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Ausgabe:

1925 Nr. 23

Spalte:

539-540

Autor/Hrsg.:

Ettlinger, Max

Titel/Untertitel:

Geschichte der Philosophie von der Romantik bis zur Gegenwart 1925

Rezensent:

Paulus, Rudolf

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539

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 23.

540

brüderung mit der Demokratie. Aber die radikalen Auswüchse des
Sozialismus trieben schon bald die Mehrzahl der Katholiken, die nach
geordneten und stabilen Verhaltnissen strebten, in die Stellung der
Reaktion, und diese Reaktion gegen den Sozialismtie endete nachher in
der Reaktion gegen den Republikanismus. Mitbestimmend für ihre
Stellungnahme wurden die Verhältnisse in Rom, der dortige Ausbruch
der Revolution und die Flucht des Papstes Pius IX. nach Oaeta. Die
Maßnahmen des französischen Gouvernements zugunsten des Papstes
verknüpften doch, so sehr sie auch politischen Einschlag trugen, die
Herzen des katholischen Volkes noch fester mit seiner Regierung. Die
Wahl Louis Napoleons zum Präsidenten, der eifrig um die Gunst der
katholischen Kreise geworben hatte, verstärkte bei ihnen die Stimmung
der Reaktion, wozu auch der Gang der Dinge in Italien
mit beitrug. Denn trotz der Einnahme Roms durch französische
Truppen, was angeblich im Interesse des Papstes geschah, tatsächlich
aber aus Gegensatz gegen Österreich und zur Stärkung der republikanischen
Ideen in Italien, war der Papst nur unter den allergrößten
Zugeständnissen, die einen Verzicht auf alle liberale Politik bedeuteten
zur Rückkehr nach Rom zu bewegen. Auch in Frankreich erkämpfte
die Kirche sich große Vorteile, vor allem das Recht freier Erziehung
ohne staatliche Fesselung. Der Staatsstreich Louis Napoleons aber,
durch den er die Republik beseitigte und ein neues Kaiserreich gründete
, war nur möglich durch den versteckten Bonapartisinus der französischen
Nation; in der Kirche und ihren leitenden Kreisen fand er
aus sozialen und freiheitlichen Gesichtspunkten nur geteilte Zustimmung
, aber die Opposition hielt sich zurück, um nicht die Interessen
der Kirche zu gefährden. So ist es ihm tatsächlich gelungen, die
Kirche zu einer Stütze seines Kaisertums zu machen.

Mit einem Ausblick auf die Ereignisse der nächsten
Jahrzehnte schließt das Buch. Den Freunden politischer
Freiheit galt mehr und mehr die sich der Entwicklung
beugende Kirche als die große Feindin, die zu bekämpfen
war. Die römische Frage blieb ungelöst. Der
Kaiser selbst aber hatte die Sympathie Italiens sich
verscherzt, die Gunst der Katholiken vermochte er nicht
sich zu erhalten. Als Deutschland an die Tore seines
Reiches pochte, fiel es in sich zusammen.

Die dem Schlüsse des Werkes angefügte Bibliographie
umfaßt 12 Seiten und gibt ein äußeres Bild des
umfangreichen, mit Fleiß und Sachkenntnis verarbeiteten
Materiales, dessen Spuren im Text und in seinen Fußnoten
uns Seite auf Seite begegnen.
Dortmund. H. Goetz.

Ettlinger, Max: Geschichte der Philosophie von der
Romantik bis zur Gegenwart. Kempten: J. Kösel & Fr.
Pustet 10-24. (VIII, 326 S.) gr. 8°. = Philosophische Handbibliothek
, Bd. VIII. Rm. 0.50; geb. 7.70.

