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Ausgabe:

1925 Nr. 23

Spalte:

544-546

Autor/Hrsg.:

Vossler, Karl

Titel/Untertitel:

Geist und Kultur in der Sprache 1925

Rezensent:

Güntert, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 23.

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erkannt werden durch Selbstmitteilung dieses Persönlichen
, also durch positive Offenbarung Gottes, sobald
es sich um diesen leiblich nicht umgrenzten Gott handelt
. Darüber regt sich Lennerz am meisten auf, weil
gerade dieses letztere dem Vatikanum widerspreche, das
der Vernunfterkenntnis auch die Erkenntnis des persönlichen
Gottes zuschreibe; aber Scheler spricht doch wieder
nicht als Konzilsvater oder als Gegenkonzil, sondern
als Philosoph vom philosophisch durchschauten Menschen
— der käme eben von selbst nicht auf die Persönlichkeit
des Weltgrundes, nicht einmal der charismatisch
von Natur, Ereignissen, Ordnungen Gepackte käme
darauf, erst der durch Selbstmitteilung Gottes Befeuerte
fasse das. Das Vatikanum hingegen spricht als Konzil
theologisch vom Exempel-Menschen, und grenzt diesen
selbst dadurch auf ein Konzilsexempel ein, daß es ohne
Dazukommen der Offenbarung kein rechtes Praktischwerden
des Exempels erwartet. Letztlich geht doch auch
nach katholischer Ansicht die wirklich vorhandene
Erkenntnis des wirklichen persönlichen Gottes auf
Offenbarung zurück — bloß die vatikanische Theorie
darf nicht so hoffnungslos eng sein, daß ohne Offenbarung
nichts dergleichen dogmatisch zulässig, möglich,
zu erhoffen wäre; denn ein Dogma muß dogmatisch alle
Wege offenhalten, ein Philosoph nicht. Selbstverständlich
ist nun die Hauptfrage: hat Scheler als Philosoph
richtig geurteilt oder nicht? Aber zur Beantwortung
dieser Frage schießt man nicht mit großen Konzilskanonen
, sondern treibt philosophische Kleinarbeit.
Stellt sich dann heraus, daß Scheler recht hat, so muß
man eben das Vatikanum so auslegen, daß dieses Richtige
darin Platz hat. Wäre dies unmöglich, so wäre es
schlimm — für das Vatikanum. Das vorliegende Büchlein
von Lennerz ist darum von Wert nur, weil es eine
klare und wertvolle Darstellung der Constitutio de fide
des Vatikanums gibt.

Magdeburg. Leonhard Fendt.

Bogdanow, A.: Die Entwicklungsformen der Gesellschaft
und die Wissenschaft. Kurzgefaßter Lehrgang in Fragen und
Antworten. Berlin: Nike Verlag 1924. (229 S.) 8°.

Dies aus dem Russischen übersetzte Buch zeigt in
interessanter Weise, wie sich Welt und Weltgeschichte
im Kopf eines konsequenten Marxisten spiegeln. Marx'
Lebensarbeit galt im Wesentlichen dem Versuch, die Gesetze
der wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen
bloßzulegen, seine weiterführende These, daß die gesamte
Ideologie eine Abschattung der gesellschaftlichen
Verhältnisse, letzten Endes der Produktionsverhältnisse
sei, hat er nur in Einzelfällen zu verifizieren gesucht.
B. unternimmt es nun in seinem kurz gefaßten katechismusartigen
Lehrgang, kühn über den Meister hinausgehend
, nicht nur diese These allseitig zu begründen,
sondern auch in umfassendem Überblick über die Kulturgeschichte
der Menschheit zu zeigen, wie die verschiedenen
Formen der Ideologie notwendig nacheinander
und auseinander, stets letztlich vom Arbeitsprozeß bedingt
und dazu bestimmt, ihn zu organisieren, entstanden
sind. Wir hören vom Ursprung und der Entwicklung
der Ideologie in der Urzeitepoche — bei Einförmigkeit
und Unorganisiertheit der Arbeit entstehen
Sprache, Urideen, Keime der Kunst und die Urwelt-
anschauung des Urdynamismus und Urkollektivismus.
Wir hören sodann von ihrer Umwandlung und zugleich
erstmaligen ausgeprägten Formung in der Periode der
autoritären Ideologieen während der Epoche des Patriarchats
und des Feudalismus — der jetzt fortgeschrittene
und autoritativ geleitete Arbeitsprozeß treibt die geistige
Entwicklung weiter und entbindet das Prinzip der autoritären
Kausalität, so entstehen und bilden sich fort
Seelenvorstellung, Religion und von dieser sich allmählich
ablösend Wissenschaft, Kunst, Sitte, Recht. Wir
hören ferner von ihrer weiteren Umgestaltung in der
Periode der individualistischen Ideologieen — diese beruhen
auf Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft; in ihnen
werden die religiösen Beziehungen mehr oder weniger

