt durch Lavater,
dessen Bedeutung für Novalis hier verdienstlicher Weise
zum ersten Male dargestellt und durch den Nachweis
der Lektüre von Lavaters „Antworten auf wichtige und
würdige Fragen und Briefe" (1790) begründet ist (S.
36ff.). Rückwärts zu Böhme wird die Linie geführt über
Oetinger und Swedenborg, über diesen zu Unrecht, da
er nach seinem eigenen Geständnis Böhme niemals gelesen
hat (vgl. M. Lamm, Swedenborg 1922. S. 64
gegenüber den kritiklosen Bemerkungen von K. Kiesewetter
, Gesch. d. neuer. Okkult. 2. Aufl. S. 382 ff.). Die
darin angeblich übermittelten Gedanken erscheinen mir
freilich zu wenig charakteristisch, um diese Verbindung
zu behaupten. Die symbolische Verwertung des „Genusses
" hat, wie der Verf. selbst empfindet (S. 78) mit
Böhme nichts zu tun, die Vermenschlichung Gottes und
und Vergöttlichung des Menschen (S. 42) und die innere
Harmonie (S. 43) sind allgemein-mystisch. Sollte davon
wirklich etwas aus Böhme stammen, so wird darüber
erst eine umfassende Untersuchung über die Nachwirkung
Böhmes Klarheit bringen, die allein den
einzelnen Vermittlern und Ideen ihren Platz mit Sicherheit
anweisen kann. Für diese Aufgabe, die mir als eine
der wichtigsten Fragen zum Verständnis der neueren
Geistesgeschichte erscheint, die erste, sorgfältige Teilarbeit
und mit der Zusammenstellung S. 24 ff. einen
nützlichen Hilfsdienst geleistet zu haben, ist das Verdienst
der vorliegenden Untersuchung.

Tübingen. Heinrich Bornkamm.

Hfirlimann, Martin: Die Aufklärung in Zürich. Die Entwicklung
des Zürcher Protestantismus im 18. Jahrhundert. Mit
8 Bildnissen. Leipzig: A. Kröner 1924. (243 S.) 8°.

Lwd. geb. Rm. 8—; Handgeb. Halbperg. 28—.
Der vorliegenden Schrift ist das Mißgeschick
passiert, daß sie gleichzeitig mit Wernles umfassendem
Werk über den schweizerischen Protestantismus im 18.
Jahrh. erscheint und so in ihren stofflichen Partien durch
das erdrückende Material, das Wernle beibringt und in
große Zusammenhänge einstellt, bereits antiquiert ist.
Zwar bietet sie manches Einzelne, das sich bei Wernle
so nicht findet; doch steht es in der Luft, wenn man es
nicht in die Linien, die Wernle zieht, einzeichnet; damit
aber verliert es die Wichtigkeit, die es bei H. besitzt, und
wird zu einer Teilerscheinung unter vielen andern. Der
Verfasser ist sich wohl dieser gefährlichen Konkurrenz
des Wernleschen Werkes bewußt gewesen; aber er gibt
sein Buch dennoch heraus, weil er glaubt, daß ihm ein
Wernle gegenüber eigener Gesichtspunkt zu Grunde
liege : er will — als Nichttheologe — dem modernen
Menschen, der unter dem Gegensatz von Kirche und Religion
leidet, zeigen, wie dieser Gegensatz sich im 18.
Jahrhundert herausgebildet, wie und warum damals die
Kirche die kulturelle Führung verloren hat. Wir haben
durchaus Verständnis für die Not, die den Verfasser
drückt, und glauben auch, daß sich sehr Wesentliches
an der Geschichte des Protestantismus im 18. Jahrhundert
aufzeigen ließe; aber wir können nicht finden,
daß der Verfasser seinen Gesichtspunkt tief und dem
Ernst der Sache entsprechend durchgeführt habe. Am
Besten geraten ist vielleicht die Erfassung des Zürcherischen
Volkstypus: „Die Zürcher brauchten ihr eigenes
Wesen sich bloß voll auswirken zu lassen, und die Zeitgenossen
des 18. Jahrhunderts sahen in ihnen schon
eine ganze Kolonie großer Geister"; aber auch da wird
übertrieben, wenn es z. B. etwa von Zwingli heißt:
„Gerade Zwingli war der Typ des Diplomaten und
Politikers, der das Neue mehr aus Spürsinn und Vernunftüberlegung
fand als aus innerem religiösem Erleben
heraus". Vollends oberflächlich ist, was über „Lavaters
Kampf zur Rettung des Christentums" gesagt ist.
Basel. Ernst Staehelin.

Baeumker, Dr. theol. Franz: Johannes Olav FaIHze. Ein

biscliöfl. Pionier des skandinavischen Nordens. Mit 7 Bildern u.
e. Kte. Aachen: Xaverius-Verlagsbuchh. 1924. (VIII, 160 S.)
kl. 8°. = Pioniere der Weltmission, Bd. 6. Rm. 3—.

Auf die nordische Mission der katholischen Kirche
sind seit der Propagandareise des Kardinals van Rossum
weitere Kreise aufmerksam geworden. Besser als die
eigene Schrift des Kardinals führt in sie, wenigstens in
ihren norwegischen Zweig, B. mit seiner Arbeit über
Fallize ein. Freilich unterschätzt auch er die religiösen
Kräfte des Protestantismus erheblich. Da er sich aber
von den überspannten Erwartungen des Kardinals frei
hält, kann sein Buch im ganzen als eine sachliche Schilderung
angesehen werden.

B. führt im Rahmen einer Biographie Fallizes die
Grundlagen der norwegischen Mission vor, die Mittel,
mit denen sie arbeitet, und die Erfolge, die sie erreicht
hat. F. ist Gründer und Organisator dieser Mission.
Aus 300—400 Katholiken, die er vor 35 Jahren vorfand,
sind heute 3000—4000 geworden, fast ganz auf Kosten
des Protestantismus. B. meint, daß außerdem noch 3000
bis 4000 neubekehrte Katholiken ausgewandert sind.
Sollte diese Zahl nicht zu hoch geschätzt sein?

Das Buch erweckt den Eindruck, als ob alle tatsächlichen
Angaben zutreffend sind. Eine Nachprüfung
ist leider unmöglich, da B. nicht im einzelnen
angibt, woher er sein Wissen hat. In diesem Fehlen der
Quellenangaben liegt sachlich der Hauptmangel. — Der
Stil ist katholisch. — Der Verf. macht dem nordischen
Protestantismus schwere Vorwürfe wegen seiner Unkenntnis
des Katholizismus. Um seine eigene Einsicht in
das Wesen des Protestantismus zu kennzeichnen, führe
ich eine Stelle wörtlich an (S. 82): „Was (den Nor-