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Ausgabe:

1925 Nr. 24

Spalte:

575-576

Autor/Hrsg.:

Dörries, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die Religion des Alltags 1925

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Seite 1

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575

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 24.

576

an (in einem Umfange, den Ref. weder Freud noch dem
Verf. dieses Buches zugestehen möchte). Aber für den
Verf. entsteht die Neurose nicht aus der Verdrängung
des Triebes, sondern im Gegenteil daraus, daß der
Trieb nicht verdrängt wird, sondern in Wirklichkeit
oder wenigstens in Gedanken noch weiter gepflegt wird.
Daraus entsteht nun der Konflikt zwischen dem noch bewußten
Trieb und dem stets bewußten gewissen'.
Der ganze Konflikt spielt sich also nach Vf. im Bewußtsein
ab; ein Unterbewußtsein als eigenes Reich
geistiger Prozesse existiert für ihn nicht. Was Freud
als „unbewußt" anspricht ist für den Vf. das „Gefühlsbewußte
", die Summe der Gewissensreaktionen und der
Niederschlag affektbetonter Erlebnisse. Das Resultat,
wenn der Trieb die vom Gewissen ausgehenden Hemmungen
überwindet, ist das ebenfalls bewußte Schuldgefühl
, das für den Vf. eine der wesentlichsten Quellen
der Neurose ist. „Fast alle Neurosen und anscheinend
auch ein Großteil der Psychosen sind Folgezustände
von Gewissenskonflikten. Sie zeigen an, daß das Triebleben
über die Oberleitung der Seele den Sieg davon
trug." Diese Auffassung namentlich der Psychosen
kann natürlich vom Arzt nicht anerkannt werden; sie
würde uns um Jahrhunderte zurückwerfen. Das muß
hier noch einmal festgestellt werden: Psychosen sind
Krankheiten; sie gehen hervor aus einer krankhaften Beschaffenheit
oder Reaktion des Körpers. Seelische Vorgänge
, ob bewußter oder unbewußter Art, also auch Ge

über seine Position hinauszugehen Anstalt macht. Seine
Stellung ist mit folgenden Begriffen gekennzeichnet:
Jesus, der Heros des Glaubens, der mehrere entscheidende
Wahrheiten entdeckt hat; der Glaube, der Gott in
allein, besonders aber nach der Weise Jesu in den einfachen
, alltäglichsten Dingen und Geschehnissen sieht;
Gott, der Vater, der in dem schaffenden Leben der Natur
und der Geschichte waltet; in Jesu reiner Menschlichkeit
ist die Offenbarung Gottes, das höchste Wunder zu
sehen; Beten heißt, alles vor Gott bedenken und auch
unbewußt im großen Zusammenhang der Welt stehen;
im Gegensatz zu der Elitefrömmigkeit der Mystik ist
christliche Frömmigkeit bedacht, dem ewigen Schaffen
Gottes in der Erfüllung der sittlichen Aufgaben in dem
Leben gerecht zu werden; und wer die Liebe Gottes
eins weiß mit seiner Allmacht, der kann nicht anders
als sozial gerichtet sein und die Kirche als innersten
Sammelpunkt anstreben, ohne den kein Volk sein kann.
So will das Buch ein Appell sein an alle, die nicht ohne
Religion unserm Volk aufhelfen wollen; aber die Hauptfrage
an die Diener und Freunde der Kirche ist, ob sie
Glauben haben. — Es bedarf keines Hinweises darauf,
wie altmodisch diese Theologie der heutigen Neigung
zur Mystik, zur Theologie der Krisis, der Christengc-
meinschaft gegenüber ist. Aber auch wer ihr nicht mehr
anhängen kann, der studiere sie, um zu sehen, wie eine
Theologie aussieht, die weit in die Predigt, in den Unterricht
und in das soziale Leben hineingewirkt hat, und

Wissenskonflikt und Schuldgefühl haben damit nur in- I suche es wenigstens geradeso gut zu machen.

soweit zu tun, als sie unter Umständen die Psychose | Marburg (Ulm)._ F. Niebcrgall.

auslösen oder den Vorstellungsinhalt des Kranken be-
stimmen. Das erkennt Vf. auch gelegentlich an, indem

er bei der Behandlung der Neurosen den körperlichen j

Maßnahmen eine wesentliche Stellung einräumt und da- |

mit in wohltuenden Gegensatz tritt zu der Übertreibung j

der Psychoanalytiker, die alles, selbst deutlich orga- ]

nische Erkrankungen, mit ihrem Verfahren heilen wollen, j
Auch in seiner Ablehnung der Triebsublimierung und

der Libidotheorie kann man dem Vf. nicht ganz zu- j

stimmen. Aber er hat Recht, wenn er darauf hinweist, j

daß es sich hier um Unterschiede der Weltanschauung |

handelt. Allerdings darf man die Berechtigung der einen 1

oder anderen Weltanschauung nicht zum Gegenstand j

einer wissenschaftlichen Beweisführung machen. Hier i

handelt es sich um Glauben; das sind Vorgänge, die j

nicht mehr in den Bereich naturwissenschaftlicher Er- i
kenntnis gehören.

