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Ausgabe:

1925 Nr. 20

Spalte:

476-478

Autor/Hrsg.:

MIlburn, Gordon

Titel/Untertitel:

The Theology of the Real 1925

Rezensent:

Goetz, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1925 Nr. 20.

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fragt, ob unsere Erkenntnis, ob die Ausbildung der Wissensehaft rein
naturalistisch, ohne Teleologie erklärt werden könne, ob also auch der
Gewinn dei Einsicht, daß 2X2=4 ist, so erklärt werden könne, ob
denn wirklich glaubhaft sei, daß man erst gemeint habe, 2X2 sei 5
oder 50 oder 500 und erst aus dieser Fülle von verkehrten Meinungen
sich schließlich die richtige herausgebildet habe. Hier handelt
es sieh doch nicht so sehr um eine in der Tat unermeßliche und des-
haih verwirrende Fülle solcher Einzelheiten, sondern mehr um die
Gewinnung eines richtigen Prinzips, aus dem dann die Einzelheiten
ohne Weiteres folgen. Treffend ist dagegen wiederum der Hinweis
darauf, daß der Evolutionismus erkläre, wie unsere sittlichen Anschauungen
aufgekommen seien, ohne daß sie doch deshalb wahr sein
müßten. Nun gelten sie uns aber als wahr; insofern erklärt der Evo-
lutionismus einerseits zu wenig (oder, wenn man auch das Wahrheitsgefühl
hier evolutionistisch erklären will und kann, so kann man
andererseits wiederum sagen, der Evolutionismus erkläre zu viel).

Daß der höhere religiöse Glaube, daß christlicher
Gottesglaube irgendwie Optimismus ist, wenn auch sittlicher
, nicht eudämonistischer Optimismus, und transzendentaler
Optimismus, das ist aus diesem Buche in
anziehender Weise zu sehen. Gelegentlich wird es allerdings
, obwohl alle Formen des teleologischen Gottesbeweises
an sich die Tendenz haben, den Gottesglauben
dem Wissen anzunähern, doch deutlich (und gelegentlich
sagt es Sh. selbst), daß seine teleologisch-optimistische
Weltdeutung Glaube ist, ein zwar nicht bewiesener, aber
wohl begründeter Glaube, der auch Kräfte in sich hat,
in ihm noch vorhandene Spannungen zu überwinden.
Solche Spannungen sind da! Der Glaube an den Geist
macht uns fröhlich, der Glaube an ewige Ordnung aber,
die auf das Einzelwesen keine Rücksicht nehme, wird
uns oft resigniert stimmen. Daß dieses optimistische
Buch wohl während des Kriegs geschrieben wurde und
daß doch, obwohl es natürlich auf das Problem der Theo-
clizee eingeht, kaum ein Wort von diesem Weltgeschehen
darin steht, das ist bezeichnend dafür, wie anders als
die unsere die Lage war, in der die Engländer den Krieg
durchmachten. Stärker gilt überdies das Interesse des
Buchs doch der Ordnung in der Natur, und das Grundproblem
, wie Ordnung und Geist zusammenhängen,
tritt an einigen Stellen klar hervor: kann es geistlose,
unvernünftige Ordnung geben? Ist nicht aller Zufall
irgendwie unvernünftig oder untervernünftig, alle Ordnung
, die wirklich Ordnung ist, irgendwie vernünftig?
Diesem Zusammenhang von Geist und Ordnung ist auf
der andern Seite die Tatsache verwandt, daß Kampf,
Kampf ums Dasein nicht einfach Zufall bedeutet.

Das Buch ist, aufs Ganze gesehen, zu reich, als
daß hier auf viele interessante Einzelfragen eingegangen
werden könnte, z. B. darauf, daß Sh. (an Beethovens
Klaviersonate op. 27, 1) nachzuweisen sucht, wie alle
Werke höherer Kunst eine starke Regelmäßigkeit in
sich haben. Bisweilen führt ihn seine Neigung zu einer
alles erklärenden und auch das Böse verklärenden Teleologie
weiter, als mit dem sittlichen Charakter des
christlichen Glaubens vereinbar ist; nie wird ein sittlicher
Glaube die ganze Welt einheitlich zu deuten vermögen
, und immer wird einheitliche Deutung der ganzen
Welt, Monismus irgendwie unserem sittlichen Empfinden
widerstreiten. An anderen Stellen aber herrscht
ethisches Interesse unverkennbar über Sh.'s Gedanken.
So gewiß einige moralische Regeln von der Natur gegeben
zu sein scheinen, es erscheint andererseits der
Glaube an die Regelmäßigkeit der Natur, an die Festigkeit
ihrer Ordnungen bei Sh. fast als ein sittlicher
Glaube. Der letzte Grund dafür, daß wir einige heidnische
Mythen verwerfen, sei nicht der, daß, was dort
berichtet wird, nach unserer regelmäßigen Erfahrung
nicht geschieht, sondern daß wir solches Geschehen für
unwürdig halten müßten. Dem entsprechend macht Sh.
kräftig Front gegen selbstsüchtige Verbildung des
Gottesglaubens, gegen die Art Religion, die „den Dienst
Gottes herabwürdigt zu einem schlauen Versuch, den
Gerichten Gottes zu entgehen", und nicht selten erhebt
sich seine nüchterne praktische Vernunft zu heroischem
Ernst, so in dem Satze, es sei wichtiger, zu wissen,
was gut ist, als zu wissen, ob das Gute schließlich

siegen wird, oder in dem Schlußabschnitt über die
Möglichkeit einer durch kosmische Katastrophen bewirkten
Zerstörung unserer Erde; hier werden zuletzt
das Vertrauen des Naturforschers, daß trotz solcher
Katastrophen Gesetze, Ordnung und also Vernunft in
der äußeren Welt walten, und das Vertrauen, das der
wahrhaft Fromme bei solcher Katastrophe doch zu
seinem Gott behalten würde, als verwandt zusammengestellt
.

