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Ausgabe:

1925 Nr. 21

Spalte:

499-500

Autor/Hrsg.:

Natorp, Paul

Titel/Untertitel:

Kant über Krieg und Frieden. Ein geschichtsphilosophischer Essay 1925

Rezensent:

Knittermeyer, Hinrich

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409

Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 21.

500

Folge, der Zerstörung der dogmatischen Philosophie.
Wichtiger noch sei die positive Ergänzung dieses negativen
Gedankens, die Lehre vom höchsten Gut und den
Postulaten der praktischen Vernunft, d. h. die Überzeugung
, daß auch Gewissen und Glaube der Philosophie
etwas zu sagen haben.

Sicherlich ist es zuviel behauptet, Kants Lehre
dahin zu deuten, daß sie den Grundsatz Luthers, Gott
und Glaube gehören zusammen, als eine durch unser
Erkenntnisvermögen geforderte Wahrheit erweise. Aber
daß sie berufen sei, den Grund zu einer neuen Form der
„christlichen Kultur" zu legen, werden wir alle anerkennen
.

Bremen. Bruno Jordan.

Natorp, Paul: Kant über Krieg und Frieden. Ein geschichts-
philosophischer Essay. Erlangen: Philosophische Akademie 1924.
(56 S.) gr. 8°. Rm. 1.50.

Auch diese kleine Schrift Natorps wird zum Zeugnis
des ihn ganz erfüllenden Problems der systematischen
Philosophie überhaupt. Wenn es hier heißt:
„Man ehrt ihn (d. i. Kant) höher, wenn man die Bahn,
die er zuerst eröffnet hat, nun auch über den von ihm
erreichten Punkt hinaus weiter verfolgt und bis zu Ende
geht, als wenn man genau bei der Schranke stehen
bleibt, über die er . . . schließlich nicht hinaus gekommen
ist" (9), so steht dahinter das selbsteigne Tun,
über dessen Bedeutung die aus dem Nachlaß herausgegebenen
bezw. noch zu erwartenden großen Werke
sich werden ausweisen müssen. Daher kann auch die
systematische Entscheidung, die hinter der Kantdeutung
steht, hier nur aufgezeigt, nicht erörtert werden. Der
Gegensatz von Krieg und Frieden greift weit über die
bloßen „Welthändel" (19) hinaus. Die „Naturgeschichte
und Theorie des Himmels" weist gerade im Chaos das
Gesetz auf, das an einer letzten „Konvergenz" des durch
die Gegensätze hindurch sich entfaltenden Lebens nicht
zweifeln läßt. Tiefer aber noch bezeugt die „Gesetzlichkeit
des Wollens" diese Gewißheit, weil sie nicht
nur das endlose Fortgehen des Naturverlaufs in dem
Sinn bindet, sondern die „wahre Unendlichkeit" (14)
des menschlichen Handelns. Erst in dieser die Horizontale
jener endlosen Entwicklung vertikal schneidenden Ebene
kann der eigentliche „Standort" (16) liegen, der die
„gewaltlose Gewalt über die Gewalt" und damit den
wahren Frieden sicherstellt.

Aber gerade in dieser „Starrheit des Gegenüber"
sieht Natorp nun das Unbefriedigende der Kantischen
Lösung insgesamt. So wie erkenntnistheoretisch der
Gegensatz zwischen dem Außen des Gegenstandes und
dem Innen der Erkenntnis und die zwischen beiden sich
vollziehende „kopernikanische" Wandlung den entscheidenden
Grund des Problems nicht trifft, so auch nicht
die Konzentration auf den Gegensatz der theoretischen
und praktischen Philosophie. Das was man jeweils als
den entscheidenden Gegensatz ansehen möchte, ist in
jedem Fall überboten durch die zugrundeliegende Einheit
, ohne deren durchwirkende Kraft der Gegensatz
beziehungslos auseinanderfallen müßte. In diesen Grund
der gewissesten Existentialität reicht die Kantische Ethik
aber nicht hinab. Sie wäre „Scholastik" (17), wollte
sie Gesetz des „gelobten Momentes" zu sein beanspruchen
. „In der Unmittelbarkeit des Schaffens, allein
in ihr, ist echteste Un-, vielmehr Überendlichkeit, damit
zugleich die echte Vollendung und echte Seligkeit
nie vollendeten Vollendens, S i c h vollendens, die
dem aus der Ewigkeit und für sie geborenen Menschen
von Rechts wegen zusteht" (19).