verdrängt durch die Vorstellung einer abstrakten Notwendigkeit
und abstrakter Normen, deren Relativität und
Bedingtheit durch die ökonomischen Verhältnisse nicht
durchschaut werden; sie entfalten sich in der klassischen
Antike, die durch Sklavenwirtschaft charakterisiert ist,
im Mittelalter, dem Leibeigenschaft, Zunftwesen und
Handelskapitalismus das Gepräge geben, und in der
Neuzeit, die vom Industriekapitalismus beherrscht wird.
Wir hören endlich von dem notwendigen Übergang in
die abschließende Ideologie des Kollektivismus, deren
Prophet Marx und deren Bahnbrecher das russische
Proletariat ist.

Die Kritik dieser ungewöhnlich großzügigen, von
ernstem Studium zeugenden, aber von eiskaltem Hauch
durchwehten und trockenen Darlegungen wird einmal
natürlich die Einseitigkeit, Unrichtigkeit und Unmöglichkeit
mancher Einzelaufstellungen hervorheben — dies
ist Sache der Fachgelehrten — sodann aber den Hauptstoß
führen, indem sie das Folgende zu bedenken gibt.
Mag immerhin die Genesis der Ideologieen im Ganzen
und Einzelnen von B. richtig beschrieben sein, also
z. B. die Sprache nach der Theorie von Noire hervorgegangen
sein aus Arbeitsschreien, das Denken aus dem
Sprechen (!), die Seelenvorstellung aus Reflexion auf
das eigene Handeln durch Anwendung des Gesichtspunktes
der autoritären Kausalität (also durch Spaltung
des Menschen in einen Befehlenden und Ausführenden),
die Religion aus Ahnenverehrung, das Christentum aus
der sozialen Zersetzung der Antike, der Individualismus
aus dem Tauschverkehr, Wissenschaft, Kunst, Recht restlos
aus den Erfordernissen des praktischen Lebens, so
ist doch damit über die Frage nach der relativen oder
absoluten Giltigkeit dieser ideologischen Gebilde noch
nichts ausgemacht. Religion, Wahrheit, Schönheit,
Pflicht und, Recht könnten, gleichviel ob der praktische
Lebenskampf oder theoretische Nötigung oder was sonst
immer zu ihrer Auffindung führt, unverrückbare, giltige
Normen sein, so gut wie Amerikas empirische Existenz
nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß Goldhunger die
Haupttriebfeder der kühnen Seefahrer (oder ihrer Hintermänner
) gewesen sein mag, die es entdeckten. B. bezeichnet
die Verabsolutierung der Normen überlegen als
abstrakten Fetischismus und ist überzeugt, daß diese
Illusion mit Einführung der kollektiven Wirtschaftsweise
und Gesellschaftsordnung hinfallen wird. Dann würde
also der Relativismus, die Bezogenheit der Ideologie auf
die jeweiligen Produktionsverhältnisse, endgültig als die
Wahrheit anerkannt sein, und aus dem Fetischismus
käme auch der Mensch des Zukunftstaates nicht hinaus.
Iburg. W. Thimme.

Voss ler, Karl: Geist und Kultur in der Sprache. Heideibers:
C. Winters Univ.-Buchh. 1925. (VII, 267 S.) gr. 8°.

Rm. 8—; geb. 10.50.

Der bekannte Münchener Romanist sucht in diesem
Buch den Verflechtungen der Sprache mit verschiedenen
Geistestätigkeiten nachzugehen und beobachtet das Verhalten
der Sprache von verschiedenen Gesichtspunkten
aus in ihrer Beziehung zur Religion, zur Natur, zum
Leben, zur Wissenschaft, zur Dichtung. Die Grundtendenz
der Arbeit ist, über eine bloß beschreibende
Feststellung sprachlicher Tatsachen und Entwicklungen
hinauszukommen und vorzudringen zu einem umfassenden
und tiefen Sprachbegriff philosophischer Art; der
Verf. möchte Empirie und Metaphysik vereinen und
aus den in der nüchternen Sprachforschung gesammelten
Einzelerkenntnissen, aus einem starken Gefühl für
die dichterische Kraft der Sprache und mit feinem stilistischen
Empfinden in einer Art intuitiven Schauens auf
eine einheitliche Sprachkraft Schlüsse ziehen.

Dieses Bestreben, den Positivismus und Materialismus
in der Sprachforschung zu überwinden, ist an sich
durchaus berechtigt, und es ist nur zu begrüßen, daß
nicht ein Philosoph ohne die betreffenden einzelnen
Fachkenntnisse diese Frage aufwirft, sondern ein Philo-