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Ausgabe:

1925 Nr. 22

Spalte:

522-523

Autor/Hrsg.:

Leeuw, G. van der

Titel/Untertitel:

Einführung in die Phänomenologie der Religion 1925

Rezensent:

Haas, Hans

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 22.

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mit der Frage: „Wie stark müssen die Gründe sein, die
diese Männer [die Reformatoren] bewogen haben, eine
so reiche geistige Heimat zu verlassen!" und läßt so
den Grundton des Buchs zum ersten Male anklingen.
Das zweite Kapitel, eine historische Skizze des Ablaßstreites
und seiner Folgen, stellt sich auf den Standpunkt
der Zufälligkeit des Anstoßes und der ziemlichen Gleich-
giltigkeit der Person Luthers, um dann von diesem
Hintergrunde das Versagen des Papsttums in der von
Luther gestellten Gewissensfrage und die durch diese
Selbstentblößung hervorgerufene innere Abwendung des
Volks vom Papsttum um so greller abzuheben. Das
dritte Kapitel erläutert Jesu Wort an Petrus als Zu-
erteilung einer an den Augenblick der Entstehung der
Kirche gebundenen persönlichen Aufgabe; da die ihrem
Wesen nach nicht übertragbar ist, ist es die schlagendste
Widerlegung des Anspruchs des Papsttums, von Jesus
gestiftet zu sein. Nach diesen Vorbereitungen führen das
vierte und fünfte Kapitel an den Grundpunkt, an dem
die beiden Kirchen sich scheiden. Zwei Grundfragen
wohnen im menschlichen Herzen, die nach der Vergebung
der Schuld, und die nach Macht, Glück und
Reichtum. Jesus wählt zwischen ihnen. Er nimmt die
göttliche Vollmacht in Anspruch, die erste durch sein
Vergebungswort zu lösen, und weist die satanische Versuchung
, der Heiland des zweiten Bedürfnisses zu sein,
zurück. Auch kleine Zugeständnisse lehnt er ab. Die
erste Frage ist ihm so entscheidend, daß für die zweite
in uns kein Raum ist. Freilich wird sie eine Antwort
finden — am Ende der Tage, durch Gott. Das ist der
Sinn der Zukunftserwartung, daß wir allein aus der
Antwort auf die erste Frage leben sollen, und in der
erwartenden Spannung, die die Ungelöstheit der zweiten
Frage mit sich bringt, bleiben sollen. Diese „heroische"
Haltung Jesu ist aber von seiner Gemeinde nur bis ans
Ende der Märtyrerzeit festgehalten worden. Dann hat
Satan sich der Gestalt Jesu doch noch bemächtigt. Man
hat ihn umgedichtet zu einem, der auch die zweite
Frage beantwortet und in einer glanzvoll als herrschende
Gewalt auf Erden stehenden Kirche die Macht angetreten
hat. Der entscheidende Kunstgriff ist die Verkehrung
des Auferstehungsglaubens gewesen. Während
Ostern nur eine den auserwählten Zeugen gegebene
heimliche Erfahrung war, wird es nun zum großen
Schauereignis, mit dem Jesu Machtregiment beginnt und
die auf Kosten der eschatologischen Spannung sich als
sichtbares Reich Gottes verstehende Kirche ins Leben
tritt. Das katholische Christusverständnis ist die äußerste
Steigerung dieser entarteten Betrachtung, das evangelische
Christusverständnis ist das ursprüngliche. In dieser
Verschiedenheit wurzelt der Gegensatz der beiden
Konfessionen über den Weg zu Gott. Evangelisches
Christentum kann ihn nach seinem Christusverständnis
nur in einem Gewissenserlebnis finden. Die Gewissenserfahrung
aber als ein klarer geistiger Akt entsteht nur
am Worte und in der Einsamkeit der Selbstverantwortlichkeit
. Katholisches Christusverständnis wird den Weg
zu Gott in Machterlebnissen aller Art finden, unter denen
der Eindruck einer gebietenden Autorität und der mystische
Rausch die wichtigsten sind, die beide auch auf
Massensuggestion beruhen können. Das sechste bis
zehnte Kapitel bringen die Entfaltung der so gewonnenen
Grundeinsicht in den Gegensatz nach den am meisten
charakteristischen Momenten. Ein kurzer Bericht
läßt sich nicht gut geben. Es ist tatsächlich kein wirklich
wichtiger Punkt übergangen. Überall ergeben sich
die evangelischen und katholischen Thesen auf dem
Wege der Deduktion aus dem im vierten und fünften
Kapitel Gesagten. —