Das angenehm lesbare, übersichtlich gegliederte
Buch (tabellarische Übersichten vor jedem Abschnitt:
Ausländer jeweils im Anhang) ist als Schlußglied einer
vierbändigen Reihe gedacht und als Erstling derselben
erschienen. Der Einsatz mit Fichtes Wissenschaftslehre
von 1794 und Fr. Schlegels Athenäumsfragmenten von
1798—1800 zeigt die geistesgeschichtliche Orientierung,
unter der allein seit Haym und Dilthey ein volles Verständnis
der großen spekulativen Systeme möglich ist,
deren Gehalt in ihrer rationalen Form sich nicht erschöpft
. So tritt der antirationalistische Zug des „romantischen
Idealismus" stark hervor; neben die „Systematiker
" Fichte, Schölling, Hegel tritt gleichberechtigt
die Reihe der „Problematiker" Novalis, Schleiermacher,
Fr. Schlegel, W. von Humboldt, Baader, Görres, Adam
Müller u. a„ endlich Schopenhauer; ja sie scheinen mit
besonderer Liebe behandelt. In welchem Maß auch die
„Systematiker", selbst der bewußt abschließende Hegel
(Jugendschriften, Phänomenologie!) im Grunde Problematiker
und als solche für uns Heutige fruchtbarer sind
als durch ihre [ die Epigonen erdrückende und zugleich
den Widerspruch der Empiriker hervorrufende] Systematik
, dürfte stärker hervortreten; insbesondere bei Hegel
ist der fortwirkende Problemgehalt seiner Geistesphilosophie
anerkannt, seiner Fundamental- und Naturphilosophie
bestritten; die Darstellung hält sich hier an
das übliche Schema der „Encyklopädie". An Abschnitt
1 (Philosophie der Romantik 1794—1831) schließt
sich 2. das Zeitalter der Epigonen (1831—65), 3. methodologische
und kulturphilosophische Neuorientierung
(1865—1900), 4. Auferstehung der Metaphysik (seit

1900). Der Einfluß des Neuaristotelismus (Trendelenburg
; katholische Denker) tritt stark hervor und gibt
dem Buch seine aktuelle Richtung gegen das Vorwiegen
der kantisch-hegelischen Denkart. Über dem Gesichtspunkt
der Abwehr des Naturalismus und Positivismus
kommt die positive Bedeutung der Natur-, Geschichtsund
Kulturwissenschaften für die Philosophie des 19.
und 20. Jahrhunderts nicht zu ihrem Recht (doch wird
S. 77 oben die Deszendenzlehre anerkannt, Hegels Geo-
und Anthropozentrismus verworfen; das idealistische
Motiv desselben s. S. 77 Mitte). Bei alledem bleibt die
Hervorhebung der theistischen Richtung und der vor-
Icantischen Unterströmung (Griechen, Augustin-Scholas-
tik-Leibniz) im 19. Jahrh. verdienstlich, die verständnisvolle
Erfassung spezifisch moderner, ja ausgesprochen
antichristlicher Geister wie der „Kultur- und Lebensphilosophen
" Nietzsche und Tönnies erfreulich.