An derselben Schranke sieht sich nun auch die
Kantische Erörterung des politischen Friedensproblems
schließlich scheitern. Natorp beschränkt sich in dem
zweiten Teil der Betrachtung im wesentlichen darauf,
Kant zu zitieren. Dabei gelingt es ihm allerdings deutlich
zu machen, wie wenig man Kants Stellungnahme als
durch die Utopie bestimmt ansehen darf. Was Schelling
einmal in demselben Zusammenhang erwähnt (WW

2. Abt. I, 548), daß nämlich Kant „von den Nachkommenden
, Fichte und andern" „sich gar sehr unterscheidet
durch seinen großen praktischen Verstand und
die Redlichkeit der Erwägung", das bestätigen die angeführten
Zeugnisse in kaum erwartetem Maße. Kant
weiß, daß die Natur des Menschen „Zwietracht will"
(21), er erwartet daher nicht durch utopisches Vertrauen
auf die Macht der Erziehung oder der sittlichen
Gesinnung, sondern allein durch den „Zwang der bittersten
Not" (27) die schließliche Überwindung des Krieges
. Der „Handelsgeist" und die durch „die Natur der
Dinge" gebotene Ausdehnung des Völkerrechts lassen
Kant die allmähliche, wenn auch in weiter Ferne liegende
Realisierung des Friedenszustandes erhoffen. Also
ökonomische und rechtliche, nicht pädagogische und
sittliche Erwägungen geben den Ausschlag.

Aber selbst damit glaubt Natorp die Lage noch
für /.u günstig gedeutet. So wie Kant sich darin täuschte,
daß er von dem Übergang der rechtlichen Gewalt von
den Fürsten an das souveräne Volk eine Beförderung
des Rechtsprinzips im Verhalten der Völker untereinander
erwartete, so wird auch die Not keineswegs die
Menschen zur Klugheit bringen. Neben dem „verkleideten
Dauerkrieg" der kapitalistischen Wirtschaft (52)
wird die Technik mit ihrer ungemessenen Steigerung
des Könnens die fürchterlichsten „Reize" des Könnens
entfesseln und wirklich machen. „Wenn erst die Menschheit
die Möglichkeit in Händen halten wird, den Erdball
in die Luft zu sprengen — sie wird es tun" (53).
Alan wird nicht ohne Erschütterung lesen, wie uner-
! bittlich gerade Natorp am Ende seines so leidenschaft-
| lieh der Erziehung des Menschen hingegebenen Lebens
i den philosophischen „Chiliasmus" verabschiedet.

Das Einzige, was bleibt, ist die Hingabe an das
gegenwärtige Leben des Selbst, an die Liebe des
Nächsten, ist das Zuhausesein (55), in dem wir den
Frieden haben inmitten des Krieges drinnen und
draußen. Auch dieser Ausgang gemahnt an Sendlings
letzte Niederschriften, wie sie am Schluß des ersten
Bandes der Philosophie der Mythologie sich finden
(denn bis dahin reicht nur die letzte Bearbeitung), und
wo die Warnung an die Deutschen, an dem politischen
Leben sich zu zerfleischen und zu verkümmern, ausmündet
in die Verheißung einer „positiven" Gewißheit,
in der Gott nicht das Ende, sondern der Anfang ist.
Denn wenn Natorp das „Paradies" (55) inmitten dieses
brüderlichen Lebens gegenwärtig sieht, dann steht hinter
dieser Verheißung keine andere Gewißheit, als wie
' Schelling sie mit Namen nennt.

Bremen. Hinrich Knittcrmeycr.

Zeitschrift für systematische Theologie, in Verbindung mit
anderen hrsg. von I'rof. C. Carl Stange. 2. Jahrgang 1924,
1. u. 2. Vierteljahrsheft. üütersloh: C. lierteisinann. (384 S.) gr. 8°.

Von dieser Zeitschrift liegen dem Berichterstatter
zwei neue Vierteljahrshefte vor, deren Inhalt hier nicht
besprochen, aber wenigstens kurz „angezeigt" werden
möge.

Heft 1. enthält 6 Artikel. Ernst Lohmeyer.
(Breslau) setzt in einer Abhandlung über „Urchristliche
Mystik" ein mit genaueren Bestimmungen über den
Begriff der Mystik und mit Erwägungen darüber, unter
welchen Bedingungen „Mystik" überhaupt möglich sei,
um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß, trotz mancher
Anklänge an mystische Redeweise, auch im N. T„ die
Frage nach „urchristlicher Mystik" letztlich „kein ur-
christiiehes Problem" sei, weil die mystische Fragestellung
nicht oder nicht mehr „die Eigentümlichkeit
und Höhe des urchristlichen religiösen Bewußtseins erreicht
". — Hermann (Breslau) bietet „Prolegomena
zum Begriff der Offenbarung" dar, und bemüht sich um
i Auskunft darüber, was sich aus gewissen Ausführungen
| von Schleiermachers Philosophischer Ethik für das Ver-
! ständnis des Offenbarungsbegniffs gewinnen lasse. —
j Der Herausgeber selbst, Carl Stange handelt von
i der „Ethik der Bergpredigt" und weist darauf hin: deren