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Ausgabe:

1925

Spalte:

496-497

Autor/Hrsg.:

Pastor, Ludwig Freiherr von

Titel/Untertitel:

Die Fresken der Sixtinischen Kapelle und Raffaels Fresken in den Stanzen und den Loggien des Vatikans, beschr. u. erkl 1925

Rezensent:

Günther, Rudolf

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druck des ersten Lesens im Zusammenhange ist außerordentlich
stark: es wird ein Gesamtbild der Zeit entworfen
, wie es bisher kaum gesehen worden ist. Das
beruht darauf, daß die zeitgenössischen Quellen in
einer Weise ausgenützt werden, die wirklich alle
Lebensgebiete umfaßt, jedes für sich und alle in ihrem
inneren Zusammenhange und ihrer inneren Geschlossenheit
. Gerade diese strenge wissenschaftliche Fundierung,
die von allem dilettantischen Reden über die Dinge unendlich
weit entfernt ist, macht das Buch auch für den
weiteren Kreis so anziehend, freilich auch deshalb, weil
dem Verfasser eine ungewöhnlich starke Darstellungsgabe
zu Gebote steht.

Bei genauerem Eingehen offenbaren sich natürlich
auch die Schranken des Buches, die sich aber in vielen
Fällen als die notwendigen Schatten seiner Vorzüge erweisen
. Wir haben in dem Buche das vor uns, was man
heut im weitesten Sinne eine „Kulturgeschichte" nennt,
und zwar über das 14. und 15. Jahrhundert in den Niederlanden
und Burgund. Das bedeutet, daß jede chronologisch
-historische Behandlung der Ereignisse nicht
nur, sondern auch der Zustände fehlt. Der Zeitraum
wird im wesentlichen als eine Einheit aufgefaßt, ebenso
wie er nach rückwärts und vorwärts, von wenigen Einzelheiten
abgesehen, isoliert wird. Daß das für einzelne
Gebiete manche Verzeichnungen ergeben muß, ist klar
— man denke nur etwa an die starke Entwicklung, die
der Kirchbaustyl zwischen 1300 und 1500 durchgemacht
hat, oder an die Veränderung in der Einstellung
zum Wesen der Kirche und des Papsttums, die in der
Zeit vor sich gegangen ist und doch auch innere Veränderungen
der religiösen Haltung überall nach sich
gezogen hat. — Auch die fast ganz durchgeführte Beschränkung
auf das niederländisch-burgundische Gebiet
bedeutet für das Werk einen Verzicht, indem dadurch die
starken Verbindungsfäden, die das mittelalterliche Kulturleben
des gesamten Abendlandes zu einem Ganzen zusammenfassen
und es so erst in vollständiger Beleuchtung
erscheinen lassen, fortfallen müssen. Dafür bieten
auch gelegentliche Hinüberblicke nach Deutschland keinen
Ersatz.

Wichtiger noch für die methodische Beurteilung
und Bewertung des Buches erscheint eine andere Beobachtung
. Die einzelnen Kapitel des Buches bilden im
allgemeinen Einzelabschnitte, die ohne inneren Zusammenhang
nebeneinandergestellt sind. Nun kann man
wohl sagen, daß das kulturell-geschichtliche Bild eines
Zeitalters nicht im Rahmen eines systematischen Schemas
vorgeführt werden kann, wenn es nicht vergewaltigt
werden soll. Gerade die Buntheit des Bildes hat den
Wert der Anschaulichkeit und der Wirklichkeitstreue
für sich. Ebenso ist zu bemerken, daß der Verf. sich
selbst sehr wohl über innere Zusammenhänge und
gegenseitige Abhängigkeiten der einzelnen Lebensgebiete
klar ist, worüber er sich dann in gelegentlichen, sehr
feinsinnigen zusammenfassenden Absätzen ausspricht —
so z. B. über die Gesamtbedeutung des religiösen
Lebens, über die durchgehende Wirkung des ritterlichen
Lebensideals, über die Zusammenhänge zwischen bildender
und redender Kunst und das polare Verhältnis
zur Religion usw. Aber doch würde es, um das Gesamtbild
eindringlicher und die Einzelheiten schärfer herausbringen
zu können, wünschenswert sein, wenn die Anordnung
des Ganzen nach irgend welchen Richtlinien
vorgenommen wäre. Dann würde auch bei den einzelnen
Gebieten hervorgehoben werden können, wo die zeitlichen
und räumlichen Verbindungslinien über das bearbeitete
Gebiet hinaus ansetzen und auch wo Entwicklungslinien
innerhalb desselben verlaufen — auch ohne
daß dies weiter ausgeführt wurde, weil außerhalb des
Planes liegend.

