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Ausgabe:

1925 Nr. 20

Spalte:

478-480

Autor/Hrsg.:

Schaeder, Erich

Titel/Untertitel:

Theozentrische Theologie. Eine Untersuchung zur dogmatischen Prinzipienlehre. 1., geschichtlicher Teil. 3., umgearb. u. verm. Aufl 1925

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 20.

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Unbestechlicher kritischer Sinn ist es, der auch die Ausführungen
des folgenden Kapitels beherrscht, das die wissenschaftliche Objektivität
in der Theologie untersucht im Zusammenhang taut medizinischen
Problemen. Das Ziel ist, Oott zu entdecken in der Sphäre
der objektiven Wirklichkeit. Bei Erkrankungen gibt es drei Faktoren
der Heilung: physische, seelische und geistige Mittel, und die Frage ist,
ob sich ein Beweis erbringen läßt für die empirische Wirklichkeit des
„Geistes" und für seine Wirksamkeit neben den natürlichen Zusammenhängen
, zu denen auch die seelischen Heilungen noch zu rechnen sind.
Der Geist ist das Prinzip der Harmonie, der Spender von Leben und
Gesundheit; er erzeugt eine neue seelische Atmosphäre, in der die
Krankheit nicht leben kann. Die Heilung von geistiger und moralischer
Knechtschaft, die Erfahrung der Erlösung, kommt nicht zustande durch
die gebräuchliche Religion, sei sie auch noch so ernst gemeint. Und
auch die Versöhnung, als die Gott zugewandte Seite der Erlösung,
steht offenbar in keiner notwendigen Verbindung mit der Kreuzigung
oder überhaupt mit der historischen Persönlichkeit Jesu. Sie hat nichts
zu tun mit juristischen Forderungen. Jesu Kreuzigung wird für die
Gläubigen zu einer Umwandlung des psychischen Übels in einen
physischen Ersatz, analog einer umgewandelten Neurose. Das Problem
der Erlösung von uns selbst besteht vielmehr darin, eine Änderung
unsrer Wünsche und Bestrebungen herbeizuführen; denn wir sind
immer versucht, das zu tun, was wir im Geheimen wünschen; ein
Selbst taucht auf, das sonst normalerweise untergetaucht war. Liebe
zu Gott und zu Jesus ist Liebe zum Guten schlechthin — „mein
wahres Selbst ist Gott in mir" — und verdrängt die Neigung zum
Bösen. Viele sind gut, ohne solche Liehe zu benötigen. Durch die
Wirkungen, die er ausübt, erweist sich der Geist als eine empirisch
reale Macht.

Während die medizinische Theologie nach den Wirkungen fragt
und aufgebaut ist auf Kausalität, sucht die mystische Theologie
nach geistiger Wahrnehmung und intuitiver Erkenntnis. Sic nimmt
die Erfahrungen von Gott als Offenharungen, solange kein Beweis dafür
vorliegt, daß sie illusorisch sind. Jede innere Schauung Gottes,
sei es als verkörpertes Leben oder als das, was auf der andern Seite
der Natur ist, als das was man absolut denken muß, wenn man überhaupt
zusammenhängend denkt, als Wertursache, als unser inneres
Selbst, als metaphysische Realität, als Reich der unbegrenzten Möglichkeiten
: jede solche innere Schauung Gottes ist einseitig, wie ein
Strahl des gebrochenen Lichtes; der Geist selbst wird einst eine Synthese
unsrer Anschauungen von ihm schaffen. Das Hauptmerkmal
der Gottesidee ist, daß sie das Prinzip des höhern, des geistigen
Lebens ist. Von hier aus fällt ein neues Licht auf die religiösen Begriffe
der Vorsehung, der Gnade und des Gerichts. Ersterc besteht
in einer Reihe von Antrieben, welche einem transzendenten Grund
entstammen, sich auf die Lebcnsbestimmungen des Einzelnen beziehen
und ausgestattet sind mit den Kräften der Fernwirkung und Vor-
schauung. Erfahrene „Gnade" ist eine psychische Funktion in der
Seele dessen, der eine Reproduktion der transzendenten Gottheit in
sich trägt; die Grundbedingung für die Erfahrung von Gnade ist ein
göttliches Zentrum in der Seele. Ein „Gericht" kennt die ewige
Gnade nicht; sie will siebenzigmal siebenmal vergeben.

