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Ausgabe:

1925

Spalte:

441-443

Autor/Hrsg.:

Goudenough, Erwin R.

Titel/Untertitel:

The Pseudo-Justinian „Oratio ad Graecos“ 1925

Rezensent:

Harnack, Adolf

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sondern auch die ausländischen Werke (Berger, Taylor)
auf dem Gebiete der Schriftgeschichte überholt hat. Es
ist für jeden Archäologen und Paläographen, aber auch
für den Linguisten und Philologen ein unentbehrliches
Hilfsmittel und wird es auf lange Zeit bleiben, zumal
wenn die zu erhoffenden neuen Auflagen dem Verf. die
Berücksichtigung von Neuentdeckungen und somit weitere
Vervollkommnung ermöglichen.

Göttingen. _R- Fick-

Goudenough, Erwin R.: The Pseudo-Justinian „Oratio ad
Graecos". (The Harvard Theological Review, Vol. XVIII Nr. 2,
April 1925, p. 186—20(1).

Der Verfasser, der sich durch eine Untersuchung
der Theologie Justins („Theology of Justin Martyr",
Jena 1923; vgl. in dieser Zeitschrift 1924 Nr. 2 die
Anzeige von Windisch) als guten Kenner Justins und
Philos erwiesen hat, sucht hier zu zeigen, daß die pscu-
dojustinische „Oratio ad Graecos" (vgl. meine Abhandlung
über sie in den Sitzungsberichten der Berliner
Akademie, 1896, p. 634 ff. und „Altchristi. Lit. Gesch."
II. Bd., 1. Teil, 1897, S. 513 ff. 711 f.) eine jüdischhellenistische
Schrift aus dem Anfang unserer Ära (oder
noch früher) sei, und daß Paulus sie im Galaterbrief
benützt habe, da eine markante literarische Verwandtschaft
zwischen beiden Schriften besteht.

Diese Hypothese wird hier m. W. zum ersten Mal
aufgestellt. Wenn der Verf. Recht hat, hat er uns mit
einer wichtigen Erkenntnis beschenkt; denn es wäre der
erste Fall, daß wir eine bestimmte jüdisch-hellenistische
Quelle für Paulus mit Sicherheit nachweisen könnten.

Die Voraussetzungen des Problems — für welches
die syrisch erhaltene Bearbeitung der Schrift nicht in
Betracht kommt — sind einfache: Von den 5 Kapiteln
der kurzen, energischen „Oratio" können die ersten 4,
welche Angriffe auf die heidnische Mythologie enthalten
, von einem idealistischen griechischen Philosophen
, einem hellenistischen Juden oder einem Christen
geschrieben sein. Alles kommt daher auf das 5. Kapitel
an, in welchem der Verfasser seine heidnischen
Leser, die er bekehren will, zum Anschluß an den
„Logos" aufruft und in edlen Worten darstellt, was der
Logos ist und vermag. Hier setzt G o u d e n o u g h ' s
sorgfältige Untersuchung ein; ihr Ergebnis ist, daß die
hier vorliegende Anschauung vom Logos sich genau
mit der Philos deckt; da nun aber der Verfasser weder
von der Inkarnation des Logos noch von Christus spricht
»nd überhaupt keinen spezifisch christlichen Gedanken
zum Ausdruck bringt, so müsse er ein Jude sein; da endlich
zwei Stellen in der „Oratio" den Versen Galat. 4,12
und 5, 20. 21 entsprechen, so müsse Paulus sie gelesen
haben: „If the ,Oratio' is a Christian argument
based upon Galatians, the author for some reason has
carefully rejected all mention of Christ to return to
a non-christian Logosdoctrine. He has introdticed speci-
fically hellenistic Jewish imagery to describe the Logos
in a purely Philonic fashion. He has taken a part of
Paul's list of the works of the flesh, but omitted Paul's
beautiful list of the fruits of the Spirit, though this
would have fitted strikingly with his argument."

Die Logoslehre der „Oratio" deckt sich in der Tat
mit der Philos — aber vollkommen? Hätte ein philosophischer
Jude rühmend geschrieben, daß die Logos-
Verkündigung OV (pUoa6(fOUS YMZaOY.tcÜLEl, («//.« ICOIÜ

rovg irvrjxovg ctiravärovg)? Die Unmöglichkeit will
ich nicht behaupten, aber dieser Gedanke ist uns von
den christlichen Apologeten her geläufig. Der Verfasser
stellt aber außerdem noch Philosophen und Rhe-
toren einfach zusammen (ov (pdooorpovg Y.axaoY.tvuQeL
oiöt QrjTOQag). Haben philosophische Juden so abschätzig
, wie es bei den Christen geläufig war, über die
Philosophie geurteilt? Möglich — mehr kann man nicht
sagen!

Aber die Oratio bringt nichts spezifisch Christliches,
nichts von Inkarnation, nicht den Namen Jesu Christi?