Einzelheiten. Der sonst vom Verf. so stark betonte aristotelische
Einfluß wird (S. 42, 44) bei Schöllings Naturphilosophie anerkannt
, beim späteren Sendling und vor allem bei dem größten
Aristoteliker der ganzen Zeit, bei Hegel, nicht genannt, auch wo es
(S. 42) nahe lag. Goethe als intuitiver Hintergrund für das gesamte
Sehaffen der Genannten (nicht nur für die Einzelheiten von Sendlings
Naturphilosophie, S. 45) kommt nicht zur Geltung. Zu S. 27:
Der Traumidealismus im 2. Buch von Fichtes „Bestimmung des Mensehen
" ist dort wie in der ganzen W. L. lediglieh Durchgangspunkt;
Fr. Schlegels romantische Ironie oder Jean Pauls „Clavis Fichthna"
keineswegs deren richtige Auslegung. Der Denker der Sitten- und
Staatslehre ist kdn Traumidealist gewesen. Zu S. 29: in Fichtes
Sonnett Z. 3 v. u. 1.: „Sterben" statt „Streben". Zu S. 57: die Lehre
des 52jährigen F. kann man nicht gut Altersweisheit nennen (S. 27
heißt die „Bestimmung des Menschen" des 47jährigen eine Frühschrift
). Zu Fichtes Ethik: Der sittliche Trieb (S. 34) ist bei F.Synthese
des reinen Triebs mit dem Naturtrieb (gemischter Trieb); dadurch
überwindet F. jede bloß negative Fassung des Sittengesetzes und
läßt den kantischen Rigorismus hinter sieh; hier hat er von Schiller
gelernt (der unter den Problematikern nicht fehlen sollte). S. 34o.: die
Sinnenwelt ist für F. nicht nur das „Material" unserer Pflicht; der
Zusatz „versinnlicht" hätte da keinen Sinn, sondern das „versinn-
lichte Matcriale" (lateinisch) derselben, die „[nach begreiflichen
Vernunf tgeset/.en ] versinnlichte Ansicht unsers eignen innern Handelns
, [als bloßer Intelligenz, innerhalb unbegreiflicher Schranken,
in die wir nun einmal eingeschlossen sind)" (S. W. 5, 184f.). Zu
S. 32. 34 f. (F. ursprünglich radikaler Individualist?): der Gemeinschaftsgedanke
ist bei F. grundlegend (Jugendschriften) und älter
als seine systematische Begründung. F.'s spätere Religionslehre wird
nur nach ihrem ethischen Ertrag kurz gestreift, die Hauptsache
darin: die Oberwindung des Moralismus, ist nicht deutlich gemacht. —
Die Wirkung von Hegels Religionsphilosophie wird (67 f.) mit
dem einen Satz bezeichnet, sie habe auf die „fortschreitende Selbst-
zersetzung des Protestantismus" erheblichen Einfluß geübt. Sie
ist allerdings weder von Strauß noch von Feuerbach noch von Hart-
matm, dem das Wort von der Selbstzersetzung nachgeschrieben ist,
in ihrem tief positiven Gehalt verstanden worden. In Hegels Gottesgedanken
mit Feuerbach nur ein „verabsolutiertes Menschheitsbewußt-
sein" sehen (S. 77), heißt mindestens H.s Absicht verkennen und
ihn rein linkshegelisch auslegen. Hegel selber sagt in den Vorlesungen
zur Religionsphilo'sophie mit aller Bestimmtheit: „Gott wird entweder
persönlich gedacht oder überhaupt nicht" (Mitteilung von
Georg Lasson). Zu S. 88: in seinen Vorlesungen über Religionsphilosophie
hat Hegel die Unsterblichkeit unzweideutig bekannt und
auf die Überweltlichkeit des Ich gegründet (vergl. die prächtigen
Sätze Religionsphilosophie ed. Lasson 1, S. 162. 234). Zu S. 66:
H.s Schriften von 1801—07 sind keine „Jugendschriften" mehr;
diese selbst (1795—1800) werden S. 71 nur kurz berührt. —
S. 91: Schleiermachers Dialektik als fast einziger durchgeführter Versuch
einer Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis in der Zeit
des nachkantisehen Idealismus kommt (wie so oft) zu kurz weg.
S. 125: ein so objektiver Geist wie Ed. Zeller ist als Linkshegelianer
doch nicht ganz genügend bezeichnet, Straußens Leben Jesu
von 1835 verdient auch bei schärfster Ablehnung doch wohl den
Namen „Machwerk" nicht (161). Die Lehre vom Ansichgiltigen bei
Bolzano-Lotze-Husscrl (187. 198 f.) ist von Fichte (W. L. von 1801
und 1804) vorweggenommen und überboten, weil einem höheren Zusammenhang
eingegliedert (nachdem schon Bardiii 1800 vorangegangen
war). S. 205: H. Taine heißt Hippolyte, nicht Henri.
S. 222 sub Windelband Li „das Unwandelbare" st. „Wandelbare".
S. 224: Nietzsches Verehrung der Renaissancekraftmenschen war
nicht „im Sinne seines Freundes J. Burckhardt". Ebenda: Ferd.
Tönnies (geb. 1855) kann nicht gut „Jugendfreund Th. Storms"
(1817—88) gewesen sein.

Besigheim (Wrtt.). _ R. Paulus.