Über manchen naturphilosophischen Gedankengang
des Buchs zu urteilen bin ich nicht Fachmann, und
große neue Ideen zu bieten beansprucht es selbst nicht,
aber es ist in seinem Hauptteil ein verständig und an-
■ regend geschriebenes Stück jener rationalen Theologie,
die lange Zeit bei uns mißachtet wurde, der wir aber,
bei aller Erkenntnis ihrer Unsicherheiten, doch mit mehr
Verständnis für ihre Motive gegenüberzustehen vermögen
, als es etwa Albrecht Ritsehl hatte.

Kiel. H. Muler t.

Milburn, R. Gordon : The Theology of the Real. London:
Williams & Norgate 1925. (XIV, 264 S.) 8°. geb. sh. 10/6.

Mit steigendem Interesse habe ich dieses Buch gelesen
, das jedenfalls für England eine Tat bedeutet und
in den wissenschaftlich eingestellten Kreisen Aufsehen
erregen wird. Trotz seiner hohen Sachlichkeit ist es mit
leidenschaftlicher Kraft geschrieben; es sucht die wirkliche
Wahrheit, welches sie auch sein möge. Darum ist
es auch mit radikalem Wahrheitsernst geschrieben, mit
unbefangenem Weitblick und unparteilicher Sachlichkeit.
Die freie Sprache überrascht den, der weiß, in welchen
Bahnen bisher die Theologie Englands sich vorzugsweise
bewegt hat. Aber eben deshalb ist es auch eine
besondere Freude, einem so ernst zu nehmenden Buch
wie dem vorliegenden zu begegnen, das mit unnachsicht-
licher Offenheit den Kernpunkt aller Theologie, die
Gottesfrage, behandelt, ihren Wurzeln nachgräbt und
ihre Auswirkungen verfolgt.

Der Verfasser, der sich an mehreren Stellen seines
I Buches unter die Geistlichen rechnet, hat schon früher
ethische Vorlesungen gehalten [S. 128), unter anderm
auch auf dem Kongreß für moralische Erziehung 1902
im Haag [S. 118 Anm.], und dürfte bereits durch seine
bisherigen literarischen Veröffentlichungen in England
einen Namen haben. Genannt sei nur „England und
Indien" 1918 und „Der religiöse Mystizismus der Upa-
nishaden", sanskrit und englisch 1920 und 1924. Das
vorliegende Buch fügt seinen bisherigen Schriften einen
weiteren wertvollen Beitrag hinzu.

Es ist das Problem der Objektivität in der Theologie, das sich
als roter Faden hindurchzieht durch die fünf Kapitel des Buches, die
nacheinander handeln von Mythologischer Theologie, Medizinischer
Theologie, Mystischer Theologie, Moraltheologie und Metaphysischer
Theologie. An die Adresse Englands dürfte sich der Satz richten, daß
wir auf dem Gebiet der Religion nicht die Ersetzung des Glaubens
durch Wissensehaft brauchen, sondern die Ersetzung von unwissenschaftlichen
Methoden in der Theologie durch wissenschaftliche.
Eine klare Scheidung zwischen Religion und Theologie ist erforderlich
; gelingt es letzterer nicht, mit den Methoden der Wissenschaft
zu beweisen, was die Religion glaubt, so muß daraus geschlossen
werden, daß der religiöse Glaube irrational ist. „Es ist bezeichnend
für den heutigen Stand der orthodoxen anglikanischen Theologie, daß
sie heimlich oder unbewußt anerkennt, daß es so etwas wie eine
göttlich vermittelte Belehrung nicht gibt, wie man sie etwa früher in
der für unfehlbar gehaltenen Bibel, der Kirche und den Glaubensbekenntnissen
zu finden glaubte". Für englische Verhältnisse ist es
ein sehr mutiges Wort, wenn Kirchlichkeit bezeichnet wird als Gebundenheit
an Institutionen, Dogmen usw., die etwas ganz anderes ist
als Religion und viele nicht-religiöse Bestandteile enthält. „Das
Epos der Weltsehöpfung und Welterlösung ist völlig legendenhaft,
auch Jungfrauengeburt, leibliche Auferstehung Jesu, Wiederkunft,
selbst der schöne und herzbewegende Beweis der Liebe Gottes in
Phil. 2, daß er seinen Sohn „gab" oder „hingab"; hier liegt das
Problem der gegenwärtigen Kirche"! Solche schweren Worte
mahnen uns an eine deutsche Veröffentlichung, an die erschütternde
Schwere der Vorstellungen, die Baumgarten in seinem
jüngsten Buch erhebt: „Die Gefährdung der Wahrhaftigkeit durch die
Kirche". Milburn schließt sein erstes Kapitel mit der Feststellung:
Die populäre Gottesidee ist weithin mythologisch.