So wird erkannt, daß der „Begriffsrealismus" —
unabhängig von den feinen und scharfsinnigen Diskussionen
der Theologen — „der ganzen mittelalterlichen
Kultur inhärent ist" (p. 356; deutsche Ausgabe

p. 277), und der Verf. selbst ist sich selbstverständlich
j über die Tragweite dieser Tatsache und ihre Bedeutung
für das Gesamtleben des Mittelalters klar. Indem er
aber von anderen Gesichtspunkten aus auf dasselbe Fun-
I dament stößt, von der Kunst aus, wie von dem reli-
I giösen wie vom praktischen Leben, wird die innere
; Einheitlichkeit, die das mittelalterliche Leben wie seine
i Kultur auf dem Grunde einer einheitlichen Anschauungs-
j und Erkenntnisweise zusammenfaßt, nicht so deutlich,
als wenn eine systematische Anordnung gegeben wäre.
Schließlich hat das Werk darin seine Schranke, daß
| der Verf. nur das Bild dessen zeichnet, was im 14. und
15. Jahrhundert in historischer Entfaltung und Aus-
i bildung, um nicht zu sagen Vollendung vor uns steht.

Dadurch fallen eine Fülle von Zügen, die in dem Zeit-
| alter als Wurzeln und Knospen für kommende Ent-
j faltungen stehen, von vornherein fort. Eine anders ange-
j legte und anders geartete Darstellung dürfte nicht an
i diesen vorübergehen.

Aber gerade an diesem Punkte zeigt sich besonders
i deutlich, wie es auch zu den anderen herausgestellten
i methodischen Problemen angemerkt werden muß, daß
■ diese vom Verf. bewußt und absichtlich festgestellte
Beschränkung diesem Werk seinen eigentümlichen
Charakter und damit einen hervorragenden Teil seines
! Wertes verleiht. Denn wenn der Verf. gegen den Schluß
I feststellt, daß das Verhältnis des aufblühenden Huinanis-
' mus zu dem absterbenden Geist des Mittelalters viel
weniger einfach ist, als wir uns das vorzustellen geneigt
sind (p. 561; deutsche Ausgabe p. 437), so deutet er
damit darauf hin, daß vor der Aufgabe, die Abfolge und
die inneren Beziehungen der einzelnen großen Geschichtsperioden
zu behandeln, die andere erneut auf
dem Grunde der das äußere und innere Gesamtleben
j schildernden Quellen unternommen und durchgeführt
j werden muß, nämlich die einzelnen sicher erkennbaren
Perioden in ihrer eigenen, für sich bestehenden Struktur
j darzustellen. Und hier hat der Verfasser in seinem Werk
! ein zweifellos hervorragendes Stück Arbeit geleistet,
auf dem weitergebaut werden kann und das auch gerade
für die weitere Arbeit an der Geschichte des Christentums
von außerordentlicher Bedeutung ist.

Malle a. S. Hermann Bauke.

Pastor, Ludwig; Freiherr v.: Die Fresken der Sixtinischen
Kapelle und Raffaels Fresken in den Stanzen und den
Loggien des Vatikans, beschr. u. erkl. Mit 5 Taf. Freiburg!
i. B.: Herder & Co. 1925. (VII, 169 S.) kl. 8°. geb. Rm. 4—.

Die kleine Schrift bezeichnet sich als Sonderabdruck
aus den Bänden II—V der „Geschichte der Päpste".
Die Abschnitte, die die Malereien der Frührenaissance-
Meister und Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle
und Raffaels, seiner Schüler und Mitarbeiter in den
Stanzen und Loggien des Vatikans behandeln, sind aus den
einschlagenden Kapiteln gelöst und geschickt zusammengefügt
. Der Verf. stützt sich auf kunsthistorische Gewährsmänner
, doch mit eigenem Urteil. Neben der
Beschreibung der Bilder wird mit besonderer Sorgfalt
| die theologische Erklärung gepflegt. Dies erfordert
hier der Gegenstand. Über die theologisch kirchlichen
Grundlagen der Erklärung herrscht heute weitgehende
Übereinstimmung; wie weit dagegen zeitgeschichtliche
Beziehungen in den Gemälden anerkannt werden müssen,
ist strittig und wird es wohl auch bleiben. Solche Beziehungen
sind bei einem Teil der Gemälde zweifellos
vorhanden; es fragt sich aber, ob die überzeugten Ausdeuter
von Einzelheiten, zu denen P. gehört, nicht vielmehr
ein Fremdes in das Kunstwerk eintragen.

Ein unverkennbarer Irrtum ist P. in der Erklärung von Michelangelos
Jonas widerfahren. Der Prophet soll in dem Augenblick dargestellt
sein, wo er vom Fisch ans Land gespien wird (S. 47). Man
vergegenwärtige sich: Michelangelos Propheten und Sibyllen sind
nicht in einer historischen Situation, sondern als Charakterbilder gedacht
, wie sollte in diese Reihe eine dramatische Szene eindringen?
Und die künstlerische Existenzform für diese Einsamen ist das abgeschiedene
Thronen, auch Jonas thront mit ihnen. Das Charakter-