Aber auch von seinem Standpunkt des überzeugten

Christentums zeigt der Vf. die Möglichkeit, wichtige !

Erkenntnisse der Psychoanalyse, die auch er anerkennt, j

in den Dienst der Heilung nervöser und seelischer Lei- j

den zu stellen. Auch in vielen kleinen Einzelheiten gibt j

der Vf. eine gute Kritik der psychoanalytischen Lehre, !

warnt vor Übertreibungen in Theorie und Praxis. Ganz j

unabhängig von der christlichen Weltanschauung des j

Vf. befriedigt die Lektüre des Buches durch seinen j

hohen ethischen Standpunkt, die menschlich-gütige Stel- j

lungnahme des Vf. und viele feinsinnige Bemerkungen, j

die nicht nur die Pathologie der Neurosen, sondern auch j

allgemeine soziale und Erziehungsfragen betreffen. Wenn j
schon Seelsorger, Erzieher, Lehrer den Drang in sich

fühlen, etwas von Psychoanalyse zu erfahren, so sollten j
sie das Buch von Maag in die Hand nehmen.

Chemnitz. f Willi. Weber

Dörries, Bernhard: Die Religion des Alltags. Königstein im
Taunus: K. R. Langewiesche 1923. (150 S.) kl. 8°. Rm. 2.20.

Wer etwas zu sagen hat, der hat auch seinen persönlichen
Ton, und wer einen solchen hat, der wird
immer einschlagen. D. spricht hier noch einmal in seinem
Ton. Die große Verbreitung seiner Predigten und
volkstümlichen Schriften beweist, daß sein Ton noch
gehört wird, wenn auch die theologische Entwicklung

Vor kurzem erschien

Origenes' Werke

Achter Band

Homilien zu Samuel I, zum Hohelied und zu den
Propheten, Kommentar zum Hohelied

In Rufins und Hieronymus' Übersetzungen

Herausgegeben im Auftrage der Kirehenväter-Commission
der Preußischen Akademie der Wissenschaften von

Dr. W. A. Baehrens

Professor au der Universität Güttingen

Aus den Urteilen über die beiden ersten Teile der
Homilien zum AT:

.Beide Teile ruhen auf denselben gründlichen Arbeiten
zur Textgeschichte (T. u. U. 42,1) und bieten den zurzeit
erreichbaren besten Text, der dem Originaltext Rufins sehr
nahe kommt. Überall wird der Leser durch die Umsicht
und Sorgfalt des Hrsgs erfreut und folgt seiner Führung
mit dem Gefühl der Sicherheit und Dankbarkeit für das
Gebotene."

Prof. Dr. Paul Koetschau i. d. Theol Literalurztg.
.So liegt jetzt eine Ausgabe abgeschlossen vor, die zu
den allerbesten der ganzen Berliner Sammlung gehört und
für die dem Herausgeber um so größerer Dank gebührt,
als die Menge der zu vergleichenden, zu gruppierenden
und auf einen Archetypus zurückzuführenden Handschriften
ungewöhnlich groß und ihre Bearbeitung ungewöhnlich
mühsam war."

Prof. Dr. Fr. D i e k a m p i. d. Theologischen Revue.

Die Griechischen Christlichen Schriftsteller
der ersten drei Jahrhunderte. 33. Band.

LVIH, 509 Seiten. Gr. 8°.
Rm. 31.50; geb. Rm. 34.50

Vollständiges Verzeichnis der .Schriftsteller" kostenfrei.

J. C. Hänrichs'sche Buchhandlung, Leipzig

Die nächste Nummer der ThLZ erscheint am 12. Dezember 1925.
Beiliegend Nr. 24 des Bibliographischen Beiblattes.

Verantwortlich: Prof. D. E. Hirsch in Göttingen, Bauratgerberstr. 19.
Verlag der J. C. Hinrichs'schen Buchhandlung in Leipzig, Blumengasse 2. — Druckerei Bauer in Marburg.