Die Stellungnahme ist nicht leicht. Eine Schwäche in
Heim's Art muß man halt in den Kauf nehmen: es fehlt
ihm die schlichte Hingabe des Auges an die geschichtliche
Beobachtung. Schon daß im vierten Kapitel die
pietistische These von der Zeit der ersten Liebe vor Konstantin
so ohne Vorbehalt erneuert wird, ist nicht erfreulich
. Geradezu schmerzen aber muß einen die
leichte Art, in der der Anfang der Reformat' n und
Luthers Bedeutung im zweiten Kapitel abgetan ist. Auch
sonst wird man dies und das zu kritisieren haben. Heim's
Neigung, jede Entscheidung „für" auf eine Nadelspitze in
das breite Feld vieler Gründe „gegen" zu stellen, macht
sich auch in diesem Buch gelegentlich störend bemerkbar
, und der bewußte Anschluß an das gerade heut an
der Tagesordnung befindliche ganz Moderne feiert gelegentlich
wohl einen ebenso unnötigen Triumph wie
Heim's Vorliebe für gewagte Bilder (unter diesen leider
auch der Vergleich des mit dem Versucher kämpfenden
Christus mit Herakles am Scheidewege). Schlimmer
ist, daß Heim das Publikum anscheinend einer nochmaligen
Durcharbeitung zu unterziehen nicht für nötig
gehalten; die begriffliche Schärfe und die Strenge des
Gedankengangs lassen da und dort zu wünschen übrig,
die Formulierung z. B. der Anschauung Luthers von
den zwei Ordnungen S. 110 ist mehr als flüchtig.

Aber all das sind ja Kleinigkeiten, die sich in der wahrscheinlich
schnell erforderlichen neuen Auflage leicht
verbessern lassen und von Heim, dem unermüdlichen
Neugestalter seiner Werke, auch verbessert werden werden
. Das Grundurteil wird sich daran zu halten haben,
daß hier in einem tiefen und großzügigen Entwürfe eine
Betrachtung des konfessionellen Gegensatzes vorliegt,
welche alle hergebrachten Gleise zum Vorteil der Sache
verläßt. Es ist da von Heim im Ganzen und im Einzelnen
manches Wichtige zu lernen, auch vom selbständig an
der Denkarbeit beteiligten Theologen. Dazu kommt die
männliche Herzhaftigkeit, mit der das religiöse Aburteil
unsrer Kirche über die Papstkirche ausgesprochen ist.
Es ist in Heim's Betrachtung das Wahrheitsmoinent in
Luthers schärfsten Urteilen über die Papstkirche ohne
Rest, und doch mit einer schlichten ernsten Sachlichkeit
angeeignet. So ist uns in dem Buche eine geistige
Waffe geschenkt, von der hoffentlich bei der dringenden
Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der Papstkirche
Gebrauch gemacht wird. Auch in der Hand mancher
Gebildeter kann das Buch nur Segen stiften. So müssen
wir, alles in allem, Heim herzlich danken, daß er unsrer
Theologie und Kirche dies eindrucksvolle Buch geschenkt
hat. Wir haben innerhalb der Gattung, t/er es
zugehört, vorläufig nichts, was ihm an die Seite gestellt
werden könnte, und nicht leichten Herzens hab ich mich
zur offenen Aussprache meiner Bedenken entschlossen.
Göttinnen. e. Hirsch.

Leeuw, G. van der: Einführung in die Phänomenologie der
Religion. München: F. Reinhardt [1925]. (161 S.) 8°.

Rm. 3.50; geb. 4.50.

Ich weiß eigentlich nicht recht, warum van der
Leeuw am Schlüsse seines Buches, einer Übersetzung
seiner 1924 zu Haarlem erschienenen In/eiding tot de
godsdienstgeschiedenis1, meint sich entschuldigen zu
müssen, daß in seinem Überblick dem religiösen Denken

', nicht eben viel Aufmerksamkeit geschenkt worden sei.

! Wer doch wird solches sich erwarten von einer Einführung
in die Phänomenologie der Religion? F. Heiler
, der die Arbeit des Groninger Religionshistorikers
als Band I einer seiner Serie „Aus der Welt christlicher
Frömmigkeit" zur Seite gestellten Sammlung „Christentum
und Fremdreligionen" herausgab, bemerkt in seinem
Vorwort, daß der Verf. das Wort Phänomenologie
nicht im Sinne der Philosophie von Husserl und Scheler
gebraucht, sondern im Sinn der vergleichenden Reli-
nionshistoriker, die darunter die systematische Darstellung
der religiösen Einzelphänomene verstehen. Darbietungen
dieser Art hatten wir bisher schon etliche.
Nenne ich sie, so weiß man, was in van der Leeuw's^
ihnen gegenüber übrigens selbständigem, Buche zu finden
ist. Das Schema für einschlägige Untersuchungen
die neuestens Joachim Wach als ihre eigentliche Do-
1) Eine Anzeige des Originals, die eine volle Inhaltsangabc bietet,
findet sich aus der Feder Carl Clemens in Z M R 1924 S. 192.