Die Tiefe und Lebenskraft einer Religion liegt in ihrer Fähigkeit
, eine Antwort zu geben auf die Fragen eines jeden Zeitalters.
Wenn das Christentum nicht nur in schönen Worten und leeren Gefühlen
bestehen soll, so muß es unvermeidlicher Weise sowohl die
soziale Praxis wie die Politik beeinflussen, ganz abgesehen von den
selbstverständlichen Einwirkungen auf die persönliche Moralität.
Sofern die Kirche den Anspruch erhebt, dasjenige Organ zu sein,
durch welches die Weisheit, Liebe und Macht Gottes auf Erden
wirkt, ist es ihre Sache, Wege zu zeigen in den aufsteigenden Problemen
. Hier hat der wirkliche Glaube seine Macht zu erweisen,
mehr als im Glauben an alle Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses
, wie das konventionelle Christentum es übt. Auch unsre
Sexualethik muß von hier aus erneuert werden. Unsre traditionelle
Geschlechtsmoral ist gesetzlich, kann aber kaum als christlich bezeichnet
werden. Das höhere geistige Element im Sexualleben ist die
Liebe; wo sie vorhanden ist, innerhalb oder außerhalb der Ehe, wo die
inneren Bedingungen einer geistigen Gemeinschaft erfüllt sind, da ist
eine Vereinigung vor dem Gewissen gerechtfertigt und geheiligt, ob
sie gesetzlich gültig ist oder nicht, mit oder ohne formale Zcrcmonicen.
Es ist die alte deutsche Auffassung der Ehe, der hier vom Boden des
Christentums aus ein zielbewußter Anwalt ersteht. Wo die christliche
Ethik auf der Basis antigesetzlicher Freiheit ihre konkrete Anwendung
auf das wirkliche Leben findet, da muß sie die Welt revolutionieren.

Das einzig Wirkliche ist Gott, und die Gottesidee allein schenkt
uns eine befriedigende Weltanschauung. Die metaphysische Theologie
, von der das letzte Kapitel des Buches handelt, sucht nach
einer objektiven Synthese der metaphysischen religiösen Vorstellungen.
Gott gilt als die selbstbewußte Persönlichkeit des Universums, die
Existenz einer Weltseele erklärt psychische Phänomene wie Telepathie,
Telästhesic usw. Gottes Einwirkung auf die Welt erfolgt gewöhnlich
nur durch solche menschliche Persönlichkeiten, in denen er gegenwärtig
ist. Eine Gotteserfahrung ist möglich, wenn der Gott des Individuums
im wesentlichen identisch ist mit dem Gott des Universums.
Jedoch ist kein Beweis möglich, daß der so erfahrene göttliche Geist
die absolute Göttlichkeit und transzendente Gottheit ist. Alle Gotteserkenntnis
beruht auf Oberzeugung. Ein Leben aus Gott heraus ist
ein Mittel, um Gott zu erkennen. Die Sätze des kirchlichen Glaubensbekenntnisses
können ein Gefäß sein für die Erkenntnis einer höheren
Wahrheit, was aber keineswegs identisch ist mit ihrer kritiklosen
Annahme.