Nun, verhielte es sich so, wie Goudenough es darstellt
, daß die „Oratio", wenn sie von zwei Stellen im
Galaterbrief abhängig sei, auf ihm „basiere", „sorgfältig
jede Erwähnung Christi beseitigt habe" und zu einer
nicht-christlichen Logoslehre „zurückgekehrt" sei, so
wird allerdings die Haltung eines solchen Christen unvorstellbar
. Diese Darstellung ist jedoch willkürlich und
tendenziös. Daß ein hellenistisch durchtränktet- christlicher
Theologe sich in einer apologetischen Rede von
100 Zeilen auf den „Logos asarkos" beschränkt hat,
dabei an zwei Stellen verratend, daß er Paulus gelesen,
hat, wenn man auf Athenagoras oder auch auf Minuchis
Felix blickt, nichts Auffallendes.

Der Tatbestand ist also folgender: Sieht man von
den Beziehungen zum Galaterbrief ab, so kann die
„Rede" sowohl jüdisch-hellenistisch als auch christlich
sein. Da aber die Verachtung der Philosophen mehr
für christlichen Ursprung spricht und wir die „Rede"
aus christlicher Überlieferung besitzen, empfiehlt es sich,
bei dem christlichen Ursprung stehen zu bleiben.

Die Verwandtschaft aber zwischen der „Rede" und
dem Galaterbrief bleibt m. E. in jedem Falle paradox,
wem man auch die Priorität zubilligen mag. Nur steht
es auch hier so, daß die Paradoxie um einen Grad erträglicher
ist, wenn man Paulus für das Original erklärt.
Der Leser mag selber urteilen: In Gal. 4, 11 hatte
Paulus in einer aus dem Herzen strömenden und um die
Seelen werbenden Rede gesagt: „Ich bin besorgt um
euch, daß ich umsonst bei euch gearbeitet habe", und
fährt dann fort (V. 12): yivtoüe wg iyw, ort Y.ayw
wg Vfislg, udehpot, dtoiiai vitwv. Nach der wahrscheinlichsten
Deutung will er sagen: „Werdet, wie ich
(nämlich gesetzesfrei), weil auch ich wie ihr geworden
bin (als ich mich vom Gesetz loslöste)" — ein gemütvoller
Appell an die unlösbare Beziehung, die zwischen
dem Apostel und seinen Kindern besteht. In der Oratio
heißt es, unvermittelt nach einer Ausführung über
die Kraft des Logos aus Sterblichen Götter zu machen
(übrigens, war im philosophischen Judentum diese Anschauung
z. Z. Philos so geläufig wie 200 Jahre später
bei christlichen Theologen?): EX&tre, icaidevltrpe, yi-
veo!>e wg fyoi, 'ort Y.ayw rjfttpy wg ifutg Auch hier bietet die
Annahme eines Zitats gewiß eine psychologische Schwierigkeit
, aber sie ist doch etwas erträglicher als bei Paulus
; denn dieser bringt die Worte innerhalb einer tieferregten
persönlichen Rede, jener hebt mit ihnen etwas
Neues an (und bricht sofort ab). Dazu: das riirpv in
der Oratio ist eine Erleichterung gegenüber dem wg iftüg
ohne Verbum.

Die zweite Stelle lautet:
Paulus (Gal. 5, 20f.) Oratio c. 5

. . . i'yitQai SqSIS ($2*1 9vfioi ■, * iniltvuitti; t{ if xgy dcivov
i(>i»ii(ci [folgen noch 6 Subst.] xui tpvtiat, S^d-pai i'peiz ZifAoz e'pj-
ta tlfioeu tovtoiz. • (Eilai &vu<>i xcti rit auom ruizoiz.

Aus dem Kontext läßt sich hier nichts über die
Priorität entscheiden. Aber sollte hier nicht eine gemeinsame
Quelle, ein Lasterkatalog, vorliegen? s. Lietz-
mann z. d. St. Ich halte das für möglich; aber da an
der ersten Stelle eine analoge Annahme sehr schwierig
ist und es sich hier und dort um denselben Brief handelt
, wird man in beiden Fällen eine direkte Verwandtschaft
doch annehmen müssen.

Nach dem hier Ausgeführten bleibt die Hypothese
Goudenough's eine bloße Möglichkeit. Die Annahme
, daß die „Oratio" aus christlicher Feder stammt,
ist m. E. erheblich wahrscheinlicher. Ist aber der Verfasser
der „Oratio" ein Christ, so erhalten wir hier
wieder einmal eine noch immer nötige Warnung, nicht
aus Bruchstücken oder Gelegenheitsschriften „Lehrbe-
griffe" zu konstruieren. Ein christlicher Schriftsteller
den man nach den 4 ersten Kapiteln seiner Schrift für
einen Juden oder Heiden, nach der ganzen Schrift zur
! Not für einen Juden halten kann, verrät durch ein paar
I eingestreute Worte, daß er mit den paulinischen Briefen