Milburns „Theologie der Wirklichkeit" ist ein Buch,
das nicht übersehen und ignoriert werden kann, weder
in England noch bei uns. Auf die kirchlichen Kreise
drüben wird es wirken wie ein Donnerschlag; man ist
dort die Sprache eines solch radikalen Wahrheitsernstes
nicht gewöhnt. Sein Ausspruch: „Die Heuchelei ist die
Sünde unsrer Nation" [S. 192] ist nur ein Sympton für
die rücksichtslose Unbestechlichkeit des Urteils, die sich
auf jeder Seite von neuem findet. Aber auch uns kann
es mancherlei sagen. Denn wenn auch unsre wissenschaftliche
Theologie der englischen gegenüber einen
Vorsprung von zwanzig bis dreißig Jahren hat, so steckt
doch der Gemeindeglaube bei uns beinahe noch in denselben
Kinderschuhen wie jenseits des Kanals. Es fehlt
drüben wie hier an der klaren Erkenntnis davon, daß
jede Frömmigkeit nichtig ist, der es gebricht an objektiver
Wahrheit und an subjektiver Wahrhaftigkeit. Man
möchte aufs lebhafteste wünschen, daß ein Verlag sich
fände, der eine Übersetzung des Werkes und eine Herausgabe
in deutscher Sprache ermöglichte, und daß vor
allem dann ein Leserkreis sich fände, der fähig wäre,
etwas nachzuempfinden von dem heiligen Ernst, der
dieses Buch durchzieht, das geschrieben ist heraus aus
dem Ruf eines wahrhaft christlichen Gewissens.

Dortmund. H. Goctz.

Schaeder, Prof. D. Erich; Theozentrische Theologie. Eine
Untersuchung z. dogm. Prinzipicnlchre. L, geschieht!. Teil. 3., iim-

I gvarb. u. verm. Aufl. Leipzig: A. Deichert 1025. (VII, 232 S.)
(Jri 8". Rm. 7.50; geb. 10—

Es erscheint hier in dritter Auflage der erste, geschichtliche
Teil eines Werkes, das seiner Zeit ein starkes
Aufsehen erregt hat, aber auch auf Widerspruch
von den verschiedensten Seiten her, ja, stellenweise auf
ironischen Protest gestoßen ist, zumal es den Eindruck

j erweckte, als ob es unter allen theologischen Schulen
der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit ohne
Ausnahme strenge Musterung halten und ihnen das Gericht
sprechen wolle (vergl. die seinerzeit von Lobstein
gegebene Besprechung in dieser Zeitschrift). Wenn es
nun aber anders wahr ist, daß der Erfolg ein brauch-

i barer Maßstab für den Wert einer Schrift sein kann, so
dürfte das Werk heute zum mindesten den Anspruch
auf achtungsvollste Aufmerksamkeit mit Recht erheben.
Denn unter welchen Einflüssen es auch immer entstanden
sein möge — darüber ist seinerzeit vieles und
vielerlei gesagt worden — es hat sehr stark nachgewirkt
bis in die jüngste Gegenwart: das weiß jeder einigermaßen
Kundige. Dazu kommt, daß gerade der vorliegende
Band manche Korrektur oder wesentliche Verbesserung
erfahren hat, namentlich in dem wichtigen und viel angefochtenen
Abschnitt über Schleiermacher und in den
Abschnitten über Dilthey und Heim. Ganz neu aufgenommen
ist eine Auseinandersetzung mit K. Barth.
Dennoch kann ich bei aller Anerkennung gewisse Bedenken
nicht unterdrücken.

Der Gesamtinhalt des vorliegenden Bandes läßt
sich als ein historisch-kritischer Bericht kennzeichnen,
mittels dessen die Forderung einer wirklich „theozen-
trischen Theologie" für die Zukunft begründet werden
soll. Es werden als mehr oder weniger „anthropozentrisch
infiziert" verschiedene Theologen besprochen: vor
allem Schlciermacher, dann aber auch die Erlanger
Theologie (Hofmann und Frank), Seeberg und Grütz-
macher, der Biblizismus (Cremer und Kaehler), Ihmels
Ritsehl, Herrmann, Jul. Kaftan, Häring, Th. Kaftan, die
„religionswissenschaftliche Theologie" (Troeltsch) 'Dilthey
, Heim und schließlich K. Barth. All den Genannten